Japans Polizei: Der Herr Herumgeher

About: Kobans, little police stations in Japanese neighbourhoods
Pri: Koban – policejetoj en Japanujo
Sponsor of my trip to Japan,
Sponsoro de mia vojago al Japanujo: Ministry of Foreign Affairs of Japan
Published, Aperis: Neue Zürcher Zeitung, 13.09.2001


Der Herr Herumgeher geht um


Oft bürgernah, meistens freundlich, immer neugierig: Japans Koban-Polizei

Rotlichtviertel gibt es auch in Japan. Wer sich jedoch nachts von roten Lampen den Weg zu Damenbekanntschaften weisen lassen will, könnte enttäuscht werden. Rotlichter hängen auch an den Eingängen der Kobans, der vielen kleinen Polizeistationen. Damit soll nicht gesagt werden, dass die Polizisten nicht ebenfalls Kontakte suchen würden: Wenn sie an der Wohnungstür klingeln, muss gar nichts Schlimmes passiert sein; es kann ein „Routine-Hausbesuch“ sein. Mindestens einmal pro Jahr befragen Koban-Beamte die Bevölkerung der Umgebung nach dem allgemeinen Wohlbefinden, aber auch ob sich die Nachbarn „seltsam, zum Beispiel übertrieben geheimnistuerisch“ verhalten. „Auffällige Personen“ werden öfter besucht.

Was in Deutschland Befremden verursachen würde, ganz zu schweigen von der Empörung bei Datenschützern, ist in Japan normaler Alltag. Der nächste Koban – Übersetzungsvorschläge sind „Polizeibox“ oder „Kontaktbereichspolizeihäuschen“ – ist nie weit. Bei Bahnhöfen, in Fußgängerzonen und an wichtigen Straßenkreuzungen stehen in ganz Japan 6500 dieser mit Kochnische und Schlafgelegenheit ausgestatteten Ministationen, in denen sich jeweils rund 10 Polizisten rund um die Uhr in drei Schichten ablösen. In unproblematischen Außenbezirken und in ländlichen Gegenden sind weitere 8300 Kobans zu finden, die von einem Polizeioffizier ständig bewohnt werden; in diesen Fällen bekommt auch die Ehefrau ein kleines Polizeigehalt. Ein Viertel aller japanischen Polizisten ist in Kobans stationiert.

„Ko“ heißt „kommen und gehen“ oder „sich abwechseln“ und „ban“ bedeutet „bewachen“. Damit ist auch schon die Hauptaufgabe eines Koban-Polizisten beschrieben. Die meiste Zeit patrouilliert er zu Fuß oder auf dem Fahrrad durch seinen Bezirk, weshalb er im Volksmund auch Omawari-san genannt wird, „Herr Herumgeher“. Er kümmert sich nicht nur um Falschparker und Verkehrsunfälle, sondern schlichtet auch Familienstreitigkeiten, hilft mit Telefongroschen aus, besänftigt betrunkene Radaubrüder, stellt in dringenden Fällen die Toilette seines Kobans zur Verfügung, erteilt Ratschläge zur Behandlung kranker Haustiere, betreut Senioren, verteilt Informationsblätter aller Art und bewahrt Fundsachen auf.

Die meistbeanspruchte Leistung des Service-Katalogs dürften Auskünfte zu Straßen und Adressen sein. Theoretisch wäre es zwar möglich, wie im Rest der Welt den Straßen Namen zu geben, vermutlich wäre das aber „unjapanisch“. Jedenfalls gibt es bis heute keine Straßennamen; selbst in der Zwölfmillionen-Metropole Tokio sind die Häuser eines Stadtviertels einfach so durchnummeriert. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Hausbesitzer früher ihre Nummer selbst aussuchen konnten, so dass viele Hausnummern mehrfach vorkommen. Um eine Adresse zu finden, muss man folglich viel Zeit mitbringen – oder im Koban fragen. Rechtschaffene Japaner hinterlassen in der nächsten Polizeibox ihre Kontaktadresse. Solange noch nicht alle Krankenwagen und Feuerwehrautos mit Computer-Navigationssystemen ausgestattet sind, hängt besonders in verwinkelten Altstadtvierteln der Erfolg vieler Rettungseinsätze von der Ortskenntnis der Polizisten ab.

Dass die blau Uniformierten nicht nur die klassischen Polizeifunktionen wahrnehmen, hat Tradition: „Kindermädchen des Volkes“ sollten sie sein, fand Kawaji Toshiyoshi, der als erster Chef der Tokioter Stadtpolizei im 19. Jahrhundert die moderne japanische Polizei begründete. Davor waren arbeitslose Samurais eingesetzt worden, um auf den Straßen Tokios für Ordnung zu sorgen – Normalbürger hätten sich eher selbst den Kopf abgeschlagen als gewagt, einen der ehemaligen Ritter anzusprechen. In der Erkenntnis, dass das auf die Dauer nicht gut gehen würde, suchte die japanische Regierung ein bürgernäheres System.

Auf Empfehlung eines deutschen Beraters des Innenministeriums, des Berliner Polizeihauptmanns Heinrich Hoehn, wurden 1888 die ersten Kobans eröffnet, zunächst recht windige Bretterunterstände. Später wurden sie durch Backsteinhäuschen, in den letzten Jahrzehnten durch ein- oder zweistöckige Betonschachteln in Fertigbauweise ersetzt. In Vorzeigevierteln, wie zum Beispiel Tokios Jugendquartier Shibuya, sind heute auch Nobelkobans in Glas, Marmor und Stahl zu finden.

Die Türen der Polizeiboxen sind mit einem goldenen, zwanzigstrahligen Sonnenstern gekennzeichnet. In Tokio steht neben dem Eingang, mal in Plüsch, mal in Plastik, das Maskottchen der Hauptstadtpolizei. Die offizielle Beschreibung des orangefarbenen Knilchs: „PEOPO, der Name kombiniert die ersten Silben von ‚people‘ und ‚police‘, hat eine Antenne auf dem Kopf, um schnell alle sozialen Veränderungen aufzugreifen, große Augen und große Ohren, um jede Ecke der Gesellschaft zu beobachten und auf jede Stimme der Öffentlichkeit zu hören.“

Linke Soziologen motzen zwar immer wieder über den „Polizeistaat“ und beklagen, dass die Kobans nichts anderes als verlängerte Arme, beziehungsweise Ohren des Staatssicherheitsdienstes seien und hemmunglos für den Geheimdienst herumschnüffelten. Die Behörden entgegnen ebenso regelmäßig wie treuherzig, dass alle gesammelten Daten nur „kobanintern“ oder allenfalls für „geographische Auskünfte“ verwendet würden. Sicher ist jedenfalls, dass die Koban-Polizisten über die Bewohner und Unternehmen in ihrem Bezirk sehr viel wissen.

Die Polizisten zum Essen einzuladen oder mit Informationen bei guter Laune zu halten, wird daher von den meisten Japanern nicht für unklug gehalten. Die Beamten sind ihrerseits auf Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit getrimmt, woran sie sich trotz ihrer ermüdenden 18 bis 20 Stunden langen Schichten auch meistens halten, sofern ihnen nicht Koreaner oder Angehörige anderer unbeliebter Minderheiten über den Weg laufen. Selbst vor 1945, als auch die gewöhnliche Polizei für die Unterdrückung politischer Abweichungen zuständig war, bemühte sie sich um ein möglichst „mildes und wohlwollendes“ Auftreten. Im Vergleich mit Nazi-Deutschland, mit dem Japan verbündet war, wurden selbst Menschen mit „falschen und gefährlichen Gedanken“ geradezu sanft angefaßt – unter der Bedingung jedoch, dass sie aufrichtig ihren sozialistischen, demokratischen, pazifistischen oder sonstwie irrigen Meinungen abschworen.

Die Besatzungen der Kobans beschränken sich aber nicht darauf, wachsam und freundlich auf Streife zu gehen, auch ein Drittel aller Verhaftungen geht auf ihr Konto. Da die japanischen Behörden davon ausgehen, dass Häftlinge den Steuerzahler bloss Geld kosten und im Gefängnis ohnehin nichts Vernünftiges lernen, haben Verhaftete allerdings gute Chancen, mit einer Strafpredigt davonzukommen. Vorausgesetzt natürlich, dass sie einen hinreichend reuigen Eindruck machen, eventuell tief zerknirscht auf die Knie fallen, sich jedenfalls deutlich intensiver entschuldigen als in Japan ohnehin bei jeder Gelegenheit üblich. Auf einem anderen Blatt steht, dass die rund 50.000 Gefängnisinsaßen, die es in dem 125-Millionen-Einwohner-Staat trotzdem gibt, ausgesprochen unsanft behandelt werden und regelmäßig in Berichten von Amnesty International auftauchen.

Wenn möglich regeln die Koban-Polizisten allerdings selbst schwerwiegendere Angelegenheiten am liebsten informell und ohne Meldung an das übergeordnete Polizeirevier. Aus der Sicht der Regierung hat die Bürgernähe jedoch den Nachteil, dass die Beamten Gesetz zuweilen Gesetz sein lassen und sich zu sehr mit der Bevölkerung ihres Bezirks identifizieren. Als zum Beispiel die Besatzung eines Hausboot-Kobans in Südjapan wegen „Angeln im Dienst“ gerügt wurde, kam die dreiste Antwort, man habe sich „tarnen“ und „an die Umgebung anpassen“ wollen.

Unter diesen Umständen ist nicht ganz klar, was die offiziellen Kriminalitätszahlen taugen. Laut der Mordstatistik, bei der wohl am wenigsten geschummelt wird, gibt es in Japan sechsmal weniger Morde als in den USA und viermal weniger als in Deutschland. Selbst in Tokio soll es pro Jahr nur an die 30 „Fälle von Schießereien“ geben. Unbestritten ist jedenfalls, dass sich die Japaner trotz zunehmender Anonymität in den Großstädten und steigender Kriminalität immer noch viel sicherer fühlen als die Bürger anderer Länder.

Die meisten Beobachter meinen, dass das Koban-System ein Hauptgrund dafür ist. Die Polizeihäuschen haben deshalb gute Aussichten, neben Karaoke und Instantnudeln zum erfolgreichsten Exportprodukt Japans zu werden. Zuerst wurden 1983 in Singapur „Nachbarschaftspolizeiposten“ eröffnet. Später wurden die Polizeiboxen mit Geldern der japanischen Entwicklungshilfe auf den Philippinen, in Malaysia, Vietnam, Brasilien und anderen Ländern kopiert. Auch amerikanische Städte wie Detroit, Portland und Philadelphia stellten Kobans auf, eine US-Version mit schußsicheren Fenstern – und stellten daraufhin fest, dass die Zahl von Taschendiebstählen und Raubüberfällen „drastisch abnahm“. In Columbia wurden Kobans eingerichtet, in denen sich Polizisten und Sozialarbeiter vor allem um verwahrloste Jugendliche kümmern.

Die Popularität des japanischen Vorbilds werden die Kopien aber wohl nie erreichen. Nippons „Kindermädchen des Volkes“ begleiten sogar die Zuschauer eines TV-Nachtprogramms. Diese „Koban-Polizistinnen“ stehen vermutlich nicht auf der Gehaltsliste des Innenministeriums, aber das stört wohl niemanden, denn im Interesse der Volksaufklärung ziehen die Damen ihre blauen Uniformen ganz langsam aus.

Martin Ebner


 


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