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Deutsch: Variantenwörterbuch der regionalen Vielfalt

About: Dictionary for regional varieties of standard German
Pri: Vortaro de regionaj variantoj de norma germana lingvo. Ne nur la dialektoj, ankaŭ la oficiaj lingvoj de germanlingvaj landoj distingiĝas.
Published,
Aperis: Südwestpresse, 14.03.2005


Fremde bunte Muttersprache


Ein neues Variantenwörterbuch dokumentiert die regionale Vielfalt des Deutschen

Drei Männer sitzen in einem Eisenbahnabteil: „Sind’r au z’Züri gsii?“ will der Schweizer wissen. „Wie bitte?“ fragt der Berliner. „Sind’r au z’Züri gsii?“ wiederholt der Eidgenosse. „Was sagen Sie?!“ Hilfreich mischt sich der Schwabe ein und übersetzt: „Er moint: ‚gwea’…“ – Es ist bekanntlich die gemeinsame Sprache, die Appenzeller und Hamburger, Südtiroler und Ostbelgier von einander trennt. Dabei unterscheiden sich aber keineswegs nur die Dialekte, auch in der Hochsprache hat jede Region ihre eigenen Schrullen.

Mit Unterstützung des Dudens sind viele Norddeutsche der Ansicht, sie allein würden das „richtige“ Deutsch sprechen. Damit soll nun aber Schluss sein: „Um der Arroganz entgegen zu wirken, welche die Standardsprache in Österreich und in der Schweiz als Dialekt belächelt“, hat der Duisburger Linguist Ulrich Ammon zusammen mit Forschern der Universitäten Basel und Innsbruck sieben Jahre lang das Internet durchforstet, Romane und Zeitungen ausgewertet, Werbebroschüren und wissenschaftliche Aufsätze gelesen und die dabei gefundenen Sprachbesonderheiten für das „Variantenwörterbuch des Deutschen“ gesammelt.

Der 1025 Seiten starke Wälzer führt nun „gleichberechtigt nebeneinander bestehende standardsprachliche Ausprägungen des Deutschen“ auf. Wer „Hendl“, „Poulet“ oder „Broiler“ statt „Brathuhn“ sagt, soll in Zukunft nicht mehr unter Minderwertigkeitskomplexen leiden müssen und auch guten Gewissens „Stelze“, „Gnagi“ oder „Schweinshaxe“ statt „Eisbein“ schreiben dürfen. Deutsch ist kein Einheitsbrei, sondern eine „plurizentrische Sprache“!

Schätzungsweise 50.000 regional geprägte Ausdrücke gibt es in der deutschen Standardsprache, die überall dort, wo Deutsch Amtssprache ist, „im öffentlichen Sprachgebrauch als angemessen und korrekt gilt“. Davon haben die Wissenschaftler rund 12.000 als „öffentlich gebräuchlichen Wortschatz“ eingestuft und zusammen mit Beispielsätzen in ihr Wörterbuch aufgenommen.

Die Einleitung gibt eine kurze Übersicht zu Besonderheiten, die nicht nur einzelne Wörter betreffen. Beispiele sind das Sprechtempo („zackig“ im Norden, „breiig“ im Süden), die Betonung (ÖBB und CDU, aber SBB) und die Aussprache von französischen Fremdwörtern (in der Schweiz eingedeutscht: „DepartEment“). Die Tabelle „Grammatisches Geschlecht der Substantive“ klärt darüber auf, dass man in Helvetien ganz offiziell „das Bikini“ und „das Mami“ sagen darf, auch „der Salami“ und „der Butter“. Zur „Sprachanwendung“ ist zu erfahren, dass Teutonen gerne „Ich kriege“ statt „Ich hätte gern“ sagen und andere beim Reden unterbrechen: „Daher wirken Deutsche auf Schweizer bisweilen unhöflich; umgekehrt können Deutsche Schweizer als Diskussionspartner langweilig finden.“

Gar nicht fad ist die im Wörterbuch reichlich vertretene Verwaltungssprache, denn die „Tüpferlreiter“ und „Tüpflischeißer“ stehen den deutschen „Korinthenkackern“ nichts nach, wenn es darum geht, sich Wortungetüme à la „Landeshauptmannstellvertreter“ auszudenken. Dass „Anrainer“ und „Anstösser“ nichts anderes sind als „Anlieger“, kann man sich ja vielleicht selbst denken. Was aber will das Amtliche Bulletin des Schweizer Parlaments sagen mit „Der Bundesrat trölt weiter“? Dass die Regierung in Bern absichtlich ein Gesetzesprojekt verzögert. Beruhigend dagegen, dass ein österreichischer „Exekutionsbefehl“ noch nicht das Ende bedeutet, sondern erst einmal nur eine „Pfändung“, beziehungsweise „Betreibung“.

Für das Urlaubsgepäck ist das knapp zwei Kilo schwere Lexikon etwas unhandlich. Es bietet aber viele Anregungen für eine angeregte Kommunikation über Sprachgrenzen hinweg. Wie wäre es mit „Tschumpel“ oder „Galöri“? Als Bezeichnung für eine „einfältige Person“ sind diese Schweizer Ausdrücke vergleichsweise harmlos, sie entsprechen den austriakischen „Wappler“ oder „Lackel“, beziehungsweise den süddeutschen „Löli“ und „Dubel“. Auch Beamtenbeleidigung kann viel nuancierter gestaltet werden als mit dem plumpen „Bulle“: Wer sich in der Schweiz eine entsprechende Verzeigung einhandeln will, rufe „Tschugger“, für ein Organstrafmandat in Wien reicht vielleicht „Schandi“, in Vorarlberg „Butz“.

Am besten aber fängt man in fremden deutschsprachigen Gegenden weder Streit, Zoff, noch Zores an. Es ist doch auch gar nicht so wichtig, ob das Endstück des Znünibrots nun Scherz, Kanten, Kappe, Kipf, Knäppchen, Knäusle, Knust, Krüstchen, Ranft oder Riebele heißt – Hauptsache man wird satt.

Martin Ebner

Buch:
„Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol.“ De Gruyter-Verlag, Berlin 2004


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Foto: Advertising in the hardcore Swiss-German dialect of Basel. Reklamo en dialekto de Basel, Svislando. Herbschtmäss: Baseldütsch isch dr draditionelle Dialäggt vo dr Stadt Basel.

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Texts of timeless beauty. Or at least some historical interest.