Aletsch glacier in Switzerland

Gletscher: Klimawandel in den Alpen

About: Alpine glaciers and climate change
Pri: Alpaj glaĉeroj kaj klimata ŝanĝo
Published, Aperis: Südwestpresse, 18.11.2006


Schnell noch die glänzenden Wahrzeichen der Alpen anschauen, bevor sie ganz weggetaut sind! Klimaforscher sehen keine Zukunft für die Gletscher in Mitteleuropa: Wenn die derzeitigen Trends andauern, werden bis zum Jahr 2050 drei Viertel von ihnen verschwunden sein. Das Schmelzen lässt sich allenfalls etwas verlangsamen.

Schnee zum Gletscher karren? Auf der Zugspitze ist das schon seit ein paar Jahren Routine: Zum Beginn der Skisaison im November kratzen Pistenraupen im Umkreis Schnee zusammen und schieben ihn auf den Nördlichen Schneeferner. Rund um Liftmasten sollen dort auch Abdeckfolien die eisige Pracht schützen. Diese „Bewirtschaftung“ verlangsamt zwar das große Schmelzen, aufhalten kann sie es aber nicht. Als die Zugspitzbahn gebaut wurde, war der Schneeferner gut 300 Hektar groß, heute sind es gerade noch 50. Bei den Nachbarn sieht es auch nicht besser aus: „Die Ostalpen werden bald völlig eisfrei sein. Die Österreicher verlieren ihre Gletscher“, stellt Hartmut Graßl, ehemaliger Direktor des Hamburger Max-Planck-Instituts für Meteorologie, fest. „Das ist nicht mehr zurückzuholen.“

In Bewegung waren die Gletscher immer schon. Während Warmphasen wie der Römerzeit oder dem Mittelalter verloren Wanderer auf Alpenpässen Schuhnägel, die in anschließenden Kälteperioden unter meterhohen Eispanzern verschwanden. Ihre bislang größte Ausdehnung erreichten die frostigen Riesen am Ende der „Kleinen Eiszeit“, als vor rund 150 Jahren die Durchschnittstemperatur ungefähr ein Grad tiefer war als heute. Seither ziehen sie sich beständig zurück, von kleinen Pausen um 1920 und 1970 einmal abgesehen. Seit Beginn der modernen Gletscherforschung um 1860 haben die Eisfelder der Alpen bis 1970 im Durchschnitt ein Drittel ihrer Fläche und die Hälfte ihres Volumens verloren. Bislang wurden die Tiefststände der Nacheiszeit nicht unterschritten. Was Wissenschaftler und Umweltschützer aber beunruhigt, ist die rasant zunehmende Geschwindigkeit des Rückgangs: Die rund 5150 Alpengletscher, die es im Jahr 1970 noch gab, haben seither weitere 40 Prozent ihrer Masse eingebüßt – allein im Hitzesommer 2003 gingen 5 bis 10 Prozent den Bach runter.  

Hartmut Graßl sieht darin einen „Frühindikator“, der einen allgemeinen Klimawandel anzeigt: „Seit 1900 ist die globale Durchschnittstemperatur um circa 0,8 Grad Celsius gestiegen, an der Nordseite der Alpen um 1,8 Grad. Die Schneefallgrenze ist gut 150 Meter bergwärts gewandert.“ Dass die Gletscher auf die Erwärmung der Atmosphäre früher und sensibler reagieren als das Flachland, liegt daran, dass die Alpen als Wetterbarriere und Regenfänger wirken. Und an „positiven Rückkopplungseffekten“:  Während heller Neuschnee das einfallende Sonnenlicht fast vollständig reflektiert, absorbieren dunkle oder verschmutzte Eisflächen, die nicht von einer weißen Firndecke geschützt werden, die Wärme – was das Schmelzen beschleunigt. Wenn schwarze Felswände oder Steine freigelegt werden und sich aufheizen, ist erst recht kein Halten mehr.

„Bereits bei einem Anstieg von einem weiteren Grad verlassen wir den Schwankungsbereich der letzten 10.000 Jahre. Dadurch verliert unser historisches Wissen, was Naturgefahren angeht, an Wert“, warnt der Zürcher Gletscherforscher Michael Zemp. Falls die Durchschnittstemperatur in den Alpen, wie von Studien des UNO-Gremiums IPCC vorhergesagt, bis 2100 um weitere 3 Grad zulegt, könne sich nur ein Zehntel der Gletscher von 1850 halten: vielleicht Eisflecken in günstigen Lagen der Jungfrau-Region im Berner Oberland und im Wallis Teile des heute noch gut 23 Kilometer langen Großen Aletschgletschers. Bei einem Anstieg um fünf Grad, den andere Szenarien erwarten, wären „die Alpen praktisch eisfrei“.

Es gibt allerdings keine Garantie dafür, dass die Temperatur kontinuierlich ansteigt und die Gletscher nur langsam schmelzen. Wenn bestimmte Schwellenwerte überschritten werden, sind auch plötzliche Sprünge und ruckartige Veränderungen möglich, betont Stefan Rahmstorf vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung. Das könnte zum Beispiel in der Schweiz beim Triftgletscher der Fall sein: Er ist 2005 um ganze 216 Meter geschrumpft, viel mehr als in den Jahren davor. Seine Zunge hat sich in einem neu entstandenen See aufgelöst, und die Bewohner des darunter liegenden Gadmertals fürchten nun, dass abstürzendes Eis eine Flutwelle auslösen könnte.

Das Umweltamt des Kantons Bern sieht mit den Gletschern nicht nur ein einzigartiges Landschaftsbild verschwinden, sondern erwartet auch mehr Murgänge, Erdrutsche und Felsstürze: Wenn Permafrost die Wände und Hänge in der Höhe nicht mehr stabilisiert, müssen Bergbahnen teuer gesichert werden und unten in den Tälern wird es ungemütlich – zumal gleichzeitig auch die Schutzwälder von Ortschaften und Verkehrswegen unter Hitzestress leiden. Das Bröckeln der Ostflanke des Eigers, früher vom Unteren Grindelwaldgletscher gestützt, hat diesen Sommer zwar zahlreiche Schaulustige angezogen. Die „üblichen Katastrophentouristen“ seien langfristig aber kein Ersatz für Feriengäste, die lieber nicht per Hubschrauber aus abrutschenden Berghütten evakuiert werden wollen. Auf Verluste müssten sich auch Landwirte und Stromproduzenten einstellen: erst Überschwemmungen, dann Dürre. „Die schmelzenden Gletscher werden ihre Rolle als bedeutender Wasserspeicher zunehmend verlieren“, erwartet die Berner Umweltbehörde: „Lagerten in den Eismassen um 1850 noch 160 Prozent eines Jahresniederschlags, so sind es inzwischen weniger als die Hälfte“. In heißen Sommern werde in Zukunft Rhein, Rhone, Donau und anderen Flüssen der ausgleichende Wassernachschub aus dem Alpenreservoir fehlen.

Tief schwarz sehen auch die Umweltverbände, die sich zur Internationalen Alpenschutzkommission zusammengeschlossen haben und von den europäischen Umweltministern einen „Aktionsplan für Klimaschutz“ fordern. Sie haben keinen Zweifel daran, dass die Erwärmung vom Menschen verursacht wird. Mit Bildern von überschwemmten Dörfern und verwüsteten Bergtälern werben sie eindringlich dafür, die Emission von Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen zu verringern. Selbst wenn die Menschheit – wie von Greenpeace Schweiz empfohlen – auf Fahrrad und Bahn umsteigen, Ökostrom abonnieren, Wegwerfprodukte meiden und Briefe an Politiker schreiben würde, können die Alpengletscher aber wahrscheinlich kaum noch gerettet werden. Kleine Firnflecken sind schon weg, und die größten Eisblöcke reagieren erst mit Jahrzehnten Verzögerung: Die heutige Vergletscherung spiegelt Klima-Signale der 1960er, 1970er Jahre wider.

Daher setzen die meisten Fremdenverkehrsorte in den Bergen auf Anpassung: schnell noch Gletschertouren anbieten, Schneekanonen kaufen, an Alternativen für die Zukunft tüfteln und Gefahrenkarten erstellen. Nicht alle Gemeinden werden allerdings so wie Pontresina im Engadin Millionen für Dämme gegen Schlamm und Geröll aufbringen können. Der Erlanger Geograf Werner Bätzing ist ohnehin der Meinung, dass „die Alpen sich grundsätzlich ihrer technischen Beherrschung entziehen“. Bergstürze, Muren, Hochwasser und was von den Menschen sonst noch alles als Naturkatastrophe bezeichnet wird, seien für „ein junges, sich stetig wandelndes Hochgebirge“ nichts anderes als eine völlig normale „sprunghafte Naturdynamik“.

Vielleicht könnte man auch einfach unseren Blick auf die Gletscher wieder ändern? Als faszinierend werden die weißen Wüsteneien erst seit der Erfindung des Tourismus vor rund 200 Jahren wahrgenommen; vor der Industrialisierung jagte das unzugängliche Hochgebirge den meisten Menschen nur Angst und Schrecken ein. Das Schweizer Bundesamt für Umwelt wirbt jedenfalls dafür, den Schutt der ständig größer werdenden Gletschervorfelder ebenfalls schön und interessant zu finden. Wenn sich die eisblauen Massen zurückziehen, werden die Moränen und Schwemmebenen davor umgehend von tüchtigen Pionierpflanzen besiedelt: „Auch diese alpinen Auen haben einen ganz besonderen Reiz“.


Eisige Dynamik

Gletscher sind kein einfaches Forschungsobjekt: Nie halten sie still! Ständig verändern sie mit ihren Vorstößen und Rückzügen nicht nur die Landschaft, sondern auch sich selbst. Wenn es ihnen gut geht, kommt an ihrem oberen Ende dauernd neuer Schnee hinzu, der sich zu Eis verdichtet, langsam talwärts schlittert und unten abtaut. Während sich ihre Länge einfach am Ende der Gletscherzunge ablesen lässt, ist das Volumen komplizierter zu bestimmen, denn meistens ist das Bett, durch das sich der Eisstrom wälzt, nicht genau vermessen. Anhaltspunkte zur Berechnung liefern zum Beispiel die Gletscheroberfläche und die Menge des abfließenden Wassers. Schwierigkeiten bereitet auch, dass jeder Gletscher seine Eigenheiten hat, etwa eine Lage im schattigen Bergkessel oder Fütterung durch Lawinen – Messdaten lassen sich daher nicht überregional verallgemeinern.      
Das Nährgebiet eines Gletschers wird von seinem Zehrgebiet durch die sogenannte Gleichgewichtslinie getrennt. Sind die Zuwachs- und die Schwundflächen ungefähr im Verhältnis 2:1 aufgeteilt, bleibt die Masse des Gletschers gleich – es kommt auf der einen Seite so viel neues Eis dazu, wie auf der anderen altes abschmilzt. Je nach Sonneneinstrahlung, Lufttemperatur und Niederschlägen verlagert sich diese Grenze ständig. Wandert die Gleichgewichtslinie längere Zeit über den höchsten Punkt eines Eisfelds hinauf, wird es vollständig aufgezehrt. Genau das ist das Schicksal der fünf bayrischen Gletscher: Eine dauerhafte Neubildung von Eis wäre beim heutigen Klima erst oberhalb von rund 3000 Höhenmetern möglich – Zugspitze, Watzmann & Co. liegen tiefer und verlieren ihren weißen Schmuck.

Martin Ebner

Infos (last update: 27.02.2021):

  • Die Münchner Ökologen Sylvia Hamberger und Wolfgang Zängl sammeln historische Ansichten von Gletschern und stellen ihnen aktuelle Aufnahmen gegenüber. Im Tecklenborg Verlag ist 2004 ihr Buch „Gletscher im Treibhaus. Eine fotografische Zeitreise in die alpine Eiswelt“ erschienen: www.gletscherarchiv.de 
  • Zugspitzgletscher: www.bayerische-gletscher.de
  • Besonders an Schüler richtet sich das Buch „Von der Eiszeit in die Heisszeit. Eine Zeitreise zu den Gletschern“, das der Lehrer Dominik Jost und der Geograf Max Maisch im Zytglogge Verlag veröffentlicht haben.
  • Das Schweizerische Gletschermessnetz beobachtet die langfristigen Gletscherveränderungen in der Schweiz: www.glamos.ch
  • Um die deutschen Eisreste kümmert sich die Bayerische Akademie der Wissenschaften: www.glaziologie.de
  • Das Standardwerk zu allen Bergfragen, verfasst vom Geografen Werner Bätzing und von C.H.Beck immer wieder neu aufgelegt: „Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft“.

 


Foto: Aletsch glacier in Switzerland, the largest glacier in the Alps; Aletsch glaĉero en Svislando, la plej granda glaĉero en la Alpoj; Aletschgletscher in der Schweiz, der größte Gletscher der Alpen


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Texts of timeless beauty. Or at least some historical interest.