Litter pigs in Adelaide

Plastiktüten: praktisch, billig – untragbar?

About: Plastic bags are more and more often prohibited. The end of a motley era.
Pri: Malpermesoj por plastiksakoj. Fino de erao.

1. Poppig schöner Müll. Ende einer Epoche: eine Ausstellung bei Stuttgart verabschiedet die Plastiktüte (24.07.2020)
2. Plastiktüten: praktisch, billig – untragbar?  (29.09.2008)


Adieu Plastiktüte!
Ausstellung im Schloss Waldenbuch: „Adieu Plastiktüte!“

Published, Aperis: d’Lëtzebuerger Land, 24.07.2020

Poppig schöner Müll


Ende einer Epoche: eine Ausstellung bei Stuttgart verabschiedet die Plastiktüte

Als letztes Jahr der Abenteurer Victor Vescovo mit seinem U-Boot im Marianengraben zu einer Tiefe von 10.928 Metern abtauchte, ein neuer Rekord, da wurde er auf dem Meeresboden bereits erwartet: von einer Plastiktüte. Kunststoffe haben die Welt erobert, von den Polen bis zum Everest; längst schon sind kleingeriebene Plastik-partikel bis in die Nahrung von Tier und Mensch vorgedrungen. Museen und Archive aber befassen sich nur zögerlich mit synthetischen Polymeren, dem Segen und Fluch unseres Zeitalters.

Plastik ist so allgegenwärtig, dass es oft übersehen wird. Meist rümpfen die großen Kulturtempel darüber die Nasen und überlassen billigen Ersatz für Elfenbein, Glas und andere Traditionsmaterialien lieber kleinen Firmen- und Heimatmuseen oder Amateuren. Das „Deutsche Kunststoff-Museum“, für das ein Verein in Oberhausen Objekte zusammenträgt, kommt schon seit Jahrzehnten nicht recht in die Gänge. Immerhin wird Bakelit, der erste echte Kunststoff, derzeit in Wien mit einer kleinen Sonderausstellung gewürdigt, noch bis 26. Oktober im MAK.

Private Initiativen von Kunststoff-Liebhabern versanden oft nach ein paar Jahren. Das „Portable Art Museum“ in Düren zum Beispiel, einst mit 150.000 Tragtaschen und Tüten die wahrscheinlich weltweit größte Kollektion dieser Art, wurde sang- und klanglos wieder geschlossen, als sein Gründer 2011 starb. An den Sammler Heinz Schmidt-Bachem erinnert nur noch das von ihm verfasste historische Standardwerk „Tüten, Beutel, Tragetaschen“ (Waxmann-Verlag, Münster 2001).

Die Schwaben Mathias Kotz und Monika Breuninger wollten ihre Sammlungen dauerhaft in guten Händen wissen: Sie übergaben dem Landesmuseum Württemberg mehr als 50.000 Plastiktüten aus dem Zeitraum 1968 bis 2010. Die von der Designerin Phoebe Philo für den Modesommer 2018 gestaltete durchsichtige „Céline-Bag“, die schon mal für mehr als 800 Euro gehandelt wird, ist in diesen Schätzen folglich nicht enthalten. Dafür aber allerhand andere Preziosen, die nun gesichtet und nach Motiven geordnet werden.

Während die Arbeiten zur Archivierung noch andauern, wird im ehemaligen Jagdschloss der württembergischen Herzöge eine kleine, alle vier Wochen wechselnde Auswahl präsentiert. Der aktuelle Anlass für die knallbunte Sonderschau ist das von der deutschen Bundesregierung im vergangenen November auf den Weg gebrachte, vom Parlament noch abzusegnende Verbot von leichten Kunststoff-Einwegtüten. Überhaupt gibt es auf der Welt nur noch wenige Regionen, in denen Plastikfetzen ohne Restriktionen weggeworfen werden dürfen: die üblichen Schurkenstaaten Nordkorea, Iran, Sudan, Russland und Teile Amerikas. Eine Ära geht zu Ende.

Dabei hatte das Polyethylen-Zeitalter einmal unbeschwert begonnen. Eigentlich ist dieser Kunststoff eine deutsche Erfindung: Anno 1898 stieß der Tübinger Professor Hans von Pechmann zufällig in einem Reagenzglas auf eine wächserne Masse. Allerdings konnte er damit nichts anfangen, weshalb er die Sache wieder vergaß und Engländern überließ. Erst seit den 1950er Jahren wird im großen Stil aus Erdöl und Erdgas verdichtetes Polyethylen hergestellt und zu Verpackungsfolien verarbeitet.

In Deutschland verteilte 1961 das Kaufhaus Horten in Neuss die ersten „Hemdchentüten“, deren Träger an ein Unterhemd erinnern. Der Ingenieur Sten Gustaf Thulin ließ 1965 für eine schwedische Firma die Reiterbandtragetasche patentieren. Billig und praktisch, reißfest und wasserdicht: bereits 1970 überflügelten Plastiktüten die davor üblichen Papiertaschen. Die massenhaft verbreiteten, gut zu bedruckenden „laufenden Plakate“ entwickelten sich rasch zum Symbol der Wegwerf-Gesellschaft.

Aldi-Nord-Tüte
Aldi-Nord-Tüte von Günter Fruhtrunk

Im Gefolge von Unverpackt-Läden und Klimaschutz ist nun eher Plastik-Kritik gefragt. Das Bild „In Tesco we trust“ von Banksy etwa zeigt Pfadfinder, die vor einer Tüten-Fahne salutieren. Während des Wirtschaftswunders aber hatten selbst renommierte Künstler keine Hemmungen, vergänglichen Kommerz zu verschönern: Die Tüten von Aldi-Nord wurden von Günter Fruhtrunk gestaltet, einem Vertreter der Op Art und Professor der Münchner Akademie. Der Schweizer Migros-Konzern engagierte für jährliche Tragetaschen-Editionen ebenfalls bekannte Künstler, zum Beispiel Daniel Spoerri, Bernhard Luginbühl und Dieter Roth.

Einst galten Plastiktaschen sogar als besonders umweltfreundlich. Der WWF Deutschland warb in den 1970er Jahren auf Tüten der mittlerweile aussterbenden Supermarktkette Tengelmann für Naturschutz: Plastiktaschen seien dafür hilfreich, denn mehrfach verwendbar, hygienisch und „gefahrlos“ zu entsorgen. Bei der Verbrennung von Polyethylen entstehen bloß Wasserdampf und Kohlendioxid – was früher als harmloser Bestandteil der Luft angesehen wurde.

Tengelmann-Tüte
Tengelmann-Tüte mit Umweltschutz-Werbung

Wie lassen sich derartige Zeitdokumente für die Nachwelt bewahren? Auf dem Meeresboden wird Kunststoff leicht mehrere Jahrhunderte alt. Für Museen aber können UV-Licht, Wärme und Schädlinge durchaus Herausforderungen sein. Kurator Frank Lang ist optimistisch, dass auch in den Depotkisten im Kunststoff-Keller von Schloss Waldenbuch optimale Bedingungen herrschen: dunkel, kühl und sauerstoffarm.

Vielleicht werden Plastiktüten aber auch vorschnell totgesagt. Zu Corona-Zeiten haben glatte, leicht zu reinigende Oberflächen einen neuen Reiz. Die Stadt New York jedenfalls sieht nun davon ab, ein im März erlassenes Plastiktüten-Verbot durchzusetzen und will es vorerst mit Aufklärung versuchen. Möglicherweise wird ja auch noch ein „Biokunststoff“ entwickelt, der nicht nur auf dem Papier kompostierbar ist. Vielleicht wird Plastikmüll eines Tages auch nicht mehr nach Malaysia exportiert, sondern tatsächlich recycelt. Theoretisch ist Plastik gar nicht so schlecht, und an Museumswänden sieht es sogar sehr schön aus.

Martin Ebner


Die Ausstellung „Adieu Plastiktüte!“ war bis 8. November 2020 im Schloss Waldenbuch bei Stuttgart zu sehen: museum-der-alltagskultur.de

Bislang nur virtuell: deutsches-kunststoff-museum.de

Zu Geschichte und Gegenwart der Kunststoff-Welt informiert der „Plastikatlas“ der Heinrich-Böll-Stiftung: boell.de/plastikatlas

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Published, Aperis: Südwestpresse, 29.09.2008

Plastiktüten: praktisch, billig – untragbar?


Die bunten Symbole der Wegwerfgesellschaft sind weltweit allgegenwärtig. Bisher haben Polyethylentaschen alle Anfeindungen durch Umweltschützer überlebt. Besonders in armen Ländern erzwingen nun aber hohe Erdölpreise und nicht mehr zu übersehene Abfallprobleme vielerorts ein Umdenken.

Die Kunststoffindustrie kann bestimmt auch ohne Sansibar leben. Dass diese Insel im Indischen Ozean allen, die dort mit Plastiktüten aufkreuzen, sechs Monate Haft und 1000 US-Dollar Strafe androht – das schmerzt sie wahrscheinlich trotzdem. Vor allem, weil die Ex-Piraten vor Afrikas Küste zwar besonders rabiat, aber kein Einzelfall sind. Ob Papua-Neuguinea oder Frankreich, Südafrika oder Australien: immer mehr Länder gehen gegen Plastetaschen vor.

Bangladesh begründete sein bereits 2002 eingeführtes Verbot damit, dass die Tüten Abwasserkanäle blockieren und so zu Flutkatastrophen beitragen. Ruanda und eine Reihe von Nachbarländern finden, dass die massenhaft in der Gegend herumfliegenden Tragehilfen das Pflanzenwachstum stören, die Mägen von Rindvieh verstopfen und Brutstätten für Moskitos bieten, also die Verbreitung von Malaria fördern. China hat in diesem Sommer dünne Tütchen verboten, deren geringer Nutzwert in keinem Verhältnis zu ihrer Umweltbelastung steht; für dickwandigere Taschen wurde eine Abgabegebühr vorgeschrieben. Die Nationale Entwicklungskommission kritisierte dort Plastiktüten als Verschwendung von Erdöl.

Besonders aufgeschreckt hat die Hersteller, dass im vergangenen Jahr mit San Francisco und Oakland erstmals auch Städte in den USA Verbote für Plastiktüten erlassen haben. Schließlich entfallen von den schätzungsweise über 500 Milliarden verschweißten Schläuchen aus Polyethylen-Folie, die weltweit pro Jahr verbraucht werden, über 80 Milliarden auf die Vereinigten Staaten – dieser Markt von rund 4 Milliarden Dollar scheint nun gefährdet. Die Stadträte von San Francisco erklärten eine Recycling-Selbstverpflichtung der Industrie, die vor 10 Jahren eine Tüten-Zwangsgebühr abwendete, für gescheitert.

Bei der Debatte in Kalifornien spielte auch der „Große Pazifische Müllfleck“ eine Rolle: Im Meereswirbel zwischen San Francisco und Hawaii schwappt ein ständig wachsender, bereits auf 20 Millionen Quadratkilometer geschätzter Teppich aus Plastikabfällen, nicht zuletzt Tüten. Durch UV-Licht und Reibung wird der Müll zwar im Laufe der Jahre zu Partikeln zerkleinert, aber das macht die mit Farbstoffen und anderen Giften angereicherte Suppe nicht besser: Laut Forschern der Algalita-Stiftung gibt es nun im Nordpazifik sechs mal mehr Plastikteilchen als Zooplankton – die über Quallen und Fische auch in die menschliche Nahrung gelangen könnten. Rund um die Welt bestehen mittlerweile die Sandstrände zu beträchtlichen Teilen aus zermahlenem Plastik.

Die Verkäufer des biologisch nicht abbaubaren Polyethylens fühlen sich dennoch zu Unrecht verfolgt. Die australische Plastikindustrie zum Beispiel beklagt die „Überreaktion“ der Gesetzgeber, gegen Vermüllung würde Erziehung viel besser wirken als Verbote. Die deutsche Kunststoff-Lobby betont, für Tüten werde „jährlich nicht einmal 1 Prozent der gesamten Erdöl- und Erdgasproduktion aufgewendet“. Die Herstellung sei sauber und effizient, das leichte Material könne „in Punkto Beständigkeit, Sicherheit, Hygiene und Umweltfreundlichkeit die strengsten Prüfungen bestehen“. Gerne wird auch eine Studie des Umweltbundesamts von 1988 zitiert, nach der Plastiktaschen „insgesamt weniger Umweltbelastungen verursachen“ als solche aus Papier.

Begleitet vom Slogan „Jute statt Plastik“ hatte es während der Ölkrise der 1970er Jahre schon einmal Tüten-Verbote gegeben, etwa auf Amrum oder in Hannover. Darauf, dass die Bequemlichkeit der Konsumenten die derzeitige Welle der Abneigung ebenso schnell verebben lässt wie damals, wollen sich die Hersteller aber lieber nicht verlassen. Sie suchen nach Alternativen. Der 2005 in Frankreich vorgestellte „Néosac“ kann allerdings noch nicht so recht überzeugen: Diesem Plastik ist Kobalt zugesetzt – die Tüte zersetzt sich zwar schnell, zurück bleibt aber Schwermetallstaub. Ähnliches gilt wohl auch für die im Januar von US-Marktführer Hilex präsentierte Tasche, die bei Kontakt mit Sauerstoff in acht Wochen zerfällt, aber ebenfalls Zusatzstoffe enthält. Die Branche erhofft sich daher viel von neuem Bioplastik, in der Regel aus Mais- oder Kartoffelstärke.

Ein anderer Ansatz wäre, den herkömmlichen Kunststoff künstlerisch aufzuwerten. Die zur Documenta 1972 von Joseph Beuys handsignierten Tüten dürften kaum im Müll gelandet sein. Für Exemplare, die von Roy Lichtenstein oder Andy Warhol gestaltet wurden, zahlen Sammler heute schon mal 5.000 Euro. Und wenn Polyethylen erst einmal im Goldrahmen an der Wand hängt, ist es kein Abfallproblem mehr.


Dose aus dem allerersten Polyethylen, gesehen im Science Museum in London, UK
Medikamentendose aus dem allerersten Polyethylen, gesehen im Science Museum in London, UK


Das Universalmaterial

Der Kunststoff, aus dem seit den 1950er Jahren Tüten fabriziert werden, ist eigentlich eine deutsche Entdeckung: Der Chemiker Hans von Pechmann fand 1899 auf dem Boden eines Reagenzglases zufällig einen wachsartigen Rest. Da sich mit der weichen Masse aber scheinbar nichts anfangen ließ, wurde sie wieder vergessen. Amtlich ist Polyethylen daher erst 75 Jahre alt: Als 1933 Eric Fawcett und Reginald Gibson bei der englischen Firma ICI mit Gasen unter hohem Druck experimentierten, stießen sie – ebenfalls zufällig – auf ein wächsernes Harz. Diesmal wurde die Sache ernster genommen und Polyethylen bald durch Cracken (Erhitzen) von Rohbenzin im industriellen Maßstab produziert, zuerst für die Isolierung von Telefonkabeln. Mit rund 60 Millionen Tonnen jährlich ist PE heute die weltweit meist hergestellte Plastiksorte. Ihre Einsatzmöglichkeiten sind nahezu unbegrenzt: zum Beispiel Müllbeutel, Zahnräder, Milchflaschen, medizinische Implantate, Öltanks, Teichfolien oder ganze Toilettenhäuschen.

Martin Ebner

Link (last update: 28.02.2021):
„Einweg-Plastik kommt nicht in die Tüte!“ ist ein Projekt der Deutschen Umwelthilfe: www.kommtnichtindietuete.de

N.B. (28.02.2021):
French designer Katell Gélébart
upcycles trash into fashion, among other things used plastic bags.


 


Foto: Model pigs in Adelaide, Australia; Ekzemplodonaj porkoj en Adelaide, Aŭstralujo; Vorbildliche Müll-Schweine in Adelaide, Australien

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Texts of timeless beauty. Or at least some historical interest.