About: History of pedestrian precincts
Pri: Historio de urbaj stratoj nur por piedirantoj
Published, Aperis: d’Lëtzebuerger Land, 11.06.2004
Überall auf dem Vormarsch: Fußgängerzonen
Die Abstimmung mit den Füßen findet jeden Tag statt und ihr Ergebnis ist eindeutig: Die Fußgängerzone ist der beliebteste Ort der Stadt. Es gibt kaum noch Stadtverwaltungen, die ihren Bürgern nicht wenigstens ein paar gepflasterte Straßen mit Ruhebänken und Blumenkübeln gönnen. Das jahrzehntelange Ringen um die ersten Absperrungen ist vergessen. Von Rotterdam bis Kassel, von Stuttgart bis Kopenhagen brüsten sich Tourismusbüros mit der „ältesten Fußgängerzone“ Europas, ja der Welt. Nur Essen schläft. Dabei hat Essen, wenn man Studien glauben darf, die der Geograph Rolf Monheim mit Hilfe des Deutschen Städtetags verfasst hat, tatsächlich die allererste Fußgängerzone: Die Limbecker Straße wurde 1929 für Autos gesperrt.
In Köln folgte 1930 die Hohe Straße beim Dom. Weitere Fußgängerzonen wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet. Zuerst sollten sie der autogerechten Stadt dienen: Kurze Abschnitte der Hauptgeschäftsstraßen wurden nach dem Vorbild amerikanischer Stadtrand-Einkaufszentren umgebaut und mit Zufahrten und Parkhäusern versehen. Besucher sollten sie über neue Schnellstraßen erreichen, allenfalls noch mit der U-Bahn. Wer in Fußgängerzonen dieses Modells auf eigenen Beinen gelangen will, muss meist erst mehrspurige City-Ringe überwinden und wird schon zu Lebzeiten unter die Erde verbannt – in gekachelte Unterführungen mit Pissoir-Atmosphäre. Dass die Konzentration der Passanten auf kleine, isolierte „Ghettos“ Bodenpreise und Mieten in die Höhe trieb und der Anlieferverkehr die Nachbarstraßen verpestete, störte die Planer nicht, denn die Menschen sollten ja ohnehin nicht in der Innenstadt, sondern in weit entfernten Schlafsilos wohnen.
So wie sich Staus und Verkehrstote häuften, ließ mit der Zeit die Begeisterung für die Autostadt nach. Urbanisten entdeckten, dass in Los Angeles 60 Prozent der Fläche für Straßen und Parkplätze draufgehen, viermal mehr als in kompakten europäischen Städten. Sie forderten, die Fußgängerzonen stark auszuweiten und zum Ausgangspunkt einer neuen, „menschlichen“ Stadtplanung zu machen. Große, zusammenhängende Fußgängerbereiche, wie zum Beispiel in Kopenhagen, sollen nicht nur Einkäufer locken, sondern auch das Leben in der Altstadt wieder attraktiv machen, Denkmal- und Umweltschutz fördern. Fußgänger-, Fahrrad- und öffentlicher Verkehr sollen einander ergänzen. Von 1970 an nahm die Zahl der „Fußgänger-Paradiese“ stark zu; nach den großen wollten sie auch die kleinen Städte. In Deutschland zum Beispiel waren 1965 erst 35 gezählt worden, 1973 schon 214, und 1990 existierten über 1000 autofreie Bereiche auf immerhin 0,3 Prozent aller innerstädtischen Straßen.
Fast überall wurde die Pedestrianisierung von den Anliegern erbittert bekämpft. Geschäftsleute erkannten nicht sofort, dass auf einem Quadratmeter Fußgängerzone viel mehr Brieftaschen unterwegs sind als auf einer Fahrstraße und dass sich Autoinsassen kaum länger vor Schaufenstern aufhalten. Viele Städte tricksten mit einer Salamitaktik: erst nur kleine Wegstücke versuchsweise sperren, dann größere, dann Parkplätze beseitigen…
Fußgängerbereiche werden von Land zu Land unterschiedlich gestaltet. Während sie im Mittelmeerraum zuweilen von Mosaikkünstlern verziert werden, finden deutsche Verwaltungen Anleitung in den „Richtlinien für Anlagen des Fußgängerverkehrs“, kurz FG BMV Rsch StB 4-38.50.66. Die Bodenbeläge nach EU-Norm 1342 gefallen nicht allen Ästheten. 1973 fand ein Ratgeber: „In der Hand des kundigen Gestalters tragen Betonpflastersteine wesentlich zur besonderen Atmosphäre solcher Anlagen bei.“ Später motzte ein Handbuch: „Monostrukturierte Kunststeine erzeugen eine Art ruhelose Langweile, ebenso wirken graue Betonflächen leicht etwas freudlos.“ Geschmacksache sind auch „Aktivierungselemente“ und „Verfügungsobjekte“. In Nürnberg etwa war das Preisgericht des Fußgängerzonen-Wettbewerbs sehr ungnädig gegenüber pneumatischen Hopskissen und bunten Plastikschläuchen zum Durchkriechen: Eine Stadt sei kein Freizeitpark, die vom Auto befreiten Plätze dürften nicht „wieder unbegehbar“ gemacht werden.
Streitereien über Gestaltungsfragen konnten den Siegeszug der Fußgängerstraßen nicht aufhalten. In den USA sind sie bis heute fast nur in namenlosen Kleinstädten zu finden, umso häufiger aber in Richtung Osten. In Moskau wurde 1987 der alte Arbat autofrei. Ob es eine gute Idee war, mitten in der Hauptstadt der Arbeiterklasse Bummeln, Flanieren und unmotiviertes Balalaika-Klimpern zu erlauben? Kurz darauf war jedenfalls Schluss mit Kommunismus und von Lodz in Polen bis Plovdiv in Bulgarien hatten die Menschen zwei Herzensanliegen: erstens westliche Autos, zweitens westliche Fußgängerzonen.
Vor fünf Jahren erreichte die Welle China. Jede Stadt bemüht sich dort, auch in den neuen Gehstraßen ihren Charakter zu bewahren: Im strengen Peking zum Beispiel zelebriert eine eigene Fußgängerzonen-Garde zackig ihre Wachablösung; im geschäftigen Shanghai türmen sich Werbebotschaften in den Himmel; die kosmopolitische Hafenstadt Dalian leistet sich eine exotische Flaniermeile im russischen Stil.
Vietnam beschloss im vergangenen Jahr, der Globalisierung nicht länger zu widerstehen. Die Einzelhändler im Zentrum von Hanoi laufen zwar noch Sturm gegen das Aussperren von Mopeds und Autos, die Behörden sind aber optimistisch, das alte Denken bald zu überwinden. Vielleicht werben sie demnächst mit der „jüngsten Fußgängerzone der Welt“.
Martin Ebner
Foto: Pedestrian precinct Arbat in Moscow, Russia; Piedirantstrato Arbat en Moskvo, Rusujo; Fußgängerzone Arbat in Moskau, Russland