Pupils in Rosovka, Kazakhstan

Demoskopie: Jeder zählt

About: Public opinion research 
Pri: Opini-sondado
Published, Aperis: Stuttgarter Nachrichten (†), 24.04.2001


Jeder beliebige Zeitgenosse zählt

Demoskopen verwandeln Meinungen in Zahlen und verdienen gut daran

Was verkauft sich immer? Umfragen. Kaum eine Branche boomt wie die Demoskopie. Seit 1988 wuchs sie jährlich um durchschnittlich zehn Prozent. Letztes Jahr erwirtschafteten in Deutschland 251 Markt- und Meinungsforschungs-Institute mit 10 850 festangestellten Mitarbeitern einen Rekordumsatz von 2,7 Milliarden Mark.

Dabei hat diese Art Forschung einmal antikapitalistisch begonnen: Sozialisten befragten im 19. Jahrhundert Proletarier, um ihr Elend beseitigen zu können. Karl Marx etwa entwarf einen Fragebogen für französische Arbeiter. Ein anderer Ursprung der Demoskopie sind staatliche Volkszählungen. Dass die Befragung einer kleinen, repräsentativen Gruppe reicht für Aussagen über ganze Völker, bewies George Gallup in den USA: Zur Präsidentenwahl befragte 1936 eine Zeitschrift zehn Millionen Personen, die in Telefonbüchern verzeichnet waren, und sagte den Sieg des Kandidaten Landon voraus. Gallup dagegen erfasste mit einer Zufallsauswahl von nur 1 000 Personen auch ärmere Leute – und tippte richtig auf einen Sieg von Roosevelt.

In Deutschland wurde die empirische Sozialforschung von den Nazis abgewürgt. Nach dem Krieg unterstützten die Besatzungsmächte die Gründung der ersten deutschen Meinungsforschungsinstitute. Zum Beispiel entstand1947 das „Instituts für Demoskopie“ in Allensbach, das mit Studien für die Bundesregierung rasch bekannt wurde. Prompt befürchteten konservative Wissenschaftler wie Leopold von Wiese das Ende der elitären Parlaments-Demokratie, weil in Umfragen „die Äußerungen jedes beliebigen Zeitgenossen die gleiche Bedeutung haben wie die der wertvolleren Menschen“.

Trotz öffentlicher Einrichtungen wie des Kölner „Zentralarchivs für Empirische Sozialforschung“,  ist Markt- und Meinungsforschung meist privatwirtschaftlich organisiert. Einen Teil ihrer Einnahmen investieren die Institute in die Verfeinerung ihrer Instrumente. Der Marktführer, die Nürnberger „Gesellschaft für Konsumforschung“, gibt pro Jahr rund fünf Prozent des Gesamtertrags von 760 Millionen Mark für neue Methoden und Software aus.

Im Wesentlichen sind die Untersuchungsverfahren aber seit 1914 unverändert: Zunächst wird das Ziel der Studie definiert, dann in Fragen übersetzt. Fragen auszuarbeiten, die sich gegenseitig nicht beeinflussen und wahrheitsgemäß beantwortet werden, ist eine Wissenschaft für sich: Die direkte Frage „Haben Sie etwas gegen Ausländer“ würde kaum brauchbare Antworten ergeben.

Nach Tests werden die Fragen Personen vorgelegt, die aus der „Grundgesamtheit“ (etwa alle Deutschen über 14 Jahre) nach dem Zufallsprinzip oder nach dem Quotenverfahren ausgewählt werden. Beim Quotenverfahren kommen bestimmte Merkmale wie Alter oder Einkommen in Grundgesamtheit und Stichprobe gleich oft vor. Die Sicherheit der Aussage hängt nicht von der relativen, sondern von der absoluten Größe der Stichprobe ab: Ein Befragung von 1000 US-Bürgern ist so genau wie eine von 1000 Lichtensteinern.

Ulmer Passanten
Zufällig ausgewähltes Sample von Fußgängern in Ulm, Deutschland

Die meisten der jährlich rund 15 Millionen Befragungen in Deutschland erfolgen heute telefonisch oder schriftlich, nur noch ein Drittel sind Interviews auf der Straße. Nach der statistischen Auswertung der Daten bekommen die Auftraggeber den Forschungsbericht. Bei EMNID zum Beispiel sind 2000 Interviews innerhalb von zwei Wochen bei einfachen Ja-Nein-Fragen ab 1850 Mark zu haben, bei „offenen Fragen“ ab 2850 Mark. Telefonische Kurzumfragen werden über Nacht geliefert – ihr Wert ist aber umstritten, da geringe Änderungen der Fragen zu anderen Ergebnissen führen können.

Selbst bei seriösen Instituten scheint geschlampt zu werden. Heiner Dorrach, der jahrelang Interviewer war, zeigt im „Meinungsmacher-Report“, wie Umfrager ihre miserable Bezahlung und die häufigen Auskunftsverweigerungen ausgleichen, indem sie die „immer umfangreicheren Fragebögen auf wenige Kernfragen“ reduzieren und „den Rest zu Hause am Schreibtisch ausfüllen“. Daher würden die Zahlen „eine Exaktheit vorgaukeln, die es nicht gibt“ und allenfalls Trends anzeigen, „der Rest ist Schwindel“.

Umstritten ist aber weniger die Genauigkeit der Umfrageergebnisse als ihre Wirkung, vor allem der Wahlforschung. Der Vorwurf, dass Politiker nur noch Sklaven oberflächlicher Umfragen seien, ist jedoch schwer zu erhärten: Wichtige Entscheidungen wie die Einführung der Marktwirtschaft oder der NATO-Beitritt sind gegen die Mehrheitsmeinung durchgesetzt worden. Allerdings nutzte schon Adenauer Umfragen, um seine Politik auf das aktuelle Meinungsklima abzustimmen.

Die Demoskopen lassen sich von Kritik ohnehin nicht aufhalten. Da die Zahl der Wechselwähler zunimmt, neue Technologien und Deregulierung die Märkte umkrempeln, weil also die Welt immer unübersichtlicher wird, erwarten sie weitere Umsatzsteigerungen. An der Universität Konstanz wird gerade der erste deutsche Lehrstuhl für Demoskopie eingerichtet.

Martin Ebner

Links (last update: 01.12.2014):


 


Foto: Pupils, counted in an elementary school in Rosowka, Kazakhstan. Lernantoj en Rosowka, Kazaĥujo. Schulkinder, gezählt in Rosowka, Kasachstan

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