Architekturmodell in der Ausstellung "Together!" im Vitra Design Museum

Näher zu den Nachbarn: kollektives Wohnen

About: „Together! The New Architecture of the Collective“, an exhibition of the Vitra Design Museum
Pri: Ekspozicio de Vitra muzeo en Weil am Rhein, Germanio, pri komuna loĝado
Published, Aperis: d’Lëtzebuerger Land, 04.08.2017


Das Vitra Design Museum engagiert sich für gemeinschaftliches Wohnen

Sympathien für Hausbesetzer und Heimwerker sind von einem Unternehmen, das Plastik-Hocker und Papier-Leuchten für mehr als 1.000 Euro verkauft, nicht unbedingt zu erwarten. In den Metropolen explodieren aber die Immobilienpreise, gegen die Zersiedelung müsste einmal etwas getan werden, auch ist „share economy“ gerade sehr angesagt – und so widmet sich das Vitra Design Museum in diesem Sommer einer „stillen Revolution in der zeitgenössischen Architektur“: dem Bauen und Wohnen im Kollektiv.

Die von der IKEA-Stiftung geförderte Ausstellung hat vier Teile. Im Saal „Utopie jetzt“ geht es um die Geschichte des gemeinschaftlichen Hausens seit 1800: von den Phalanstère-Siedlungen des Sozialisten Charles Fourier und der Gartenstadt-Bewegung über den ersten Kibbuz und Le Corbusiers Wohnmaschinen bis zu neueren Kommunen. Zeitweise wollte auch das Bürgertum nicht in einer Villa im Grünen vereinsamen, sondern zog lieber samt Personal in Apartment-Hotels wie das Ansonia in New York oder das Kollektivhuset in Stockholm. Die einzelnen Beispiele werden jeweils nur sehr kurz vorgestellt. Daher ist nicht zu erfahren, warum etwa Robert Owens Projekt New Harmony (Indiana 1825) als „gescheitert“ gilt oder was aus dem partizipativen Studentenwohnheim Mémé (Leuven 1970) geworden ist.

Mehr Informationen bieten daneben Dokumentarfilme. Sie begleiten zum Beispiel den Guerilla-Architekten Santiago Cirugeda, der in Spanien nach neuen Verwendungen für die Hunderttausenden Bauruinen sucht. Hasch-Händler im dänischen Christiania werden besucht, der Barbican-Komplex in London oder auch junge Thais, die sich in einem Parkhaus einrichten. Bilder aus heruntergekommenen Avantgarde-Bauten in Moskau, einst als Brutstätten neuer sozialistischer Menschen geplant, könnten zu dem Schluss verleiten, dass Gemeinschaftsräume in Russland ebenso versiffen und verslumen wie in französischen Banlieus oder sonst wo. Das wäre allerdings kaum im Sinne der Ausstellungsmacher, die „neue Formen des Zusammenlebens“ anregen wollen.

Im Saal „Die Stadt als öffentliches Wohnzimmer“ sind große Schnittmodelle von 21 Wohnprojekten, die in den letzten Jahren in acht verschiedenen Ländern realisiert wurden, zu einem fiktiven neuen Stadtviertel zusammengestellt. Das Schwimmbad auf dem Dach des Wiener Poolhauses, das Kino der Zürcher Wohngenossenschaft Kalkbreite, das Café der Vrijburcht in Amsterdam sind allgemein zugänglich – privat und öffentlich verfließen. Auf den Straßen sind nur wenige Autos zu sehen, denn in der lichten Zukunft werden nicht nur Waschküchen und Solardächer, sondern auch Fahrzeuge geteilt. Nicht vorgesehen sind Vandalismus, Müll, Lärm oder marodierende Jugendgangs, die Treppenhäuser belagern. Wer wollte in gated communities ziehen, wenn doch alle Menschen so nett & offen sind?

„Kollektive Privatheit“ ist der dritte Saal. In dem begehbaren 1:1-Modell einer modernen Wohngemeinschaft drohen keine ausgehängten Klo-Türen oder andere bewusstseinserweiternde Experimente. Vielmehr sind in der „Clusterwohnung“ um große Gemeinschaftsräume kleine Ein- bis Zwei-Zimmer-Apartments gruppiert, jeweils mit eigener Kochnische und Bad. „Hartz-IV-Möbel“ von Van Bo Le-Mentzel werden mit eher hochpreisigen Siedle-Türsprechanlagen kombiniert. Aus früheren WG-Erfahrungen habe man gelernt, sagt Andreas Ruby, der Direktor des Schweizer Architekturmuseums und einer der vier Kuratoren der Ausstellung. Was im Vergleich zu konventionellen Wohnungen an Miete eingespart werde, erlaube den Bewohnern, gemeinsam eine Putzfrau anzuheuern, das vermeide Streit. Ansonsten hält Ruby das Verlangen nach Privatsphäre für einen „modernen Mythos“.

Zum Schluss ist der Saal „So geht gemeinsam“ als coworking space eingerichtet. An großen Schreibtischen kann man sich hier detailliert über Planung, Finanzierung, Bau und Erfahrungen von fünf kollektiven Wohnprojekten informieren, das heißt der Sargfabrik in Wien, Zwicky-Süd in Zürich, R50 in Berlin, La Borda in Barcelona und einem Wohnhaus mit kleinem Restaurant in Tokyo. Offen bleibt nur die Frage, wie und wo sich verträgliche Nachbarn auftreiben lassen.

Die Architektur-Entwürfe, die Schauwohnung, die WG-Fotos von Daniel Burchard: das sieht alles recht adrett und progressiv aus. Trotzdem wollen nicht alle Besucher vom alten Denken lassen. Manche Eigenbrötler beäugen skeptisch das Modell des Wohnheims VinziRast, das in Wien Studenten und Obdachlose beherbergt: Ob das denn funktioniere? Am einfachsten kann den beiden Chinesinnen geholfen werden, die etwas ratlos vor Bildern von Berliner Hausbesetzern stehen: Sie waren eigentlich zum Design-Shopping gekommen und haben sich auf dem Vitra-Gelände bloß im Gebäude geirrt.

Martin Ebner

Die Ausstellung „Together! Die Neue Architektur der Gemeinschaft“ war bis 10. September 2017 im Vitra Design Museum in Weil am Rhein zu sehen. Den Katalog (deutsch oder englisch, 352 Seiten) haben Mateo Kries und die Kuratoren herausgegeben: www.design-museum.de

Modell in der Ausstellung "Together" im Vitra Design Museum
Die Stadt als öffentliches Wohnzimmer

N.B. (03.08.2020):

Das Schnabeltier, das Schnabeltier
vollzieht den Schritt vom Ich zum Wir.
Es spricht nicht mehr nur noch von sich,
es sagt nicht mehr: „Dies Bier will ich!“
Es sagt: „Dies Bier,
das wollen Wir!“
Wir wollen es, das Schnabeltier!

Robert Gernhardt, 1966

 

N.B. (25.11.2020): Ein Fundstück aus Indien:
„Hier leben Gemeinschaften aus verschiedenen Kulturen. Eigentlich sollten Wohnblocks für sie gebaut werden, mit gemeinsam genutzten Flächen dazwischen. Aber das hätte zu Problemen geführt, weil die Bewohner sich die Flächen gegenseitig streitig gemacht hätten. Die Muslime hätten dort Tiere schlachten wollen, was für die Brahmanen, die den Raum für Gebet und Andacht hätten nutzen wollen, ein Affront gewesen wäre. Es wäre unweigerlich zu Zusammenstößen gekommen.
Die Bewohner wollten Einzelhäuser und lehnten den Plan der Behörden ab. Die Stadtverwaltung erklärte, der Entwurf stamme von einem skandinavischen Architekten und könnte nicht mehr geändert werden. (…) Sie protestierten. Sie gingen vor Gericht, sie wandten sich an die Medien, sie demonstrierten. Am Ende zwangen sie die Stadtverwaltung, den Plan aufzugeben. Man erstellte einen neuen Plan mit Reihenhäusern, vergab Parzellen und überließ die Bewohner sich selbst.“
aus: „Delhi. Im Rausch des Geldes“ von Rana Dasgupta,
deutsch 2014



Foto: Architectural model in the exhibition „Together!“ in the Vitra Design Museum. Arkitektura Modelo en la Vitra muzeo. Architekturmodell in der Ausstellung „Together!“ im Vitra Design Museum, Weil am Rhein, Deutschland.


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