House of Soviets in Kaliningrad, Russia

Russland: Kein Heimweh nach Kaliningrad?

About: Report about Kaliningrad (before World War II a part of Germany known as Königsberg – therefore visited by nostalgic Prussians)
Pri: Reportaĵo pri la rusa regiono Kaliningrado (antaŭ la dua mondmilito germana urbo Königsberg)
Published, Aperis: Kommune (†), 02/1998


Junge Russen sammeln preußische Reliquien, Veteranen befürchten eine „Germanisierung“ – das deutsche Interesse für das ehemalige Königsberg aber läßt nach

Wie ein Raumschiff schwebt der Reisebus über die Schlaglöcher. Angestrengt starren die grauhaarigen Insassen durch die getönten Scheiben – das große Kosmonauten-Denkmal aber bemerken sie nicht einmal. Sie fahren durch Kaliningrad, aber sie sehen Königsberg: die „Hufenallee“, nicht den „Prospekt Mira“, auch kein „Puppentheater“, sondern die „Königin-Luisen-Gedächniskirche“. Seit der Öffnung von 1991, seit der russische Teil des ehemaligen Ostpreußen nicht mehr als militärisches Sperrgebiet abgeriegelt wird, ziehen bejahrte Deutsche so durch die Stadt. „Guck mal, Hermann, wie dreckig hier alles ist!“ muffelt es aus dem Bus. „Das darf doch nicht wahr sein!“

Die meisten Heimweh-Touristen sind tief enttäuscht, jedenfalls kommen sie kein zweites Mal. 1993 wurden in Kaliningrad über 100.000 deutsche Gäste gezählt. Schon warnten Leserbriefe wie „Die Meinung eines Veteranen“ vor einer „Germanisierung“. Zu früh! Obwohl Übernachten kein Problem mehr ist und die russischen Reiseleiter brav die alten deutschen Straßennamen verwenden, kamen 1996 nur noch 20.000 Germanen. Dieses Jahr werden noch 10.000 erwartet.

So sind es vor allem Einheimische, die sich am Kiosk die deutsch-russische Broschüre „Die Seiten der Vergangenheit“ kaufen. Der darin vorgeschlagene Stadtrundgang auf altpreußischen Spuren beginnt am Zentralplatz. Dort zu sehen: ein kaputter Springbrunnen und Waschbetonplatten. Sie bedecken die Anhöhe über dem Fluß Pregel, wo 1255 der Deutsche Orden eine erste Burg baute und später das Schloß der preußischen Könige stand.

Was davon den Zweiten Weltkrieg überlebt hatte, wurde Ende der 60er Jahre gesprengt. Kaliningrader Intellektuelle protestierten zwar, aber Breschnew wollte das „Symbol des preußischen Militarismus und Revanchismus“ nicht mehr sehen. Die Schloßgewölbe und Reste der Weinstube „Blutgericht“ wurden nun bei Ausgrabungen wiedergefunden und sollen irgendwann einmal als Museum in das danebenstehende Einkaufszentrum integriert werden.

Darüber erhebt sich wuchtig das „Haus der Sowjets“. Hier hätte die KPdSU einziehen sollen. Der das Stadtbild beherrschende Betonturm ist jedoch völlig unbrauchbar, er steht mit Rissen in den Wänden auf dem unzureichend befestigten alten Burggraben. „Kaliningrad – Stadt des Kriegs- und Arbeitsruhms des Sowjetvolkes. Ruhm dem Sowjetvolk!“ schreit eine Losung auf den Wohnsilos dahinter. Was aber mit der riesigen Bauruine im Zentrum geschehen soll, weiß auch das Sowjetvolk nicht. Das letzte Gerücht: Panama soll 70% des Ungetüms gekauft haben.

Fast noch im Schatten des verunglückten Sowjethauses erholen sich Angler auf einer Insel im Pregel, spazieren Rentner durch den Park. An dieser Stelle war einmal der dicht bebaute Kneiphof, das schönste der Königsberger Stadtviertel. Nicht eines der mittelalterlichen Patrizierhäuser ließen die britischen Luftangriffe vom August 1944 übrig. Nur die Ruinen des gotischen Doms wurden nach dem Krieg nicht abgeräumt – weil an seiner Wand der als „Vorläufer des Marxismus“ angesehene Philosoph Immanuel Kant begraben liegt.

Mit deutsche Hilfe wird der Dom seit 1992 wieder aufgebaut. Vier Glocken aus Fulda klingen schon wieder. Die neue Turmuhr wird von Braunschweig aus funkgesteuert. Sie zeigt nicht mehr die Moskauer Zeit, von der sich Kaliningrad abgekoppelt hat, auch nicht die deutsche, sondern – genau eine Stunde dazwischen – die Osteuropäische Zeit.

Am südlichen Pregelufer hat sich die Börse, einst ein Zentrum des Getreidehandels, erhalten – als „Kulturhaus der Seeleute“. Junker gibt es hier schon lange nicht mehr, Getreide auch nicht. Die Felder um die Stadt sind versteppt. Von litauischer Milch bis zu holländischen Schokoriegeln werden so gut wie alle Lebensmittel importiert. Entsprechend hoch sind die Preise. Dafür aber sehen die Läden aus wie in Westeuropa.

Der Leninprospekt, die auf einer Hochbrücke über die Pregelinsel geführte Hauptachse der Stadt, wird langsam wieder zu dem, was an dieser Stelle der Steindamm war: zur Einkaufsmeile. Ein Ladenschlußgesetz würde hier für eine bösartige kommunistische Erfindung gehalten werden: Manche der Supermärkte zwischen „Restaurant Valencia“ und „Italy Bar“ sind immer geöffnet. Wer unbedingt will, kann am Sonntag nachts um 3 Uhr Geld wechseln – oder eine Waschmaschine kaufen.

Was würde Michail Kalinin zu so viel Dekadenz sagen? 13 Meter hoch steht sein Denkmal am Südende des Leninprospekts, gegenüber des 1929 erbauten und seither kaum veränderten Hauptbahnhofs. Kalinin war nie hier. Zum Namensgeber der Stadt wurde der Stalin-Genosse nur, weil er zufällig 1946 starb und sich da gerade das frisch eroberte „Kenigsberg“ zur Umbenennung anbot.

Bis heute steht Kalinin unangetastet auf seinem Sockel. Wie alle anderen kommunistischen Säulenheiligen wurde er bloß rechtlich degradiert – zum Denkmal nur noch „lokaler Bedeutung“. Dieses Schicksal traf auch den großen Bronze-Lenin auf der Betonwüste des Siegesplatzes (früher: Adolf-Hitler-, noch früher: Hansaplatz).

An der Architektur rund um dieses Aufmarschgelände sind die Sowjets übrigens völlig unschuldig: Das Rathaus wurde schon in den 20ern verbrochen, das monumentale Seemannsheim ist das alte Gebäude des Nordbahnhofs und die Fachhochschule war 1933 als Landgericht eröffnet worden. Am nettesten sieht ausgerechnet das frisch renovierte KGB-Haus aus, zu deutscher Zeit war es Polizeipräsidium gewesen.

Richtig russisch sind dagegen im Stadtzentrum die weiß-blau-roten Trikoloren, die Plakate der „Russischen Nationalen Einheit“, die mit Hakenkreuz und Schwertern „Rußland über alles!“ fordern, und – im Park hinter Lenins Rücken – eine kleine Holzkirche, wo ein bärtiger Mönch die im Freien aufgehängten Glocken läutet.

Das orthodoxe Kirchlein ist nur ein Provisorium. Für rund 110 Millionen DM soll es durch die neue Christi-Erlöser-Kathedrale ersetzt werden, 50m hoch und wie das Moskauer Vorbild mit fünf goldenen Kuppeln. Diesen Mai, zum Jahrestag des Sieges über Deutschland war der Grundstein gelegt worden, wobei feierliche Reden erklärten: Kaliningrad gehöre ewig zu Rußland.

Die Bewohner der Plattenbauten daneben dürften vorerst andere Sorgen haben. Immerhin müssen sie ihre Häuser nicht sehen: Die breiten Straßen sind dicht mit Bäumen bepflanzt. Tagsüber ist die Innenstadt ein angenehmer Park, nachts ein dunkler Dschungel – bei Regen ein Sumpf, in dem die Fußgänger von einer Asphaltinsel zur nächsten schlittern, bedroht von der Tram.

Die Straßenbahn fährt auf der Trasse von 1895 – für die moderne 430.000-Einwohner-Stadt herzlich unpraktisch. Geradezu lebensgefährlich ist sie für die Kondukteure: In der einen Hand ein dickes Paket Rubelscheine, in der anderen die Fahrscheine à 800 Rubel (25 Pfennig) , müssen sie sich durch die wenig kooperative Fahrgastmasse drücken.

Auch bei der Fahrt durch die Wohnviertel finden sich preußische Reste. Manche Neubauten wurden einfach um Ruinen herumgebaut, die nun samt ihren Fraktur-Aufschriften zerfallen. Besser gepflegt wird ein Keller gegenüber der Universität: Der „Bunker der faschistischen Garnison“ ist jetzt ein Museum. Raum Nr. 13 sieht noch genauso aus wie am 9. April 1945, als hier General Lasch kapitulierte. In den Monaten davor hatte die Wehrmacht noch Tausende Flüchtlinge nach Westen gebracht, z.B. mit dem Kriegsschiff „Mars“, das heute als „Vitjaz“ im Pregel liegt. Aber auch tonnenweise Kunstschätze und das Preußische Staatsarchiv waren vor der Roten Armee evakuiert worden.

Im „Museum für Kunst und Geschichte“, das 1991 in der wieder aufgebauten Stadthalle eröffnet wurde, ist deshalb von den 700 Jahren Königsberg nicht viel zu sehen – dafür aber Leninbüsten, Lebensmittelkarten und andere sowjetische Souvenirs. Die Ermordung und Deportation der letzten Königsberger wird nur nebenbei erwähnt (von den 370.000 Ureinwohnern vegetierten 1945 noch rund ein Drittel in der Stadt). In einem eigenen Raum darf das Haus Schwermer, Erfinder des Königsberger Marzipans und heute in Bad Wörishofen ansässig, Schokoladeneier ausstellen.

In einem kleinen Privatmuseum dagegen könnten Besucher über original Königsberger Kopfsteinpflaster spazieren – wenn welche kämen. „Ende diesen Jahres müssen wir wahrscheinlich zusperren“, resigniert Anatoli Bogdantschikow. „Das Museum hat von den deutschen Touristen gelebt.“ Gearbeitet haben Bogdantschikow und seine Freunde ohnehin ehrenamtlich. „Wer sich früher zu auffällig für das deutsche Erbe interessierte, bekam Ärger mit dem KGB“, erinnert sich der Hobby-Historiker. „Aber als wir uns 1990 in den Kopf setzten, wenigsten eines der im Festungsgürtel noch erhaltenen Stadttore zu restaurieren, bekamen wir sofort die Genehmigung.“

Ihre Wahl fiel auf das 1864 erbaute Friedländer Tor, das später zugemauert und als Bunker genutzt worden war. „In unserer Freizeit haben wir hier 20 LKW Müll weggekarrt“, berichtet Bogdantschikow stolz. Gefüllt wurde das Museum mit Fundsachen aus dem Torgraben: verrostete Gewehre, „Nr. 4 Hansaring“ und andere Tramschilder, Emailreklame für „Miele“. Jugendliche brachten aus der ganzen Stadt weitere Reliquien daher: Flaschen, Münzen, großdeutsche Zeitungen, ja sogar eine Schüssel des legendären „Blutgerichts“.

Ein Brauereischild an der Museumswand kann erklären, wieso heute das Kaliningrader Bier, erfolgreicher Gegner des russischen Kwas´, „OCTMAPK“ heißt: „Ostmark“ nannte es sich bis 1945 – und vielleicht bald wieder, denn ein „Gesetz zum Schutz der russischen Sprache“ wurde vom Gericht aufgehoben.

Deutsche Aufschriften sind allgegenwärtig. Dafür sorgen viele Westautos, aber auch die Straßenbahnen und Busse, die vor zwei Jahren in Deutschland gekauft wurden. Wo deutsch „Rettungswagen“ zu lesen ist, sind tatsächlich Sanitäter drin, und die Uniformierten im grün-weißen VW-Bus können sehr ungemütlich werden.

Eher sowjetisch ist das Straßenbild am Stadtrand, wo sich eine Fahrbahnseite der halb zerstörten Reichsautobahnbrücke bizarr in den Himmel streckt. Verkehrspolizei kontrolliert – mit Schußweste, MP im Anschlag. Dabei ist Kaliningrad sicherer als das russische Mutterland: Gangster kommen nirgends weiter als 150km, schon stoppt die polnische oder litauische Grenze. Nur gute Beziehungen helfen darüber hinweg. Neulich wurde eine Militär-Iljuschin beschlagnahmt, die nach Sibirien abheben wollte. Im Flugzeug: sechs in Österreich gestohlene Luxusautos und ein hoher General.

Wenn’s geklappt hätte, wäre der Autohändler vielleicht in eine alte Stadtvilla umgezogen. Nördlich des Zentrums stehen noch viele der preußischen Nobel-Häuser. Heute reißen sich die Neureichen darum. In einer dieser Villen hat sich im letzten Juli die Essener „Stiftung Königsberg“ einquartiert. Sie will hier eine Ostpreußen-Bibliothek aufbauen, Kaliningrader Künstler und Wissenschaftler mit westeuropäischen Kollegen zusammenbringen und außerdem den rund 10 alten Königsbergern, die trotz allem bis heute in der Stadt verblieben sind, helfen. Wie die meisten russischen Pensionisten sind auch sie nicht gut betucht, außerdem werden sie von den deutschen Medien heimgesucht, von „Bild“ bis zum NDR waren schon alle da.

In Zukunft will sich die Leiterin des Stiftungsbüros, die 25jährige Lilian Mayerhoff, besonders dem Jugendaustausch widmen. Ein erster Erfolg: im September kam die Hamburger Band „Fallsucht“ zu einem Besuch, den Kaliningrader Hardrocker erwidern werden. Gegen die guten Kontakte zu den Kaliningradern haben bisher noch keine Königsberg-heim-ins-Reich-Preußen protestiert, sagt Frau Mayerhoff: „Die Leute, die in Deutschland große Sprüche klopfen, kommen nie hierher. Von der Realität haben die keine Ahnung. Deutschland könnte Kaliningrad nicht einmal geschenkt verkraften, so marode ist hier alles.“

Immerhin konnten in den letzten Jahren rund 40.000 Rußlanddeutsche im Gebiet Kaliningrad angesiedelt und so vorerst von Deutschland ferngehalten werden. Für sie ist das 1993 vom Bonner Aussiedlerbeauftragten eingeweihte „Deutsch-Russische Haus“ gedacht – obwohl Direktor Friedemann Höcker betont, daß das Haus dem ganzen Kaliningrader Völkergemisch mit seinen über 40 Nationalitäten offen steht. Die 35 parallel laufenden Deutschkurse, die das Deutsch-Russische Haus anbietet, werden heftig nachgefragt, ebenso die Computerkurse, Diskussions- und Folkloreveranstaltungen.

Nachrichtenquelle für diese deutschen Initiativen ist der „Königsberger Express“ – neben dem polnischen „Playboy“ die einzige nichtrussische Zeitschrift im Verkauf. Chefredakteurin Elena Lebedewa arbeitet seit 1993 mit zwei russischen Kollegen und einer deutschen Helferin im Hochhaus der „Kaliningradskaja Prawda“, im angemieteten Raum der ehemaligen „Propaganda-Abteilung“. Die Auflage von 10.000 Stück wird v.a. in Deutschland verkauft. „Von unseren Lesern sind über 70% gebürtige Ostpreußen“, ist sich Redakteur Alexej Schabunin sicher.

Auf spendable Leser hoffen die Hilfsorganisationen, die im „Express“ inserieren. Nicht nur alte Ostpreußen sind großzügig. Eberhard Blum von der Frankfurter Funkrettungswacht z.B. renoviert seit ein paar Jahren das „Kinderkrankenhaus Nr. 1“ – eine Art Buße für Jugendsünden: „Als Student habe ich viele Bücher über das ‚vorbildliche sowjetische Gesundheitswesen‘ gelesen…“

Bei der Stadtverwaltung ist Ludmila Leonidowa für die „humanitäre Hilfe“ zuständig. „Natürlich ist es uns peinlich, betteln zu gehen“, räumt sie ein, „aber was sollen wir denn tun?“ Zwar werden auch die „Neuen Russen“ zum Spenden bekniet, aber ohne ausländische Hilfe würde es Kindern, Greisen und Kranken in Kaliningrad noch viel schlechter gehen.

Mit Material des deutschen Zivilschutzes konnte z.B. eine Station für die immer zahlreicheren Aids-Kranken eingerichtet werden, die Partnerstadt Kiel schickte Möbel für Altersheime, Duisburg hilft ebenso wie das bayrische Rote Kreuz. „Vielen Dank!“ läßt Frau Leonidowa ausrichten, möchte aber auch bemerken, daß ein paar Gönner „völlig verdreckte und unbrauchbare Sachen“ geschickt haben. „Momentan suchen wir v.a. für Kinderheime Schuhe und Vitamine (z.B. Fruchtsäfte), für Krankenhäuser technische Einrichtungen und Reinigungsmittel.“

Im ersten Halbjahr 1997 erhielt Kaliningrad insgesamt 513 Tonnen Hilfsgüter. „Vor ein paar Jahren haben wir mehr bekommen, aber da war die Grenze noch offener. Jetzt müssen Transporte im Wert von über 10.000 ECU in Moskau abgefertigt werden – da komme ich dann einen Monat nicht zum Schlafen“, stöhnt Ludmila Leonidowa. „Die Heilsarmee hat sich schon beschwert: ‚Wir kommen leichter nach Afrika!'“

Über bürokratische Schikanen klagen auch die „westlichen“ Kirchen, die keineswegs nur missionieren. Da die noch erhaltenen Kirchengebäude teils zweckentfremdet, teils von der orthodoxen Kirche in Beschlag genommen sind, bauen sich Protestanten und Katholiken neue Gotteshäuser. Die evangelische Gemeinde versammelt sich noch jeden Sonntag im Kino „Pobeda“. Eine der beiden katholischen Gemeinden ist schon fertig: Sie hat eine Fertigteil-Kirche aus Deutschland, daneben ein Container-Gemeindezentrum und eine Suppenküche der Malteser, die jeden Tag 150 Bedürftige versorgt.

Am meisten wäre Kaliningrad mit einem Wirtschaftsaufschwung geholfen. Der größte Arbeitgeber ist aber, trotz der Verringerung der Baltischen Flotte um ein Drittel, immer noch das Militär. Den schätzungsweise 40.000 bis 200.000 Menschen, die von ihm abhängen, kann es nicht viel mehr bieten als fesche Uniformen, Orden und zahllose Kriegerdenkmäler.

Die großen „zivilen“ Betriebe stehen mehr oder weniger still. Die Industrieproduktion erreicht ein Drittel des Niveaus von 1990. Als im Sommer nach elf Jahren wieder einmal ein Kriegsschiff vom Stapel lief, sollen die Werftarbeiter Tränen in den Augen gehabt haben. Bei den Jugendlichen beträgt die Arbeitslosenrate 40%, hat der Soziologe Sergej Zypljonkow herausgefunden. Er spricht von „sozial-psychischem Stress“: Nur 15% der Kaliningrader kämen gut mit der neuen Zeit zurecht – und würden dabei so reich, daß „sie buchstäblich von der Gesellschaft abheben“. Die Masse verelendet – theoretisch ist sie schon tot, muß sie doch, jedenfalls nach offiziellen Statistiken, mit weniger als dem Existenzminimum von rund 100 DM pro Monat auskommen.

Eigentlich hätte Kaliningrad ja eine „Freihandelszone“, ein „Hong Kong an der Ostsee“ werden sollen. Aber dann unterzeichnete Jelzin „irrtümlich“ ein Dekret, das alle Steuererleichterungen beseitigte. Seit 1996 ist Kaliningrad wieder „Sonderwirtschaftszone“. Immerhin sorgte die Zollbefreiung dafür, daß die Inflation mit 10% nur halb so groß ist wie im übrigen Rußland. Große Auslands-Investoren aber konnten bisher von den örtlichen Politikern (Kommunisten und Schirinowskis LDPR haben die letzten Wahlen gewonnen) erfolgreich abgeschreckt werden. Nur KIA errichtete ein Werk: Die Südkoreaner wollen jährlich 50.000 Autos vom Band lassen.

Von Konzernen aus Deutschland ist nichts zu sehen. 247 kleinere deutsche Firmen haben sich registrieren lassen. „Wirklich aktiv sind aber nur 50 davon“, sagt Natalia Garkun, von der Handelskammer Hamburg, die in Kaliningrad die deutsche Wirtschaft vertritt. Dabei gebe es „gute Gründe“, in sowjetisch Preußen aktiv zu werden, meint Stephan Stein, der Leiter der HK-Vertretung: Der eisfreie Hafen Kaliningrad, von Hamburg lediglich ebenso weit entfernt wie Österreich, sei das „Tor zu Rußland“, auch zum „boomenden Moskau“. Es gebe einen hohen Bedarf an ausländischem Know-How und Kapital. „Viele Arbeitskräfte, im Militärbereich oft disziplinierter und besser ausgebildet als anderswo, stehen zur Verfügung“ – wobei die Löhne mit 150 bis 300 DM niedriger sind als in den Nachbarstaaten.

Die rund 30 Geschäftsleute jedoch, die sich einmal im Monat zum „Deutschen Wirtschaftskreis“ treffen, „schimpfen ziemlich viel“, wie ein Teilnehmer sagt. Frustriert tauschen sie die neusten Geschichten und Gerüchte aus. Da ist z.B. der Bäcker, der mit deutscher Hilfe seinen Betrieb aufbaute – und jetzt für jedes einzelne Produkt eine 600 DM teure Genehmigung besorgen soll. „Zum verrückt werden!“ Und dann war da noch die russische Firma, die sich verkalkuliert hatte – und dann kurzerhand eine Verordnung bewirkte, die über Nacht allen Konkurrenten den Getreideimport verbot.

Die Rechtsunsicherheit dämpft den deutschen „Drang nach Osten“. Die Rußländer dagegen zieht es nach Westen. Die Außenstelle des deutschen Konsulats im Kaliningrader Rathaus stellt pro Arbeitstag 58 Visa aus. Die Wartefrist: zur Zeit vier Monate. Wer den Papierkrieg überstanden hat, kann einen Überlandbus der Privatfirma „KönigAuto“ nehmen – oder die Bahn.

Seit 1991 fahren von Kaliningrad Hauptbahnhof nicht mehr nur Züge nach Moskau, Charkow und Tscheljabinsk – Bahnsteig Nr. 6 ist auch wieder an das europäische Normalspurnetz angeschlossen. Eröffnet wurde der von der Deutschen Bahn, Krupp und anderen Sponsoren finanzierte Schienenweg mit einem wöchentlichen Schlafwagenzug des Schwarzwälder Reisebüros „Mochel“.

Mittlerweile verläßt jeden Abend ein polnischer Zug mit Kurswagen nach Berlin die große Bahnsteighalle. Die meisten Passagiere, oft im gleichen Alter wie die ostpreußischen Heimwehtouristen, kommen nicht bis Deutschland, sondern nur bis zur polnischen Grenze. „Ich war 12 Jahre lang Matrose. Jetzt bin ich arbeitslos und ernähre meine Familie mit Handeln“, erklärt einer seine Fahrt. „In diesem Zug sind wir schon ein richtiges Kollektiv. Wir treffen uns alle paar Tage.“

Vor der Grenze nimmt der Leibesumfang der Passagiere sehr zu: Sie wickeln sich mit Zigaretten ausgestopfte Strumpfhosen um den Bauch. Die polnischen Zöllner kontrollieren mit strengem Gesicht, energisch klopfen sie den Zug ab – zielsicher dort, wo weder Wodka, noch sonst etwas versteckt ist. Auch die Grenzpolizei spielt mit. „Wir müssen alle von irgendwas leben“, murmelt der russische Seemann, „was sollen wir denn sonst tun?“

Martin Ebner

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Ruins of Reichsautobahn near Kaliningrad, Russia
Ruins of Hitler’s Reichsautobahn near Kaliningrad, Russia (in German times: Koenigsberg, Prussia)

Und falls das grad auch noch interessiert:

About: Problems of a museum in Kaliningrad, Russia. The museum is collecting objects from Prussian Königsberg.
Pri: Problemoj de muzeo en Kaliningrad, Rusujo. La muzeo kolektas vestiĝiojn de prusa urbo Königsberg.
Published, Aperis: Ostpreußenblatt, 22.11.1997

Königsberg verschwindet zum zweiten Mal

Das Kaliningrader „Kulturzentrum Friedländer Tor“ ist von der Schließung bedroht. Was aus der Sammlung preußischer Reliquien wird, ist ungewiß.

Von der 700jährigen Geschichte der ehemaligen Hansestadt Königsberg ist im heutigen Kaliningrad nicht mehr viel zu sehen – schon gar nicht in den Erinnerungsstätten der offiziellen Geschichtsverwalter: Rote Fahnen, Leninbüsten, Lebensmittelkarten und andere sowjetische Souvenirs füllen die Ausstellungsräume im Kaliningrader „Museum für Kunst und Geschichte“, das 1991 in der wieder aufgebauten Stadthalle eröffnet wurde.  Nicht weit davon, in einem kleinen Privatmuseum dagegen könnten Besucher über ein paar Meter original Königsberger Kopfsteinpflaster spazieren – wenn welche kämen. „Ende diesen Jahres müssen wir wahrscheinlich zusperren“, resigniert „Museumsdirektor“ Anatoli Bogdantschikow. „Das Museum hat von den deutschen Touristen gelebt. An manchen Tagen hatten wir gleich mehrere Reisebusse vor der Tür stehen.“

Der Einbruch des Kaliningrader Tourismus – von über 100.000 deutschen Gästen im Jahr 1993 auf nur noch rund 10.000 in diesem Jahr – trifft eine Bürgerinitiative, die sich für die wenigen erhaltenen Relikte aus Königsbergs deutscher Zeit begeistert. „Wir haben 1990 angefangen. Damals haben wir uns in den Kopf gesetzt, wenigstens eines der im Festungsgürtel noch erhaltenen Stadttore zu restaurieren“, erinnert sich der  1954 in Kaliningrad geborene Hobby-Historiker Bogdantschikow. „Die Genehmigung dazu bekamen wir sofort. Es war schon nicht mehr so wie früher, als jeder, der sich zu auffällig für die deutsche Erbe interessierte, gleich Ärger mit dem KGB bekam.“

Bogdantschikow und seine Freunde wählten das im neugothischen Stil errichtete Friedländer Tor. Es war 1864 an der Stelle erbaut worden, wo im Jahr 1807 russische Truppen in die Stadt einzogen, nachdem sie bei Friedland gegen Napoleon gekämpft hatten. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Friedländer Tor zugemauert und als Bunker genutzt – weshalb sich hier ein kurzes Stück alter Straße erhalten hat. Bevor die Pflastersteine wieder zum Vorschein kamen, mußten die russischen Geschichtsenthusiasten hart arbeiten: „In unserer Freizeit haben wir hier 20 LKW Müll weggekarrt“, berichtet Bogdantschikow stolz.

Gefüllt wurden die bei dieser Ausgrabung gewonnenen Räume mit interessanten Fundsachen aus dem Tor und dem Wassergraben davor: die riesigen Schlüssel des Friedländer Tors; verrostete Gewehre, Helme und andere Waffen, z.T. noch aus der Zeit des Ersten Weltkriegs; „Nr. 4 Hansaring“ und andere Straßenbahnschilder; Bierflaschen und Aschenbecher; Emailreklame für „Miele“ und „Sarotti“. Ein Brauereischild an der Museumswand kann erklären, wieso heute das Kaliningrader Bier, erfolgreicher Gegner des Kwas´,  „OCTMAPK“ heißt: „Ostmark“ nannte es sich bis 1945.

Mit dem Museum sympathisierende Schüler und Studenten brachten aus der ganzen Stadt weitere Reliquien daher, zwar von geringem materiellem Wert, aber nun liebevoll zu einer Ausstellung vereinigt: Flaschen, Münzen, Aschenbecher, ja sogar von der legendären Weinstube „Blutgericht“ eine Schüssel, die die Sprengung der Schloßruine überlebt hat. Irgendwo in der Stadt fand sich auch die großdeutsche Zeitung „Der Angriff“ – mit der v.a. von russischen Besuchern bestaunten Schlagzeile: „Goebbels: Wir werden den Sozialismus der Tat in vollem Umfang verwirklichen!“

In den kleineren Räumen neben der großen Ausstellungshalle richteten sich – mit alten Möbelstücken – Künstler und Historiker ein, gründeten Bibliophile eine kleine Ostpreußen-Bibliothek, versammelten sich bei einem urigen Kachelofen Musiker und eine „Deutsche Gesellschaft“ – alle zusammen bildeten das „Kulturzentrum Friedländer Tor“.  Schon im letzten Jahr tat sich hier aber nicht mehr viel, bedauert Bogdantschikow: „Wir haben alle kein Geld mehr.“

Auf städtische Zuschüsse zu hoffen, ist aussichtslos – schließlich ist Kaliningrad mindestens genauso pleite wie das Kulturzentrum. In diesem Sommer konnten zwar nach längerer Zeit wieder einmal die Gehälter der Lehrer und sonstigen städtischen Angestellten bezahlt werden – aber nur, weil das Sportstadion „Junost“ mit einer Hypothek von sechs Milliarden Rubel belastet worden war. In dieser Situation könnten wohl nur private Spenden weiterhelfen. „Die ’neuen Russen‘ aber geben uns nichts, außerdem werden Mäzene vom russischen Steuerrecht bestraft“, muß Bogdantschikow feststellen. „Ich denke, 1997 ist unser letztes Jahr.“ Da der Museumsdirektor, wie die meisten Russen heute, sich mit Handelsgeschäften über Wasser halten muß, wird die Sammlung wohl verkauft und auseinandergerissen werden.

Martin Ebner

Prussian remnants in a private museum in Kaliningrad, Russia (former Koenigsberg)
Prussian remnants in a private museum in Kaliningrad, Russia (former Koenigsberg)

 


Foto (21.09.1997): Unfinished „House of Soviets“ in Kaliningrad, Russia. Before World War II this was the place of the castle of the kings of Prussia. Nefinita „domo de sovetianoj“ en loko de iama kastelo de prusaj reĝoj en Kaliningrad, Rusujo. An der Stelle des ehemaligen preußischen Königsschlosses: Bauruine des „Hauses der Sowjets“ in Kaliningrad, Russland.

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Texts of timeless beauty. Or at least some historical interest.