Concrete octopuses in Hualian, Taiwan

Anatomie: die Suche nach dem Bösen im Körper

About: Undead theories about the relations between the evil and human anatomy. An exhibition in Schaffhausen, Switzerland.
Pri: Malmortaj teorioj pri rilatoj inter malbono kaj homa anatomio.
Published, Aperis: d’Lëtzebuerger Land, 27.03.2009


Je hässlicher, desto schlimmer?

Computertomografie bringt es an den Tag: Auffälligkeiten im Zuckerstoffwechsel und Blutfluss entlarven Verbrecher. Jedenfalls gibt es Hirnforscher, die davon überzeugt sind, dass sich im Kopf von Mördern „biologische Abweichungen“ identifizieren lassen. Wissenschaftler vermessen wieder Schädel, staunt Roger Fayet, der Direktor des Museums zu Allerheiligen in Schaffhausen; gleichzeitig „erfährt die exorzistische Austreibung des Bösen aus dem Körper eine unheimliche Wiederbelebung durch die katholische Kirche“. Mit der Ausstellung „Die Anatomie des Bösen“ zeigt das Schweizer Museum, dass die aktuelle Diskussion keineswegs neu ist: Schon seit Jahrhunderten werden körperliche Ursachen und Merkmale für Schlechtigkeit gesucht.

Zu sehen sind rund 150 Exponate, vor allem aus den medizinhistorischen Sammlungen der Universitäten Zürich und Turin. Ergänzt werden die Bilder, Ohrmuschel-Abgüsse und Untersuchungsgeräte durch Leseecken, Hörstationen und Filme. Mit Sondervitrinen wird das Thema auch in anderen Abteilungen des Museums aufgegriffen: Der Naturkundesaal zeigt Biester und Blutsauger; die Antiken-Sammlung Ebnöther präsentiert Chimären, Pan und andere böse Mischwesen längst vergangener Zeiten. Zum Begleitprogramm gehören Vorträge, Stadtführungen zum ehemaligen Galgenberg und vom 6. bis 10. Mai das internationale Krimi-Literaturfestival „Criminale 2009“. Die Besucher der Ausstellung müssen auch selbst mitarbeiten und gleich zu Beginn bei einer Reihe von Porträtfotos mit verdeckten Namen raten, ob es sich jeweils um Wohl- oder Übeltäter handelt.

Für die Künstler des Mittelalters war es keine Frage, dass Teufel, Dämonen und Bösewichte auf den ersten Blick zu erkennen sind. Die Fratzen von Henkern und Häschern malten sie besonders hässlich. Unwesen statteten sie oft mit Merkmalen gefährlicher Tiere aus: Krallenfüße, Hörner, Rüssel, Drachenflügel. Laut den Illustrationen des Klosterneuburger Evangelienwerks, einer Prunkbibel von 1330, hatte Judas diabolisch rote Haare. Bei zweiköpfigen Babys und anderen Fehlbildungen war man sich nicht sicher: Kinder des Teufels oder doch Wunder Gottes? Manche Gelehrte vermuteten auch „Versehen“ – die Mutter habe schreckliche Bilder angeschaut.

Als ab dem 16. Jahrhundert die anatomische Forschung in Schwung kam, wurden in großen Mengen Leichen von hingerichteten Verbrechern seziert. In Amsterdam machte Dr. Nicolaes Tulp daraus eine Show, bei der dem zahlenden Publikum auch Musik und Verpflegung geboten wurde. Die Freigabe des Körpers zum öffentlichen Aufschneiden galt als zusätzliche Schande und Strafe. Nach körperlichen Manifestationen des Bösen wurde dabei allerdings zunächst nicht gesucht, da man lange annahm, Leib und Seele seien völlig getrennte Einheiten.

Dass Sünder am Gesicht zu erkennen sind, versuchte im 18. Jahrhundert der Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater streng wissenschaftlich nachzuweisen. Sein wuchtiges vier Bände-Hauptwerk „Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“ kam zu der Erkenntnis: „Je moralisch besser, desto schöner. Je moralisch schlimmer, desto hässlicher.“ Gemeine Blicke entdeckte der Forscher auch im Tierreich, etwa bei den „zertreten niedrig, tief unter allem Pferdeadel“ stehenden Krokodilen oder Schlangen „voll Verworfenheit“. Seine ausgefeilte Methode des Silhouetten-Studiums bewahrte Lavater jedoch nicht vor Blamagen: Als ihm einmal ein anonymes Porträt vorgelegt wurde, tippte er auf „das größte, schöpferischste Genie“ – tatsächlich war es ein verurteilter Mörder.

In Anlehnung an Lavater entwickelte der schwäbische Arzt Franz Joseph Gall eine eigene Hirn- und Schädellehre: Mörder und Diebe hätten besonders große „Hirnorgane“, die an außergewöhnlichen Wölbungen des Schädels zu messen seien. Ein gefundenes Fressen für Karikaturisten! Die Weiterentwicklung dieser Lehre wurde später Phrenologie genannt. Es entstanden verschiedene Systeme, die unterschiedliche Schädelregionen mit bestimmten Charakterzügen in Verbindung brachten.

Cesare Lombroso wurde 1876 mit seinem Buch „Der Verbrecher“ weltbekannt. Der Begründer der modernen Kriminologie richtete in Turin ein eigenes Museum ein, in dem er Kunsthandwerk von Häftlingen, Verbrecher-Fotos, Schädel und Hirne sammelte, aber auch Modelle von fleischfressenden Pflanzen. Bei diesen heimtückischen Gewächsen machte er ein „erstes Aufdämmern verbrecherischen Wesens“ aus. Bevor er sein eigenes Skelett seinem Museum vermachte, vermaß Lombroso Tausende Körper von Missetätern und Geistesgestörten. Seine Theorie: „Geborene Verbrecher“ seien auf einer primitiven Stufe der stammesgeschichtlichen Entwicklung stehengeblieben, also als atavistische Rückfälle der Evolution ein biologisches Problem.

Die Schädel-, Nasen- und Rassetheorien des 20. Jahrhunderts verschweigt die Ausstellung gnädig; auf die Nazi-Verbrechen geht nur ein Kapitel des Begleitbands ein. Im letzten Raum werden zwei aktuelle Positionen gegenübergestellt: Auf der einen Seite führen Neurowissenschaftler, etwa Hans J. Markowitsch von der Universität Bielefeld, zum Beispiel verändertes Aggressionsverhalten auf Hirnschäden zurück. Auf der anderen Seite verweisen Sozialpsychologen auf die Experimente von Stanley Milgram und Philip Zimbardo,  bei denen sich ganz gewöhnliche Menschen auf Befehl in Bestien verwandelt hatten. Die Ausstellungsmacher enthalten sich jeder Stellungnahme. So müssen sich die Besucher selbst überlegen, ob sie in Zukunft von Bankern und anderen Vertrauenspersonen vielleicht Messwerte der Gehirnaktivitäten verlangen sollen.

Martin Ebner

„Die Anatomie des Bösen. Ein Schnitt durch Körper, Moral und Geschichte“ war bis 10. Mai 2009 im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen zu sehen. Einen Begleitband mit dem gleichen Titel hat Roger Fayet herausgegeben im Verlag hier+jetzt, Baden bei Zürich.


 


Foto: Appearances are deceiving: octopuses of good character in Hualian, Taiwan. Karaktero estas pli grava ol aspekto: polpoj en Hualian, Tajvano.Es sind die inneren Werte, die zählen: gutartige Kraken in Hualian, Taiwan.

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Texts of timeless beauty. Or at least some historical interest.