Fish market in Tokyo, Japan

Mal gut, mal böse: Japaner und Europäer haben unterschiedliche Moralvorstellungen

About: Researcher Makoto Kobayashi investigates ethic conceptions of Japanese and Europeans
Pri: Sciencisto Makoto Kobayashi esploras etikajn nociojn de japanoj kaj eŭropanoj.
Published, Aperis: taz – die tageszeitung, 22.07.1996


Mal gut, mal böse

Japaner haben die gleiche Moral wie Europäer – aber nicht immer

Ist Wirtschaftsspionage ein Verbrechen? Soll Euthanasie erlaubt werden? Darf eine Schauspielerin eine Affäre mit einem verheirateten Mann haben? Derartige moralische Fragen werden in japanischen Zeitungen heftig diskutiert – kaum anders als in Europa. Die Antworten aber unterscheiden sich manchmal erheblich. Vielleicht ist das ein Grund für die ständigen Konflikte zwischen Japan und seinen westlichen Handelspartnern, die wechselseitigen Vorwürfe? Über Handelsquoten kann man sich ja vielleicht einigen – aber was tun, wenn die Völker grundlegend verschiedene Begriffe von „gut“ und „böse“ haben?

Dr. Makoto Kobayashi, Psychologe an der Universität Konstanz, wollte deshalb mehr über die  unterschiedlichen Moralvorstellungen von Japanern und Deutschen wissen. Im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes, das von Prof. Hiroshi Namiki (Waseda-Universität Tokio) geleitet wird, ging er der Sache nach. Jeweils 40 Japanern und Deutschen legte er als „Reizmaterial“ sechs kurze Geschichten vor, die einen moralischen Konflikt enthalten. Dann fragte er die Versuchspersonen, wie sie die Fälle moralisch beurteilen.

Bei den Vorstudien hatte es Probleme gegeben, berichtet Kobayashi: „Die japanischen Probanden beklagten, daß sie nicht wissen, welche Meinung sie sagen sollten – ‚tatemae‘, die offizielle Ansicht, oder ‚honne‘, die ehrliche Privatmeinung.“ Bei den Deutschen sei der Unterschied zwischen der ‚Fassade‘ und der „echten Stimme“ nicht so ausgeprägt, findet Kobayashi. Sicherheitshalber fragte er aber auch hier nach beiden Meinungen.

Für seinen Kulturvergleich verwendete Kobayashi empirische Methoden, die Ende der 60er Jahre von der Harvard-Autorität Lawrence Kohlberg entwickelt worden waren und bis heute von US-Erziehungswissenschaftlern gebraucht werden. Allerdings rechnete er fest damit, andere Ergebnisse zu erzielen als der amerikanische Professor. Kohlberg war damals nämlich zu dem Schluß gekommen, die Asiaten würden nur eine niedrigere moralische Entwicklungsstufe erreichen als die weißen US-Bürger. „Das kann so nicht stimmen“, meinte Kobayashi, „wieso ist denn dann zum Beispiel die Kriminalitätsrate in Japan so viel niedriger als in den westlichen Industrieländern?!“

Jetzt ist Kobayashi überzeugt, mit seinen Forschungsergebnissen Kohlbergs „ethnozentrisches Modell“ endlich widerlegen zu können. Im großen und ganzen gebe es nämlich „zwischen Deutschen und Japanern bei der moralischen Orientierung keine signifikanten Unterschiede“. Die  Abweichungen sind nur gering – beispielsweise drücken die Japaner bei Steuerhinterziehung und Parteiskandalen eher ein Auge zu als die Deutschen. „Es sieht so aus, als ob die Japaner die schmutzige politische Realität eher in Kauf nehmen.“

In zwei Fällen allerdings sind die Auffassungen sehr unterschiedlich. Als Kobayashi wissen wollte, ob eine Mutter, die Selbstmord begeht, davor ihr Kind umbringen soll, meinte die Mehrheit der  Deutschen, das Kind habe ein individuelles Recht auf ein eigenes Leben. „Die Japaner dagegen sehen das Kind als Teil der Mutter an. Es wäre also grausamer, das Kind zu verlassen als es in den Tod mitzunehmen.“ Auch  Wirtschaftsspionage wird verschieden beurteilt: Die Deutschen finden, daß Angestellte nicht für ihre Firma spionieren dürfen – das individuelle Gewissen sei wichtiger als der Profit des Unternehmens. „Die Japaner aber zeigen Verständnis für derartige Verbrechen – wenn sie nicht der persönlichen Bereicherung, sondern der Firma dienen.“ Kobayashis Interpretation: „In Europa werden Egoisten nicht so scharf verurteilt – sie haben einen größeren Spielraum. Für die Japaner dagegen ist die soziale Verbindung zu anderen Menschen wichtiger. Sie denken eher  für ihre Familie, ihre Firma, ihre jeweilige Gruppe mit und sehen sich nur als Teil des Ganzen.“

Klar ist nun, daß man solchen kulturellen Unterschieden mit Kohlbergs Schema der moralischen  Entwicklungsstufen nicht beikommt. Wieso soll denn individuelle Prinzipientreue moralisch „höher“ einzustufen sein als soziale Rücksichtnahme? „Außerdem unterscheiden sich die moralischen Urteile ja nicht generell  – sondern hängen von der spezifischen Situation ab.“

– Jetzt wüßte man zu gerne, wann genau es zu solchen „spezifischen Unterschieden“ kommt, wann mit Mißverständnissen und Konflikten zu rechnen ist. Hier aber muß Kobayashi noch passen: „Diese konkreten Probleme sind alle noch unbearbeitet.“ Das kulturvergleichende Forschungsprojekt der Waseda-Universität wird deshalb weitergeführt und  auch auf andere Länder ausgedehnt. Die Sache mit der Moral ist eben vertrackter als in den Lehrbüchern steht.

Martin Ebner


 

Foto:  Whale or tuna? Traders at the fish market in Tokyo, Japan.Baleno aŭ tinuso? Fiŝmerkato en Tokio, Japanujo. Walfleisch oder Thunfisch? Fischmarkt in Tokyo, Japan.

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