Blindenschrift in der U-Bahn Brüssel, Belgien

Blindenschrift: Buchstaben streicheln

About: Jubilee of the Braille tactile alphabet for blind readers
Pri: Festo de la blindula skribo pro la jubilea jaro de Louis Braille
Published, Aperis: d’Lëtzebuerger Land, 23.01.2009


Zum 200. Geburtstag von Louis Braille wird die Blindenschrift gefeiert

Bettler – das war lange der einzige Beruf, den Blinde ergreifen konnten. Kein Wunder, dass sich der Sattler Simon Braille große Sorgen machte, als sich sein Kind Louis beim Spielen mit einer Ahle eine Auge ausstach und wegen einer Infektion auch noch sein zweites Auge verlor. In seinem Heimatdorf Coupvray, östlich von Paris, gab es für den begabten Jungen keine Zukunft. Louis Braille hatte aber Glück im Unglück: Weil sich Eltern, Pfarrer und Bürgermeister hartnäckig für ihn einsetzten, bekam er ein Stipendium für die Blindenschule in der französischen Hauptstadt.

In dem Pariser Blindeninstitut, 1784 als erste derartige Einrichtung der Welt gegründet, lernte er mit großen Reliefbuchstaben umständlich lesen, nicht aber selbst schreiben. Um so mehr war Braille begeistert, als eines Tages ein Militär die Schule besuchte und eine „Nachtschrift“ vorstellte: Um Soldaten unbemerkt vom Feind im Dunkeln befehlen zu können, hatte Hauptmann Charles Barbier eine komplizierte Silbenschrift mit tastbaren Punkten und Strichen entwickelt. Wie besessen arbeite Braille drei Jahre lang daran, dieses System zu vereinfachen und brauchbar zu machen.

Im Jahr 1825 war die Grundform der Blindenschrift fertig, die heute Brailles Namen trägt: Alle Buchstaben codiert sie mit nur sechs Punkten, die – mit Griffel, Schreibmaschine oder Computer – so ins Papier geprägt sind, dass sie mit den Fingerspitzen abgetastet werden können. Diese Punkte, die jeweils wie die Augen einer Würfel-Sechs in einem 6 mal 4 Millimeter großen Raster angeordnet sind, ergeben 64 Kombinationsmöglichkeiten. Ist etwa nur der Punkt oben links erhaben, liest man das als „a“, stehen alle drei linken Punkte hervor, bedeutet das „l“ – und wenn beim Darüberstreichen nichts zu spüren ist, handelt es sich um ein Leerzeichen.

Meist wird in der Punktschrift klein geschrieben. Soll etwas betont werden, steht ein Großschreibezeichen davor. Wie bei einer Handy-Tastatur können Buchstaben wahlweise auch als Zahlen gelesen werden. Für Sonderzeichen und häufig gebrauchte Buchstabenkombinationen der verschiedenen Sprachen hat die Blindenschrift jeweils eigene Zeichen: Was zum Beispiel in einem deutschen Text als „ch“ ertastet wird, heißt in einem französischen „ô“, auf englisch „th“ und chinesisch „yong“. Eigene Zeichensätze gibt es zum Beispiel für Chemie, mathematische Formeln oder auch Strickmuster. Besonders wichtig ist die Noten-Blindenschrift, die der Orgelspieler Braille 1828 vorstellte: Seither können nicht nur Sehende Berufsmusiker werden.

Die ins Papier gepressten Zeichen erlauben es Blinden, sich zu qualifizieren. Seit im Jahr 1900 in Luxemburg die Schulpflicht für blinde Kinder eingeführt und in Berburg eine erste „Blindenanstalt“ eingerichtet wurde, ist die Braille-Schrift Grundlage des Unterrichts für stark Sehbehinderte. Sie ermöglichte auch Selbsthilfeorganisationen, wie zum Beispiel die 1955 gegründete „Association des Aveugles du Luxembourg“.

„Die Punktschrift ist genial einfach“, schwärmt Urs Rehmann von der Blindenbibliothek im Schweizerischen Landschlacht: „Wenn man wie ein Klavierspieler regelmäßig trainiert, kommt man auf eine gute Lesegeschwindigkeit.“ Problematisch ist allerdings, dass auf ein A4-Blatt nur rund 28 Zeilen á 28 Anschläge passen und dass das Papier besonders dick sein muss. Der Platzbedarf ist gut 50 Mal größer als bei der normalen Schwarzschrift der Sehenden, erläutert Rehmann: „Die Bibel füllt 48 große Bände – eine ganze Regalreihe. Die meisten Blinden haben daher in Punktschrift nur ein oder zwei Bücher zu Hause, die ihnen besonders wichtig sind, vielleicht ein Kochbuch.“ Was sie sonst lesen wollen, leihen sie von einer Bibliothek – deren Standort dank gratis Blinden-Postsendungen keine Rolle spielt. Pro Jahr erscheinen zum Beispiel rund 2000 deutschsprachige Publikationen in Punktschrift: „Es gibt auch Groschenromane. Wegen der relativ teuren Produktion macht man sich aber schon Gedanken zur Halbwertszeit.“

Seit es elektronische Medien gibt, wird der Braille-Schrift das Ende prophezeit. Während aber Tonbänder und Hörkassetten von den Bibliotheken gerade ausgemustert werden, können die gepunkteten Wälzer nach wie vor ausgeliehen werden. Außerdem lassen sich Internetseiten oder CD-Dateien am Computer dank einer „Braille-Zeile“ auch erfühlen: In einem Streifen an der Tastatur heben und senken sich kleine Metallstifte.

Selbst Blindenorganisationen müssen aber einräumen, dass heute nur etwa ein Drittel der Blinden tatsächlich mit den Händen lesen kann. Zum 200. Geburtstag von Louis Braille am 4. Januar starten deshalb deutsche Blindenverbände und Bibliotheken eine Initiative zur Förderung der Punktschrift, zu der auch die Nachbarländer eingeladen sind: Lesungen in verschiedenen Städten, im Sommer ein Festival in Hannover, im Herbst eine Ausstellung im Berliner Museum für Kommunikation. Die „sich häufenden Rechtschreibfehler bei jungen Blinden, der Trend zur Audio-Berieselung und das Abdriften in den Analphabetismus“ müssen gestoppt werden, fordert der Münchner Sprachwissenschaftler Aleksander Pavkovic: „Braille – das sind und bleiben ‚sechs Richtige‘ für uns Blinde und das Tor zur Bildung!“

Martin Ebner

Links (last update: 24.06.2017):

N.B. (21.06.2021):
Im IBZ Landschlacht (geschlossen 2018) war eine „mit allen Sinnen erfahrbare“ Ausstellung des Künstlers Türel Süt eingerichtet.


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Foto: Braille in the subway of Brussels, Belgium. Brajlo en la metroo en Bruselo, Belgujo. Blindenschrift in der U-Bahn Brüssel, Belgien

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Texts of timeless beauty. Or at least some historical interest.