Charter 88 activist in London, United Kingdom

Charter 88: Online-Revolution

About: The British civil rights movement Charter 88 campaigns for a written constitution.
Pri: Brita iniciativo Charter 88 volas skriban konstitucion por Britujo.
Published, Aperis: Der Tagesspiegel, 04.01.1996


Online-Revolution

Bürgerrechtler wollen per Internet das britische Regierungssystem über den Haufen schmeißen

„Rund 30 Leute haben in England die absolute Macht!“, „Schottland und Wales werden wie Kolonien regiert!“, „Das britische Wahlsystem ist ungerecht; die Regierung repräsentiert nur 30% der Wähler!“ – ein Skandal nach dem anderen flimmert über den Bildschirm. „Infuriator“ nennt sich dieser Web-Site und hat nur ein Ziel: die ansonsten so gelassenen Briten in helle Aufregung zu versetzen.

Verantwortlich für die virtuelle Volksaufwiegelung ist „Charter 88“. Diese Bürgerinitiative entstand 1988: 300 prominente Briten, die sich über das archaische  britische Regierungssystem im allgemeinen und das feudalistische Gehabe von Margaret  Thatcher im besonderen empörten, verfaßten eine „Charter“ mit 12 Forderungen und verlangten „die fundamentale Veränderung der britischen Gesellschaft“. Die Guillotinierung der Königin ist kein zentrales Anliegen der Revolutionäre – „das Volk soll in einem Referendum über den Weiterbestand der Monarchie selbst entscheiden“,  geben sie sich zu diesem Punkt gemäßigt neutral.

Ansonsten jedoch soll hinter den Kreidefelsen von Dover nichts so bleiben, wie es ist: Eine „Bill of Rights“ und ein „Freedom of Information Act“ nach US-Vorbild sollen die  Willkür des bislang allmächtigen Premierministers bändigen. Schottland, England und Wales sollen wie die deutschen Bundesländer eigene Parlamente bekommen. Im Londoner Oberhaus sollen nicht tattrige Lords, sondern gewählte Abgeordnete sitzen.  Entschädigungen für staatlichen Machtmißbrauch und unabhängige Kommunalverwaltungen sollen eingeführt werden. Das Wahlrecht soll ebenso reformiert werden wie das Rechtswesen. Vor allem aber: Großbritannien soll eine geschriebene Verfassung bekommen – so wie sie jeder andere demokratische Staat besitzt.

Konservative Tories waren schockiert: Wo bleibt da die Einzigartigkeit des Vereinten Königreichs? Andere Untertanen der Krone sehen die Sache weniger sentimental. Seit 1988 haben über 60.000 Briten die „Charter“ unterschrieben. Viele von ihnen spenden regelmäßig Geld für „Charter 88“,  die Organisation, die mit dem Schlachtruf „Putting the people back into politics!“ für die Forderungen der „Charter“ kämpft. „Obwohl Verfassungsfragen gähnend langweilig sind, sind wir die am schnellsten wachsende Bürgerinitiative des Landes“, stellt Colin Darracott, der „Koordinator“ von „Charter 88“, voller Stolz fest. „Wir spielen bald in der gleichen Liga wie die politischen Parteien. Im Frühjahr 1996  wollen wir 100.000 Unterschriften beisammen haben.“

Die Rechnung könnte aufgehen. Verdrossene Briten können sich nämlich bequem von zu Hause aus „Charter 88“ anschließen – per e-mail. Am 14. Juli 1995, dem „Jahrestag der Erstürmung der Bastille“, ging „Charter  88“ online. Das Ereignis, „Rewiring Democracy“ genannt, wurde gleichzeitig in Londons „Cyberia Café“, im „Web 13“ in Edinburgh, im „Café Orbital“ in Paris und in einer ganzen Reihe anderer Internet-Cafés gefeiert.

[Im Internet] sind seither Informationen von „Charter 88“ abrufbar. „Dynamo“ zum Beispiel ist das aktuelle Nachrichtenmagazin der Bürgerrechtler. Unter „Parliamentary Briefings“ sind Kommentare zur laufenden Gesetzgebung zu finden. Die Kolumne soll zeigen, daß „die ungeschriebene britische Verfassung nicht in der Lage ist, eine demokratische Kultur zu erhalten“ – da sie von der Regierung nach Belieben geändert werden könne. Wer „Digital Democracy Links“  wählt, wird zu vergleichbaren Initiativen in aller Welt verbunden – beispielsweise zur Universität Rotterdam, wo man „Verfassungen der Welt“ studieren kann. Nostalgiker können von hier aus auch bei der britischen Nationalbibliothek vorbeischauen und dort eine Kopie der Magna Charta bewundern.

Parlament in London, UK
Fotogene Fassade: Parlament in London, UK

Der Web-Site von „Charter 88“ will aber mehr sein „als nur eine Informationsquelle“: ein „Forum für Ideen“, ein Ort aktiver Bürgerbeteiligung. Unter der Rubrik „Citizens‘ Enquiry“ kann deshalb jeder, sei er nun Tory-Anhänger oder Anarchist, seine Meinung und Reformvorschläge übers Netz loswerden. Die Beiträge sollen 1996 von einer „Constitutional Convention“ diskutiert werden. „Das Ergebnis wird dann dem nächsten Parlament als strukturiertes Gesetzgebungsprogramm präsentiert werden“, verspricht „Charter 88“. „Jeder Beitrag zählt. Nichts bleibt im Cyberspace; wir wollen reale Veränderungen.“

„Die Nutzer des Internet waren immer schon sehr an Demokratie und Informationsfreiheit interessiert. Das Internet ist das ideale Medium für uns“,  erklärt Jeremy Tonkin von „Charter 88“. „Pro Tag nutzen rund 650 Leute unser Angebot. Das ist natürlich nur ein kleiner Anfang – aber doch eine spannende Sache. Es ist ein Experiment digitaler Demokratie.“ – Nur ein Experiment. Denn bisher hat nur eine Minderheit der Briten die Möglichkeit, das Internet zu nutzen. Tonkin fordert deshalb: „Es müssen verstärkt öffentliche Zugänge zum Internet eingerichtet werden. So wie das zum Beispiel in Cambridge bereits gemacht wird – etwa im Rathaus, in Schulen oder in Bibliotheken. In Zukunft jedenfalls wird Internet-Kommunikation genauso alltäglich sein wie heute das Fernsehen.“

Könnte dann nicht gleich das ganze politische Geschäft mit Computern abgewickelt werden? Statt Parteien und Parlamenten einfach Volksabstimmungen per Mausklick?  Jeremy Tonkin ist da eher skeptisch: „Ich will zum Beispiel kein Referendum über die Todesstrafe. Es sind einfach noch zu viele Fragen offen. Wie gut müssen die Bürger informiert sein, um abstimmen zu können? Wie sehr werden wir von den Medien manipuliert? – Aber klar: all das steht jetzt auf der Tagesordnung. Auch wenn die Politiker Angst um ihre Macht haben und jede Diskussion über elektronische Demokratie vermeiden wollen.“

Martin Ebner

N.B. (05.05.2014):
Das Internet war damals so jung wie ich – und die Hoffnungen groß…
Im Jahr 2007 ging Charter 88 in der Initiative Unlock Democracy auf.


 


Foto (summer 1995): Activist in the headquarter of Charter 88 in London, Great Britain. Kunlaboranto de Charter 88 en Londono, Britujo. Aktivist im Büro von Charter 88 in London, Großbritannien.

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Texts of timeless beauty. Or at least some historical interest.