Tourist boats in Zhouzhuang

China: Zhouzhuang – Eine Stadt wie eine Lotusblume

About: Tourists save – and threaten – the historical water town Zhouzhuang in China.
Pri: Turistoj savas – kaj minacas – la historian akvo-urbon Zhouzhuang en Ĉinujo.
Sponsors, Sponsoroj:
IJP, Krupp-Stiftung
Published, Aperis: Neue Zürcher Zeitung, 20.09.2001


Eine Stadt wie eine Lotusblume

Touristen retten und bedrohen die chinesische Wasserstadt Zhouzhuang

Nichtstun und Sturheit reichen manchmal aus, um an die Spitze des Fortschritts zu gelangen und berühmt zu werden. Jahrelang war das Wasserstädtchen Zhouzhuang ein Schandfleck des ansonsten boomenden Hinterlands von Shanghai gewesen: keine rauchenden Schornsteine, keine Autobahn, keine Autos, keine Wolkenkratzer, kein Neonlicht, nicht einmal eine Karaoke-Bar. Schlimmer noch: die Einwohner waren mit ihren urigen Häusern, verwinkelten Kanälen und Bogengängen, malerischen Brücken, stillen Gärten und alten Tempeln zufrieden und dachten gar nicht daran, sich der allgemeinen „Modernisierung“ anzuschliessen. Der Dank für so viel Halsstarrigkeit? Zhouzhuang kann sich vor Touristen kaum noch retten und wird von der chinesischen Regierung stolz auf Briefmarken als Modell einer gelungenen Altstadtsanierung präsentiert.

In dem von Seen, Flüssen und Kanälen durchzogenen, seit Urzeiten besiedelten „Wasserland“ südlich des Yangtse-Flusses gab es einmal Hunderte historische Wasserstädte. Ihnen widmete seit den 1960er Jahren Ruan Yi San von der Shanghaier Tongji-Universität sein Forscherleben. Kanäle dürften nicht zugeschüttet und mit Schnellstrassen überbaut, Altstädte nicht durch Fabriken und monotone Plattenbauten verschandelt werden, predigte der Stadtplaner den Lokalregierungen. Heute muss Ruan, der vor zwei Jahren das Chinesische Zentrum für historische Stadtforschung gründete, enttäuscht feststellen: „Die friedliche und anmutige Atmosphäre ist verschwunden. Mehr als 90 Prozent der Wasserstädte sind zerstört worden. Die Orte sehen aus wie gerupfte Hühner.“

„Nur in Zhouzhuang wurde auf Ruan gehört“, berichtet die Stadtplanerin Zhang Lan. „Eine Reihe glücklicher Zufälle: Der Bürgermeister der Stadt hatte in der Kulturabteilung der Regionalregierung gearbeitet und sich mit der Geschichte des Orts befasst. Und die Honoratioren waren im Unterschied zu anderen Städten stolz auf ihre alten Häuser.“ Ausserdem sei Zhouzhuang derart abgelegen und arm gewesen, dass die „Bevölkerung vom Wandel der Aussenwelt gar nichts mitbekommen“ habe. Noch vor 20 Jahren war das wie eine Lotusblume von Wasser umgebene Zhouzhuang nur per Schiff zu erreichen, das 60 Kilometer nahe Shanghai drei unbequeme Tagesreisen entfernt.

Zusammen mit seinen Studenten und anderen Stadtplanern entwarf Ruan 1986 ein Entwicklungskonzept für Zhouzhuang. „Wir haben das Stadtgebiet in drei Teile gegliedert“, erläutert Zhang Lan. „Die Altstadt mit den Werkstätten und Läden traditioneller Handwerker sollte erhalten werden und Touristen anziehen. Neue Wohnhäuser sollten nur nördlich davon entstehen; und für Industriebetriebe haben wir ein eigenes Gebiet ausgewiesen. In Europa ist diese Idee nichts Besonderes, aber in China war das damals sehr ungewöhnlich. Viele Leute dachten, alles Alte müsse zerstört werden.“

Der Plan ging prompt auf. Die erste Touristenwelle schwappte heran, als ein amerikanischer Ölmagnat ein Gemälde von Zhouzhuangs 400 Jahre alter „Doppelbrücke“ ersteigerte, dem chinesischen Staatsführer Deng Xiao Ping schenkte und so für unbezahlbare Werbung sorgte. Seit die Stadt an das Strassennetz angeschlossen ist und Busse von Shanghai nur noch zwei Stunden brauchen, wird sie an Wochenenden regelrecht gestürmt. Letztes Jahr bewunderten 1,5 Millionen Touristen die weissen, zweistöckigen Wohnhhöfe mit den schwarzen Ziegeldächern, gondelten mit Ausflugsbooten unter den Steinbrücken hindurch und verstopften die engen Kopfsteinpflaster-Gassen.

„Zhouzhuang kann unmöglich so viele Touristen ertragen“, klagt Zhang Lan. „Die Altstadt ist nur 20 Hektar gross. An manchen Tagen kommen auf die 3000 Einheimischen dort über 5000 Touristen. Das führt zum Beispiel zu schwerer Wasserverschmutzung.“ Die Stadtplaner der Tongji-Universität haben deshalb ein neues Konzept für Zhouzhuang ausgearbeitet: „Wir haben uns nun auf die Probleme der Altstadt konzentriert und detailliert untersucht, welche wertvollen Gebäude auf jeden Fall erhalten werden müssen. Wir schlagen genaue Bauvorschriften vor, zum Beispiel Höhenbegrenzungen oder dass Baulücken mit Gebäuden im traditionellen Stil gefüllt werden. Wir wollen das historische Stadtbild schützen, gleichzeitig aber den Bewohnern Einkommensmöglichkeiten und moderne Lebensbedingungen bieten, denn wir wollen eine lebendige Altstadt.“

Street life in Zhouzhuang
Street life in Zhouzhuang, China

Eine Massnahme zur Eindämmung des Touristenstroms ist schon in Kraft: Der Besuch der Altstadt kostet Eintritt, nämlich 60 Yuan (rund 14 Franken). Das ist recht viel, da Zhouzhuang im Ausland noch kaum beworben wird und folglich fast ausschliesslich chinesische Touristen kommen. Dafür können sie mit der Tageskarte alle Sehenswürdigkeiten besuchen. Am meisten zieht es sie zu Shen Ting, der 1742 erbauten Stadtresidenz des reichen Shen. Diese prächtige Anlage mit sieben Höfen und über 100 Räumen ist eine beliebte Kulisse für Filme über das alte China. Zuletzt entstand hier nach Pearl Bucks Buch „Die Frauen des Hauses Wu“das Hollywood-Drama „Pavillon of Women“.

Nicht ganz so gross ist Zhang Ting, die Sechs-Höfe-Villa des Millionärs Zhang aus dem 15. Jahrhundert. Dafür führt ein Flüsschen quer durch das Haus; in der Mitte ist ein grosses Becken, damit die Boote von vorfahrenden Gästen wenden können. Vom einstigen Reichtum der bis in die 1920er Jahre florierenden Handelsstadt zeugt auch das Stadtmuseum. Die Sammlungen von Porzellan, Münzen, Schmuck und anderen Kunstwerken wurden seit dem 19. Jahrhundert nicht verändert und sind nun eine Art Museum im Museum.

Der Quanfu Si, der Tempel des völligen Wohlbefindens, war dagegen zu auffällig, um von den Kommunisten übersehen zu werden. Sie machten nach der Gründung der Volksrepublik China aus der 1086 gegründeten Anlage einen Getreidespeicher und zerstörten alle Statuen. Erst 1995 konnten die gelben Hallen und geschwungenen Ziegeldächer mit Einnahmen aus dem Fremdenverkehr wieder aufgebaut werden. Auch die 21 Gold-Buddhas und ein fünf Meter hoher Bronze-Buddha strahlen wieder.

Damit der Tourismus nicht zerstört, was er gerade gerettet hat, will die Stadtverwaltung von Zhouzhuang die Souvenirhändler aus dem Tempel werfen. Überhaupt sollen nach den Vorstellungen der Stadtplaner zwei Drittel aller Läden und Restaurants aus der Altstadt verschwinden. Nur traditionelle Handwerker wie Bambus-Schnitzer, Spitzenklöppler oder Musikinstrumentebauer sollen bleiben dürfen, dazu Verkäufer örtlicher Spezialitäten, etwa der als Mitbringsel beliebten tiefroten Schweinshaxen. Die von der Stadt kontrollierte Aktiengesellschaft „Zhouzhuang Tourismus“ will auf Qualität setzen und die Aufnahme in die Unesco-Liste des Weltkulturerbes nicht durch Postkartenstände und Handel mit gefälschten Antiquitäten gefährden.

Gefahr droht dem für China ungewöhnlichen Entwicklungsmodell von aussen: Die Nachbarstädte, einst ebenfalls wunderschöne Wasserorte, hatten mit ihrer Industrialisierung keinen Erfolg, jetzt wollen sie auch auf Tourismus setzen – und deshalb direkt an Zhouzhuang vorbei eine Autobahn bauen. „Das würde Zhouzhuang zerstören“, ist Ruan Yi San sicher. Der 67jährige Professor will sich diese Wasserstadt nicht auch noch nehmen lassen und gibt sich kämpferisch: „Die Autobahn wird nur über meine Leiche gebaut. Ich werde mich mitten auf die Strasse legen.“

Martin Ebner

Admonition in Zhouzhuang
Admonition in Zhouzhuang, China

Link (last update: 29.04.2014):
Das „Forschungszentrum für historische Kulturstädte“ und Prof. Siegfried Zhiqiang WU sind an der Tongji-Universität in Shanghai zu finden.


 


Foto: Tourist boats in Zhouzhuang, China. Zhouzhuang, Ĉinujo.

Zhouzhuang, China.

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Texts of timeless beauty. Or at least some historical interest.