Main station in Zurich, Switzerland

Grossanlass Zürich Hauptbahnhof

About: Switzerland’s main railway station: Zürich HB
Pri: La plej grava stacidomo de Svislando: Zürich HB
Award, Premio:
Journalistenpreis Bahnhof 1999
Published, Aperis: Südkurier, 19.07.1997


Nach jahrzehntelangen Abstimmungskämpfen wird Zürichs neuer Hauptbahnhof eröffnet: ein Einkaufszentrum mit Gleisanschluß

Eine ganz normale Großstadt hätte aus Zürich werden sollen – mit einem modernen Beton-Hauptbahnhof im Wanne-Eickel-Stil, einer U-Bahn und Stadtautobahn darunter. Aber das Volk wollte nicht. 1973 entschieden die Zürcher in einem Referendum: Die alte Tram muß bleiben und erst recht die alte Bahnhofshalle. Stadtplaner und Schweizerische Bundesbahnen (SBB) mußten sich etwas Neues einfallen lassen.

Da ihnen der geplante Hochhauskomplex verboten worden war, flüchteten sie in den Untergrund. Nach einer weiteren Volksabstimmung durchlöcherten sie das Bahnhofsgebiet wie einen Emmentaler Käse. Unterirdisch entstanden 150.000m² neue Nutzfläche. Jetzt ist der Hauptbahnhof ein Stadtviertel  für sich, samt eigenem Postamt und der eigenen Postleitzahl 8023. Oder soll man den siebenstöckigen Koloß lieber als „Verkehrskathedrale“ bezeichnen?

Besonders andächtig sind seine Besucher ja nicht. Mufflig drängeln am frühen Morgen Goldküsten-Banker durch den S-Bahnhof im dritten Untergeschoß. Sie maulen, ihr Zug sei schon wieder 4 Minuten (!) zu spät gewesen und habe außerdem nicht genau an der gewohnten Stelle gehalten, weshalb man 15 Meter (!) zum Erste-Klasse-Waggon habe laufen müssen. Die SBB seien auch nicht mehr, was sie einmal waren.

Zuglaufschilder im Hauptbahnhof Zürich
Zuglaufschilder im Hauptbahnhof Zürich (Aufnahme vom 23.04.1997)

Dabei hätte die S-Bahnstation, die „Zürich HB“ zum Durchgangsbahnhof macht, Bewunderung verdient. Das Bauwerk unterquert die beiden Flüsse Sihl und Limmat und schwimmt im Grundwasser. Daß es nicht ganz planmäßig fertig wurde, ist nicht die Schuld der SBB, auch nicht der vielen Volksabstimmungen: Zwischendurch wurden die Spezial-Baumaschinen nach Tschernobyl ausgeliehen, weil dort der Boden des Kernkraftwerks befestigt werden mußte.

Aber was interessiert die lange und verwickelte Baugeschichte die Pendler? Eilig hasten sie über die Rolltreppen ins zweite Untergeschoß – in die „Passage Bahnhofstraße“. Während die Bahnhofstraße über der Erde schon lange nichts mehr hermacht, sorgen hier in ihrer unterirdischen Fortsetzung schwarzer Granit und weißer Marmor für eine gediegen-edle Atmosphäre. „Shop-Ville“ nennt sich die Anlage. Sie verspricht „Einkaufsspaß täglich von 8 bis 20 Uhr“.

Natürlich wurde auch gegen diese Öffnungszeiten das Referendum ergriffen – erfolglos: Das Volk will im Bahnhof auch am Sonntagabend „Sprüngli“-Pralinen, „Fogal“- Strümpfe, „Swatch“-Uhren und „Rasanti“-Jeans kaufen. Die 120 Läden erzielen nun einen Jahresumsatz von rund 240 Millionen Franken – sehr zur Freude der SBB, die kräftig mitkassieren.

Während in Deutschland die Bahnhofs-Einkaufszentren von privaten Gesellschaften verwaltet werden, wollen sich die SBB den Gewinn nicht entgehen lassen, erklärt SBB-Pressesprecher Urs Neuenschwander: „Wir vermieten alles selbst.“ An eine Privatisierung denke man nicht einmal.

Auch lassen die SBB nicht zu, daß die vier Bankfilialen in der „Shop-Ville“ allein von den täglich durchschnittlich 350.000 Reisenden des größten Schweizer Bahnhofs profitieren. Der bahneigene „Geldwechsel SBB“ bedient pro Jahr rund 1 Million Kunden. Für besonders eiliges Fluchtgeld gibt es im Bahnhof sogar einen „Diskretschalter“.

Manchmal stößt der Unternehmungsgeist der SBB aber auch an Grenzen. Daß die sanitären Anlagen im ersten Untergeschoß Eintritt kosten sollen, läßt sich den erbosten Eidgenossen auch mit großen Plakaten nicht vermitteln. 1 Franken Gebühr für das Pissoir – das ist eben ein Bruch uralter Grundrechte und wird vom freien Schweizer als persönlicher Angriff empfunden.

Apropos Angriff: Wenn es einmal wirklich schlimm kommen sollte, dann stehen in der „Zivilschutzanlage“ über der S-Bahn 900 Plätze bereit. Weiter draußen, unter den Gleisen der Fernbahn soll ein noch größerer Bunker versteckt sein. Aber dieses Reduit ist so geheim, daß niemand verraten will, wieviel der 2800 Bahnhofsbediensteten sich dorthin im Ernstfall zurückziehen werden.

Kein Geheimnis ist dagegen, daß es in Friedenszeiten keinen vernünftigen Grund gibt, „Zürich HB“ überhaupt zu verlassen. Die Plakate des Verkehrsvereins sind allemal schöner als die wirkliche Schweiz. Und wenn irgendwo ein Trachtenfest gefeiert wird, kommen die Appenzeller Alphornbläser ja ohnehin durch Zürich und geben vor einem der Bahnsteige ein Ständchen.

Außerdem gibt es keine Schweizer Spezialität, die nicht im Zürcher Hauptbahnhof verkauft würde. Das alte Bahnhofsbuffet z.B. bietet nicht nur einen Ausblick auf Jugendstil-Girlanden, sondern auch feinste „Öpfelchüechli“ mit Vanillecreme. „Wer allerdings ein Gläschen Rotwein und ein Gnagi bevorzugt, ist hier fehl am Platz“, bedauert der Chef de Service – aber das macht nichts. Wer unbedingt wissen will, was ein „Gnagi“ ist, kann ja in der „Rösti-Bar“ nachfragen. Oder im „Läckerli Huus“. Vielleicht auch in der Milchbar „Sännebueb“?

Versorgt werden die Restaurants aus dem Untergrund. Die Küchen, Bäckereien und Metzgereien dort sind wiederum mit der zentralen unterirdischen Anlieferung unter dem Ostportal verbunden. SBB und Stadt Zürich ließen es sich 48 Mio. Franken kosten, die rund 1000 HB-Lieferanten unter die Erde zu bringen und bei dieser Gelegenheit auch die Müllabfuhr neu zu organisieren. In zwei Entsorgungszentralen werden jetzt täglich 1,3 Tonnen „Betriebskehricht“ getrennt. Aus den 15 Tonnen Kaffeesatz, die jährlich im Bahnhof anfallen, entsteht wertvolle Komposterde.

All diese Errungenschaften aber sind nichts gegen das Zentrum des Ganzen: die alte Haupthalle. Die Entwürfe dafür von Gottfried Semper waren den Zürchern nicht gut genug gewesen – von 1865 bis 1871 durfte dann der Architekt Friedrich Wanner diesen Eisenbahndom bauen. Mit 43 Meter Breite und 169 Meter Länge ist es bis heute die größte öffentliche Halle in der Schweiz.

Halle im Hauptbahnhof Zürich
Halle im Hauptbahnhof Zürich (Aufnahme vom 11.06.2013)

Seit 1933 fahren die Züge nicht mehr in die Halle, sondern halten davor. Die Halle wurde mit Schaltern, Gepäck- und Diensträumen und einem Kino verschandelt – bis 1983 entschieden wurde, alle Einbauten herauszureißen. Das Volk genehmigte ausnahmsweise anstandslos, die SBB-Büros und Schalter in einem neuen Gebäude an der Nordseite des Hauptbahnhofs, also gegenüber des Schweizer Landesmuseums unterzubringen. Dafür legte aber der Heimatschutz Rekurs ein.

Der Einspruch der Denkmalschützer brachte einen vierjährigen Planungsstop. Die Steine der Nordwand der alten Haupthalle mußten einzeln abgetragen und numeriert werden. Für die Gepäcksortierung mußten millionenteure Provisorien errichtet werden. Die Bähnler saßen in engen Containern, litten unter Staub und Lärm und haßten den Heimatschutz.

SBB-Lokomotive in Zürich
SBB-Lok, designed by Pininfarina, fährt in Zürich ein

Schließlich erbarmte sich der Bundesrat und wies den Rekurs zurück. Der dreistöckige „Nordtrakt“ für das „Bahnreisezentrum“, den Bahnhofsinspektor und das Personalrestaurant konnte endlich hochgezogen werden. Seit Oktober 1996 sind die neuen Anlagen schon in Betrieb – die SBB wollen es sich aber nicht nehmen lassen, den Abschluß der fast 20 Jahre dauernden, gut eine Milliarde Franken teuren Umbauarbeiten groß zu feiern.

Am 8.8.1997, dem 150. Geburtstag der SBB, wird der Hauptbahnhof offiziell eingeweiht werden. Zur Feier des Tages wird ein Nachbau der Spanisch-Brötli-Bahn (der ersten Schweizer Eisenbahn) über ein extra verlegtes Gleis unter einem Wandbild des Künstlers Mario Merz hindurch in die auf Hochglanz gebrachte Haupthalle dampfen. Zu diesem Spektakel werden mehr Besucher erwartet, als das Landesmuseum je gesehen hat. Geschieht dem Heimatschutz ganz recht.

Bis zu diesem „grossen Jubiläumsanlass“ hat das Volk genügend Zeit, sich um die wirklich wichtigen Dinge zu kümmern: Ein Zürcher Stimmbürger schrieb dem Bundesrat, die Jugend lege in der Bahn die Füße auf die Sitzbänke. Die Schweizer Bundesregierung solle dagegen „zum Wohl der Allgemeinheit etwas unternehmen“.

Martin Ebner


 


Foto: Main station Zurich, Switzerland; Ĉefstacidomo en Zuriko, Svislando; Hauptbahnhof Zürich, Schweiz

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Texts of timeless beauty. Or at least some historical interest.