Roman virile lamps in Naples

Zensur: Kampf um Nacktheit in der Kunst

About: Conflicts about nude antique sculptures
Pri: Konfliktoj pri senvestaj antikaj skulpturoj
Published, Aperis: Südkurier, 26.08.2000


Feige Blätter: Eine Ausstellung der Münchner Glyptothek dokumentiert die Verfolgung von Venus und Amor

Ein Satyr, im Rausch in den Schlaf gesunken: der „Barberinische Faun“ ist eines der Hauptstücke der Münchner Antikensammlung. Diesen Sommer können seine gespreizten Beine gottlob keinen Anstoß erregen; ein großes, grün lackiertes Blatt aus Blech bedeckt seine Leibesmitte. Eine Sonderausstellung der Glyptothek rekonstruiert, wie um die Jahrhundertwende antike Statuen präsentiert wurden. Sie zeigt die grotesken Anstrengungen zur züchtigen Verhüllung der nackten Leiber aus Marmor oder Bronze.

Nicht, dass die Menschen der Antike keine Scham gekannt hätten. Sich nackt in den Park zu legen oder außerhalb des Sportplatzes ohne Kleider herumzulaufen, wäre den alten Griechen nie eingefallen; auch die alten Römer haben nicht ständig Orgien gefeiert. Die antiken Künstler fanden jedoch nichts dabei, schöne Menschen ganz nackt abzubilden. Bei den klassischen Skulpturen sind die Genitalien zwar meist recht klein und nicht allzu detailliert, aber doch viel zu deutlich für christliche Augen.

Vor allem die antike Liebesgöttin galt vielen Kirchenlehrern als Verkörperung des Teufels. „Zu welch wunderlichen Ritualen die Angst vor der nackten Venus und ihrer dämonischen Macht im Mittelalter führen konnte, zeigt der ausgestellte Torso aus Trier“, schreiben die Ausstellungsmacher Peter Prange und Raimund Wünsche zu einem Exponat, dem besonders übel mitgespielt wurde: Was heute wie ein überdimensionierter runder Kieselstein aussieht, war einmal eine schöne Venusstatue, die in Trier neben der Klosterkirche aufgestellt und dem „Heidenwerfen“ preisgegeben wurde. „Fromme Pilger, die anderen und sich selbst ihre Abneigung gegenüber allem Sinnlichem beweisen mussten, malträtierten die Statue dort regelmäßig mit Steinwürfen.“ Erst 1811 wurde der klägliche Überrest begnadigt und ins Museum gebracht.

Bei heidnischen Skulpturen, die nicht gleich zusammengeschlagen wurden, mussten die Lenden verhüllt werden. Da echte Feigenblätter mit ihren ausladenden Formen und tiefen Einschnitten schlecht geeignet sind, irgendetwas zu verbergen (Adam und Eva sollen laut Altem Testament mehrere Feigenblätter zu einem Schurz zusammengeheftet haben), wurden dazu meist Wein-, Ahorn- oder irgendwelche Fantasieblätter genommen. Erst in der Renaissance fielen die Hüllen wieder.

Die Antikenbegeisterung im 15. und 16. Jahrhundert führte nicht nur dazu, dass eine Menge antiker Statuen wiederentdeckt wurde, oft ohne Kleider und immer ohne Feigenblatt, sondern auch zu einem unbefangeneren Bild des menschlichen Körpers in der abendländischen Kunst. Selbst christliche Heilige, ja sogar Christusfiguren wurden unbekleidet dargestellt. Michelangelo zum Beispiel fertigte 1521 für ein römisches Grabmahl einen nackten Jesus mit Kreuz an.

Diese Freizügigkeit war allerdings nicht von langer Dauer. Michelangelos Jesus bekam nach heftigen Kontroversen einen Lendenschurz verpaßt. In Belgien wurde ein Bildhauer, der eine Kopie des Michelangelo-Christus gemeisselt hatte, am Pranger erwürgt und sicherheitshalber auch noch verbrannt. Sogenannte „braghettoni“ (Hosenmaler) bekleideten die nackten Figuren, die Michelangelo auf die Stirnwand der Sixtinischen Kapelle gemalt hatte, mit Gewandzipfeln. Als deutsche Protestanten, von der Verkommenheit des päpstlichen Hofes überzeugt, das Gerücht verbreiteten, ein Spanier habe sich an der nackten Statue der Gerechtigkeit auf dem Grabmahl Papst Paul III. vergriffen, bekam die Justitia im Petersdom ein Metallkleid. Für ein großzügiges Trinkgeld an die Aufseher zog sich Justitia allerdings immer wieder für kurze Zeit aus.

Derart frivole Vorführungen wollte der römische Prinz Giovanni Battista in seiner Villa Pamphili wohl verhindern. Jedenfalls ließ er 1660 seine Venus-Statuen, deren Rundungen zuvor Papst Innozenz X. erfreut hatten, mit einem Stuckgewand bekleiden – zumindest die Vorderseite, der nackte Hintern war zur Wand gedreht. Bei einer der Statuen, die jetzt in München ausgestellt sind, ist das Kleid später wieder abgefallen. Nun ist sichtbar, dass die Moralapostel nicht davor zurückgeschreckt waren, die Oberfläche der Statue aufzurauhen, also zu zerstören, um der Verhüllung einen besseren Halt zu verschaffen.

Von Rom ausgehend wurde besonders ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Nacktheit antiker Bildwerke auch in den Museen als anstößig empfunden. Von Madrid bis St. Petersburg, von Italien bis England wurde in allen großen Sammlungen eifrig verhüllt und übermalt. In München ließ König Ludwig I. in seiner Glyptothek den Jünglingen und Heroen Feigenblätter umhängen; die Schönheitsgöttinnen verschonte er.

Als sich herausstellte, dass die Feigenblätter verrutschen oder gar von den nun erst recht neugierigen Besuchern gelüftet werden konnten, wurden sie mit zusätzlichen Drähten an den Oberschenkeln befestigt, nicht zu vergessen den „Sicherungsdraht durch die Gesäßfalte“. In der Glyptothek hat sich keine dieser Drahtwindeln erhalten, sie konnten aber aufgrund von Rostspuren rekonstruiert werden.

Das Bemühen der Zensoren „entbehrt nicht einer gewissen Komik, doch für die Verhüllung der Nacktheit war kein Preis zu hoch“, erläutern die Ausstellungsmacher und führen als weiteres Beispiel ein Gemälde von 1550 an. Lucas Cranach hatte Venus und Amor in natürlicher Schönheit gemalt; nach der Übermalung war daraus eine bekleidete christliche Heilige und ein ebenfalls rundum angezogener Jesusknabe geworden – allerdings „irritierte der auffordernde Blick der Heiligen, der Venus gut zu Gesicht stand, den Betrachter“.

In der Glyptothek fielen die Blechblätter den Besuchern zunächst kaum auf. Das änderte sich um 1890. Ein Mord im Berliner Zuhältermilieu erregte die Presse, die „anstößige Berichterstattung“ empörte wiederum Politiker, nicht zuletzt Kaiser Wilhelm II. höchstselbst. Im Reichstag wurden verschiedene Anträge zur Verschärfung der „Sittlichkeitsgesetzgebung“ eingebracht. In der Folge kam es zu heftigen Auseinandersetzungen um den „Kunst- und Theaterparagraphen“ eines „Lex Heinze“ genannten Gesetzesentwurfs, der jede öffentliche Darstellung von Nacktheit für sittenwidrig erklärte. Eine Prozesswelle rollte über das Deutsche Reich; betroffen waren nicht nur Pornographen, sondern auch Kunst- und Buchhandlungen, die zum Beispiel Postkarten mit Werken von Michelangelo oder Rubens verkauften. Die Glyptothek wurde wegen der „erotischen Ausstrahlung“ bestimmter Exponate für Besucher unter 18 Jahren gesperrt.

Vor allem in München formierte sich aber auch Widerstand gegen die „Lex Heinze“. Nach einer großen Protestversammlung im Bürgerbräu wurde der „Goethebund zum Schutz freier Kunst und Wissenschaft“ gegründet. Für die Verteidiger der künstlerischen Freiheit avancierten die verdeckten Unterleiber in der Glyptothek zum Symbol für Beschränkung und Zensur in der Kunst.

Für die satirischen Zeitschriften „Simplizissimus“ und „Jugend“ waren die Blech-Blättchen ein gefundenes Fressen. „Um auch weitgehenden Ansprüchen zu genügen“ schlug ein Karikaturist vor, Adonis und den Barberinischen Faun mit Lederhosen, Ariadne und Venus mit Dirndl-Kleidern auszustatten. Eine andere Zeichnung zeigte den „Waschtag im Paradies“: Zwei Feigenblätter hängen an der Leine zum Trocknen. Und warum die Feigenblätter nicht gleich auf der Brille des Betrachters auftragen? Der Münchner Schriftsteller Christian Morgenstern schrieb, in der Glyptothek seien Feigenblätter „so freigiebig verstreut, als hätte ein Orkan in einem Feigenbaumwald gewütet“ und verhöhnte die Sammlung als „Kryptothek“, also als „Ausstellung von Verborgenem“

Nach 1900 legte sich der Sturm wieder, als die „Lex Heinze“ in einer deutlich entschärften Form verabschiedet wurde. Die Feigenblätter blieben zunächst hängen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg begann in ganz Europa das große „Blattsterben“. Heute werden selbst in den Vatikanischen Museen Feigenblätter, die aus Altersschwäche abfallen, nicht wieder ersetzt. Sittenstrenge Museumsbesucher finden jedoch Zuflucht im islamischen Kulturkreis: Im Jemen wurden unlängst antike Statuen erst mit Jeanshosen provisorisch bekleidet, dann verschwanden ihre männlichsten Teile hinter festen Blättern aus Bronze.

Martin Ebner

„Das Feige(n)blatt – Nacktheit in der Kunst“ war eine Ausstellung in der Glyptothek München bis 29. Oktober 2000.


 


Foto: Museum MANN in Naples, Italy: With these Roman lamps little fig leaves wouldn’t do.  Romaniaj lampoj en muzeo en Napolo, Italujo: figfolietoj ne sufiĉus. Museum MANN in Neapel, Italien: Mit kleinen Feigenblättern wäre es bei diesen römischen Lampen nicht getan.

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