About: Following the traces of the Chettiars, an Indian merchant-banking caste in Singapore
Pri: Sur ŝpuroj de Chettiar-bankistoj en Singapuro
Published, Aperis: d’Lëtzebuerger Land, 22.06.2012
Auf den Spuren indischer Geldleiher in Singapur
Was bleibt nach dem Crash von einem Bankenimperium übrig? Im Büro des Chettiar-Tempels in Singapur fühlt man sich für diese Frage überhaupt nicht zuständig. Ja, das stimme schon – der prächtige Turm zu Ehren von Lord Murugan, dem Siegesgott, sei vor 150 Jahren von Geldleihern erbaut worden. Die heutigen Chettiars seien aber ganz normale Menschen: Beamte, Lehrer, Angestellte, sicher auch der eine oder andere Banker. Schon lange sei die Chettiar-Kaste nicht mehr auf Finanzgeschäfte spezialisiert.
Zum Glück sind nicht alle so zugeknöpft. Das Nationalmuseum Singapurs und das Asian Civilisations Museum haben beide kleine Abteilungen zu den Chettiars eingerichtet: Boxen, die einst Karteikarten zur Kreditdokumentation, Stempel und Siegel verwahrten; große Truhen aus Teakholz, die als Bücherschränke und Betten dienten; urige Fotos von ernsten Männern, die mit ihren rasierten Köpfen, weißen Streifen im Gesicht und nackten Oberkörpern heute vielleicht nicht mehr auf den ersten Blick als Bankiers erkannt würden. An der Uferpromenade sitzt dem Bankenviertel gegenüber ein lebensgroßer Geldleiher aus Bronze. Immerhin gelten die Chettiars als die Gründer des Finanzplatzes Singapur.
Die umtriebigen Tamilen waren ursprünglich Salzhändler in der Region Chettinad im südindischen Staat Tamil Nadu. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sattelten sie um auf Kreditgeschäfte. Von der Justiz der europäischen Kolonialherren wurden ihre Finanzinstrumente, vor allem Hundi-Schecks, weder verstanden noch anerkannt. Das hinderte die Chettiars nicht daran, sich im Gefolge des British Empire über ganz Südostasien auszubreiten. In Sri Lanka finanzierten sie Tee- und Kokospflanzungen, in Malaya ließen sie Zinnminen und Gummiplantagen entstehen, Burma verwandelten sie in die Reisschale Asiens. Von Mauritius bis Vietnam kontrollierten sie einheimische Geldmärkte, Kredit- und Warenströme.
Die Großfamilien der Chettiars, jeweils drei, vier Generationen unter der Führung des ältesten aktiven Mannes, operierten dabei als kommerzielle Banken. Sie sammelten Gelder von europäischen Banken, die sich nicht mit einheimischen Kleinkunden abgeben wollten, Einlagen von Sparern und Darlehen anderer Chettiars und recycelten sie zu Krediten, vor allem für die Landwirtschaft.
Über Heiraten, den Austausch der Kinder als Lehrlinge und gemeinsame Rituale waren diese Familienunternehmen eng miteinander verbunden. „Im Ergebnis entstand ein einheitliches Bankensystem“, hat der Anthropologe David Rudner herausgefunden: „Die Chettiars hatten viel günstigeren Zugang zu Kapital als andere und Zugriff auf das gesamte Vermögen ihrer Kaste.“ Rudner nennt das „rationalen Kollektivismus“, eine spezielle Form des Kapitalismus.
Eine Zentralbank brauchten die Chettiars nicht: Die Zinsen für „laufende Einlagen“ wurden wöchentlich in den Murugan-Tempeln ausgehandelt; daran orientierten sich die Bedingungen für zwei- bis sechsmonatige Festgeld-Einlagen. Als Clearinghäuser fungierten die reichsten Patrone, die Adathis, die überall Agenten hatten. Ihr wichtigster Vermögenswert war Sakh, Vertrauenswürdigkeit und ein guter Ruf.
In Singapur, wo die Geldleiher um 1820 aktiv wurden, gab es in der Market Street sieben große Kittangi-Häuser. In diesen lang gestreckten Gebäuden hatten rund 400 Chettiar-Firmen ihre Vertretungen, das heißt spartanisch eingerichtete Büros, die den Agenten gleichzeitig als Schlafzimmer dienten. „Sie hatten eine ziemlich protestantische Ethik“, erzählt im Nationalmuseum Subliah Lakshmanan, der Urenkel eines Bankiers: „Es gab strikte Regeln. Am Nachmittag wurden die Gelder eingesammelt, um 19 Uhr musste alles verbucht sein, und um 20 Uhr wurden die Haustüren abgeschlossen.“ Nach jeweils drei Jahren Dienst im Ausland durften die Chettiars, allesamt Männer, für ein Jahr zurück nach Indien, wo Frauen und Kinder unter der Aufsicht der Familienpatrone geblieben waren.
Die Agenten hatten bei der Vergabe der Gelder weitgehend freie Hand. Akkurate Buchführung, Inspektionsreisen der Patrone und der rege Informationsaustausch in den Tempeln sorgten jedoch für Ehrlichkeit und eine geringe Ausfallrate. Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wird der Anteil uneinbringlicher Forderungen am gesamten Geschäftsvolumen der Chettiars auf 0,5 Prozent geschätzt.
Gegen die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre halfen aber weder asketische Filialen noch die rigide soziale Kontrolle. Als die Preise für Reisfelder und Rohstoffe ins Bodenlose fielen, konnten viele Schuldner nicht einmal mehr die Zinsen zahlen. In Burma, wo die Chettiars zwei Drittel ihrer Gelder investiert hatten, wurden sie durch Zwangsvollstreckungen zu den größten – und verhasstesten – Landbesitzern. Vor dem Einmarsch der Japaner flohen sie 1942 nach Indien; nach dem Krieg wurde ihnen die Rückkehr nach Burma verwehrt.
Die Chettiars dienten Nationalisten lange als Sündenböcke für alle Übel des Kolonialismus. Erst seit Kurzem werden sie gnädiger gesehen: Ihre Zinsraten seien viel tiefer gewesen als die einheimischer Wucherer. Von der Enteignungswelle haben sie sich jedenfalls nie mehr erholt. Die meisten Angehörigen der Kaste wechselten in andere Berufe, als die Konkurrenz durch moderne Banken immer größer wurde. Nur eine Handvoll der reichsten Chettiars wurde in Indien zu Industriellen.
In Singapur wurden die Kittangis um 1970 abgerissen. Erst später kamen Stadtplaner auf die Idee, fotogene alte Häuser für Touristen stehen zu lassen. An Singapurs Chettiars erinnert nun fast nur noch der Murugan-Tempel: Zu Jahresanfang endet dort die Thaipusam-Prozession, bei der sich gläubige Hindus Spieße in den Körper treiben. Südindien profitiert dagegen heute noch von den Nattukkottai Chettiars, den „Leuten mit Palästen auf dem Land“: Die prunkvollen Anwesen, die sie sich einst im indisch-westlichen Mischstil erbauen ließen, ziehen immer mehr Besucher an. Vielleicht sollten auch europäische Banker an ihren Nachruf denken und mehr in ihre Villen investieren.
Lesestoff und Links (lasts update: 27.04.2014):
– Medha Malik Kudaisya: „Chinese and Indian Business: Historical Antecedents“, Brill, Leiden 2009.
– Sean Turnell: „Parching the Land? The Chettiars in Burma“, abrufbar über die Homepage der Macquarie-Universität: www.econ.mq.edu.au
– „Caste and Capitalism in Colonial India: The Nattukottai Chettiars“ von David West Rudner ist vollständig im Internet zu lesen: http://ark.cdlib.org/ark:/13030/ft88700868/
– Chettiar-Tempel in Singapur: www.sttemple.com
Foto: Monument to the financial center of Singapore through the ages, by sculptor Chern Lian Shan. Monumento de Chern Lian Shan en Singapuro: Bankistoj de diversaj tempoj. Denkmal des Bildhauers Chern Lian Shan für den Finanzplatz Singapur. Auf dem Boden sitzt ein Chettiar-Banker