Sonnenblumen

Blumen statt Erdöl: die Chemiewende kommt langsam in Gang

About: Exit of the chemical industry from fossil ressources
Pri: La kemia industrio returnas al plantoj, kvankam malrapide
Published, Aperis: Südwestpresse, 12.11.2016


Pflanzen sind die besten Fabriken. Die Chemiewende kommt trotzdem nur langsam in Gang.

Dreck in Gold verwandeln: das hat die Chemie-Industrie groß gemacht. Angefangen hat sie mit Anilinfarben aus Steinkohleteer, einem stinkenden Abfall der Stahlherstellung; später fuhr sie mit Waschmitteln und Pestiziden, Medikamenten und Kunststoffen aus Erdöl märchenhafte Profite ein. Dumm nur, dass die Geschäfte nicht ewig so weiterlaufen können: Fracking verzögert zwar das Ende der fossilen Rohstoffe, macht es aber nicht weniger unausweichlich. Umwelt- und Klimaschutz-Diskussionen zehren an den Nerven. Mikrotechnologie ermöglicht kleine, dezentrale Produktionsanlagen und verbilligt Chemikalien aus Biomasse. Straucheln nach den Energie-Konzernen bald auch die Chemie-Multis?

Die Chemie-Branche ist von nicht erneuerbaren Ressourcen sogar noch abhängiger als Energie und Verkehr. In Deutschland entfallen auf Kohle, Erdöl und Erdgas rund 78 Prozent des Primär-Energieverbrauchs – aber fast 90 Prozent des Stoffbedarfs der Chemie-Industrie. Eigentlich ein Irrwitz: Kohlenwasserstoffe sind reaktionsträge und einfache Moleküle. Nur mit brachialer Gewalt, mit hohen Temperaturen und aggressiven Reagenzien, lassen sich daraus anspruchsvollere Produkte fabrizieren. Das verschlingt enorme Energiemengen. Selbst ohne Dioxin-Katastrophen, Explosionen oder andere „Störfälle“ sind die dabei eingesetzten Stoffe gefährlich, etwa Chlorgas, Ozon oder Nitriersäure. Nebenprodukte und Abfälle sind meist giftiger Sondermüll. Von Kriegen, Tankerunfällen und anderen unappetitlichen Begleiterscheinungen der Erdölwirtschaft ganz zu schweigen.

Das Freiburger Öko-Institut, das im Jahr 1980 den Begriff „Energiewende“ ins Spiel brachte, fand schon 1992, es brauche auch eine „Chemiewende“. Seither geistern „umweltfreundliche, gesundheitlich unbedenkliche Chemikalien“ durch grüne Wahlprogramme, gerne kombiniert mit Forderungen nach einem PVC-Verbot. Wissenschaftler legen der Industrie neue Geschäftsmodelle nahe, zum Beispiel statt möglichst vielen Desinfektionsmitteln lieber die Dienstleistung „Keimfreiheit“ und Chemikalien-Leasing verkaufen. Am Institut für Nachhaltige Chemie der Universität Lüneburg predigt Professor Klaus Kümmerer, neue Moleküle sollten von Anfang an biologisch abbaubar entwickelt werden. Dass die Chemie grüner werden müsse, meint auch die EU-Kommission, die 2005 ein Konzept für eine „wissensbasierte Bioökonomie“ veröffentlichte.

Ein hartnäckiger Verfechter einer „sanften Chemie“ ist der deutsche Unternehmer Hermann Fischer. Bereits während seines Studiums hatte er 1974 Livos mitbegründet, den ersten industriellen Hersteller von Naturfarben. Nach dem Scheitern dieses Selbstverwaltungsexperiments gründete er 1983 die Firma Auro Pflanzenchemie, die heute in Braunschweig ökologisch korrekte Farben und Reinigungsmittel produziert. Die Chemiker-Zunft nervte Fischer zunächst mit Ausführungen zur Kriegs- und Giftgas-Geschichte ihres Fachs. Dann verlegte er sich auf ebenso unwillkommene Vorträge und Bücher zur Umstellung auf „solare Grundstoffe“. Den Ehrgeiz seiner Kollegen, die Natur mit immer neuen Substanzen zu übertrumpfen, hält Fischer für „Allmachtsphantasien“. Er plädiert für mehr Respekt gegenüber den Leistungen der Biosphäre, ja für „Demut und Liebe“.

Zu den bereits mehr als 118 Millionen synthetischen Chemikalien und erst recht zu dubiosen Produkten der Gentechnik gebe es keine Langzeit-Erfahrungen, warnt Fischer: Nebenwirkungen würden oft erst nach Jahrzehnten bekannt, siehe zum Beispiel FCKW und Ozonloch. Pflanzliche Stoffe seien dagegen über Jahrmillionen in Wechselwirkung mit ihrem natürlichen Umfeld evolutionär getestet worden. Die Energie für ihre Herstellung liefert die Sonne – und bei der Fotosynthese entsteht kein giftiger Abfall, sondern bloß Biomasse und Sauerstoff. Wenn es nach Fischer geht, sollen Chemikalien von Pflanzen produziert werden, denn die könnten Kreislaufwirtschaft am besten.

Heute sind bereits rund 10.000 Pflanzenstoffe genauer bekannt. Für praktisch jedes Bedürfnis sieht Fischer ein Kraut gewachsen: Farben aus Wurzeln, Wachse aus Blättern, Öle aus Samen, Gummi aus Harzen, Fette aus Früchten, Duftstoffe aus Blüten. Kunststoffe können auch aus Milchsäure gefertigt werden. Vielfalt ist für Fischer der Hauptvorteil der Natur: Wichtige Materialien wie Fasern oder Eiweiße lassen sich aus unterschiedlichen, untereinander austauschbaren Gewächsen gewinnen. Das erhöhe die Versorgungssicherheit und mache Erpresser-Kartellen einen Strich durch die Rechnung: „Pflanzenchemische Grundstoffe schaffen eine völlig andere, geradezu befreiende Situation.“

Von „Grundstoffen“ spricht Fischer deshalb, weil komplexe Pflanzenmoleküle nicht als „dumme Kohlenstoffquelle“ missbraucht, sondern möglichst unverändert verwendet werden sollten. Biomasse könne man zwar auch einfach verbrennen oder wie die Rohstoffe der Petrochemie behandeln – entgehe dann aber nicht den alten Problemen. Wird zum Beispiel Camphen aus Nadelbäumen, ursprünglich wohlduftend und biologisch gut abbaubar, mit Chlorgas traktiert, dann ergibt das Toxaphen – ein mittlerweile verbotenes Insektizid, das mit DDT und PCB zu den umweltgefährlichsten Stoffen gehört.

Die Sorge, Chemikalienproduktion könne Nahrungsmittel verknappen, hält Fischer für übertrieben, so lange weltweit mehr Flächen für Rasen als für Äcker verbraucht werden. Sein Liebling, die Färbepflanze Reseda, braucht keinen Dünger und kaum Wasser und lebt genügsam auf Bahndämmen. In anderen Fällen will Fischer Konkurrenz durch Mehrfachnutzung mildern: Lein kann gleichzeitig Öl für Bodenbeläge, Fasern für Dämmstoffe und Saatkuchen für Futtermittel liefern. Außerdem vertrage sich Biolandwirtschaft bestens mit Hightech: Kleine Roboter könnten die Arbeitsintensität so verringern, dass sich auf einem Feld „Nahrungs-, Energie- und Chemie-Pflanzen zum gegenseitigen Nutzen miteinander kombinieren“ lassen. Mischfruchtanbau statt Mais-Monokulturen!

Eine kleine „Fabrik im Vorgarten“, die Pflanzen aus der Umgebung zu Treibstoff und Chemikalien verarbeitet, sei bereits heute möglich, betont Fischer, der sich vom Karlsruher Institut für Technologie einen Mikroreaktor entwickeln ließ: „Skaleneffekte von Großtechnologien verlieren an Bedeutung.“ Die Flexibilität und Wirtschaftlichkeit von Anlagen, die auf einen LKW-Anhänger passen, sei von batchweise arbeitenden Industrie-Giganten nicht einmal ansatzweise erreichbar, ist Fischer überzeugt: „Die Zeit der fossilen Dinosaurier ist vorbei.“ Bis zum Jahr 2050 sollte der „Stoff-Wechsel“ geschafft sein.

BASF, Bayer & Co. haben es allerdings nicht eilig mit Aussterben. Die Chemie-Konzerne wollen ihre alten Anlagen amortisieren. Biomasse? Ja, durchaus – aber bitte nicht so schnell… Karl-Ludwig Kley, der Präsident des Verbands der Chemischen Industrie, meint, dass wir noch „Generationen brauchen, bis eine nur auf nachwachsenden Rohstoffen basierende chemische Industrie überhaupt denkbar ist“. Das Grünzeug soll an die Petrochemie angepasst werden: Die 200 Mitglieder des 2012 gegründeten Konsortiums der biobasierten Industrie versprechen vage, bis 2030 in Europa „mindestens 30 Prozent der ölbasierten Chemikalien und Materialien durch biobasierte zu ersetzen“. Von 2014 bis 2020 werden dafür 3,7 Milliarden Euro investiert, wovon die EU-Kommission 975 Millionen Euro aus Mitteln des Horizon-Forschungsprogramms zuschießt.

Bislang tut sich in der EU nicht allzu viel, denn bis 2020 werden vor allem Bio-Kraftstoffe gefördert, nicht stoffliche Nutzungen. Das Ende des Zucker-Quotensystems im kommenden Jahr könnte die Bio-Chemie beflügeln: Mit Zucker könnte auch Biokunststoff billiger werden. Erst muss aber das „Tal des Todes“ zwischen Labor und Industrie überwunden werden. Im holländischen Biobased Delta wurde deshalb in Delft eine 5.000 Quadratmeter große, semi-industrielle Pilotfabrik gebaut. Im BioEconomy Cluster Mitteldeutschland entsteht in Leuna eine Pilotanlage, die pro Jahr 100 Tonnen Isobuten aus Biomasse fertigen kann.

Außerhalb Europas gibt es bereits größere Fabriken. Im kanadischen Sarnia etwa produziert BioAmber pro Jahr 30.000 Tonnen Bernsteinsäure aus Mais. In den USA gilt „bio bevorzugt“: Bei größeren öffentlichen Anschaffungen muss jeweils das Material mit dem höchsten Anteil nachwachsender Rohstoffe gewählt werden. Längst geht es nicht mehr nur darum, in der heimischen WG-Badewanne Wollsocken zu färben: Der Eintritt zur Fachmesse Bio-Based Live, Ende September in San Francisco, kostete 1.645 US-Dollar.

Vielleicht werden aber doch Ökopaxe mit einfach-genialen Ideen das Rennen machen. In Berlin sucht die Künstlerin Ayumi Matsuzaka gerade 100 Familien, um einen „Windelkreislauf“ aufzubauen: Kompostierbare Babywindeln sollen zu Humus für Obstbäume werden, die dann wieder Windeln und Kindernahrung liefern. Kommunen hätten ein Müllproblem weniger, und die Chemie-Industrie könnte nicht mehr so viel Plastik verkaufen. Matsuzaka hat ausgerechnet, dass ein Baby pro Monat Dreck für mehr als 30 Liter Erde macht. Viel zu schade zum Wegschmeißen.

Grüne Chemikalien
Petrochemie hat seit rund 150 Jahren nicht nur natürliche Materialien verdrängt, sondern auch viel Wissen dazu. Für fossile Rohstoffe gibt es aber oft bereits moderne Alternativen aus Biomasse:
– Für biobasierte Produkte trommelt die deutsche Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe: www.fnr.de
– Biokunststoffe für Technik-Anwendungen sind in einer Datenbank der Hochschule Hannover zu finden: www.materialdatacenter.com
– Zu Naturfarbstoffen informiert zum Beispiel das private Institut für Färbepflanzen: www.dyeplants.de
– Nachrichten aus der Welt mehr oder weniger grüner Chemikalien gibt es hier (nur auf Englisch): www.biobasedworldnews.com
– In Köln soll dazu im Februar 2017 Europas erste Fachmesse stattfinden: www.biobasedworld.de

Für eine „sanfte“ Chemie kämpft seit Jahrzehnten der Farbenproduzent Hermann Fischer. Sein Buch „Stoff-Wechsel. Auf dem Weg zu einer solaren Chemie für das 21. Jahrhundert“ ist im Münchner Kunstmann-Verlag erschienen.

Martin Ebner


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Fleißiger Schmetterling

Foto: Sunflowers. Sunfloroj. Sonnenblumen in der Nutzpflanzen-Ecke des Botanischen Garten Zürich, Schweiz

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