About: Report about Taiwan
Pri: Reportaĵo pri Tajvano
Published, Aperis: d’Lëtzebuerger Land, 22.08.2012
Farbenspiele im Pazifik: um Taiwan ringen Blau und Grün und Rot
Wer auf zackige Bewegungen steht, ist in Taipei richtig: Jede Stunde lösen sich Wachen vor der 16 Meter hohen Bronzestatue des Generals Chiang Kai-shek ab. Ebenfalls stündlich werden die schneidigen Soldaten vor dem Denkmal des Revolutionärs Sun Yat-sen ausgetauscht. Wem das nicht reicht, der kann den Schülerinnen der Taipei First Girls‘ Highschool beim Exerzieren mit Gewehren zuschauen. Oder beim morgendlichen Flaggenhissen. Unklar ist, welchem Land die patriotischen Übungen eigentlich gelten.
Auf den Inseln, die bei der Welthandelsorganisation „Separate Customs Territory of Taiwan, Penghu, Kinmen and Matsu“ heißen, befehden sich zwei Lager. Die blaue Flagge der Kuomintang-Partei (KMT) weht vor allem für die Nachfahren der rund zwei Millionen chinesischen Nationalisten, die 1949 mit Chiang Kai-shek nach Taiwan flohen und dort eine Militärdiktatur errichteten. Sie betrachten sich als Bürger der vor 100 Jahren gegründeten Republik China, von der sich die Volksrepublik unrechtmäßig abgespalten habe. Ihr Hochchinesisch schreiben sie mit traditionellen Schriftzeichen, nicht mit den Kurzkrakeln der Kommunisten. Ihrer Auffassung nach haben sie Kapital und Know-How in die einst nur von Bauern und Piraten bewohnte Provinz Taiwan gebracht, die sich eines schönen, aber hoffentlich nicht allzu nahen Tages wieder mit dem rückständigen Mutterland vereinigen werde. Auf die Mongolei und Teile Russlands erheben sie kaum noch Ansprüche, sie verteidigen aber das südchinesische Meer gegen Vietnam, die Philippinen oder wen auch immer.
Der grünen Fahne der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) folgen dagegen vor allem Hoklo und Hakka, das heißt Chinesen, die bereits vor Jahrhunderten aus den chinesischen Provinzen Fujian und Guangdong nach Taiwan eingewandert sind. Sie sprechen Dialekte, für die es zum Teil eigene Schriftzeichen gibt. Sie fühlen sich als Taiwaner: Seit der ersten freien Präsidentenwahl im Jahr 1996 sei Taiwan unabhängig von China, wenn nicht schon seit der japanischen Kolonialherrschaft von 1895 bis 1945. Dass die KMT zur Zeit des Kriegsrechts Tausende taiwanesische Ärzte, Lehrer und andere Eliten ermordete und ihre Sprachen verbot, haben sie nicht vergessen. Von engen Beziehungen zu Festlandchina halten sie nichts – ihnen wäre es lieber, der Rest der Welt würde ihr 23-Millionen-Einwohner-Land zur Kenntnis nehmen. Immerhin werden sie von der U-Bahn Taipei anerkannt; die Durchsagen sind neuerdings viersprachig.
Bei den Wahlen im Januar siegte Blau: Der KMT-Vorsitzende Ma Ying-jeou wurde mit knapp 52 Prozent der Stimmen für eine zweite Amtszeit als Präsident der Republik China bestätigt. Eine Rolle spielte dabei, dass sein DPP-Vorgänger gerade wegen Korruption für 20 Jahre im Gefängnis sitzt. Die Volksrepublik hatte diesmal den Wahlkampf nicht mit Raketenschüssen begleitet. Dafür mischten sich die USA massiv ein: Senior-Statesmen ergingen sich in dunklen Andeutungen, es würde bei einem Sieg der DPP-Kandidatin Probleme geben. Die Volksrepublik droht für den Fall einer Unabhängigkeitserklärung der „Provinz Taiwan“ mit Krieg – die USA hätten aber nicht unbedingt Lust, eine DPP-Regierung zu verteidigen.
Die DPP, die sich mit den USA verbündet wähnte, unterstellt nun Präsident Ma geheime Absprachen mit den Amerikanern. Dafür spricht, dass Ma die Einfuhr von US-Rindfleisch mit dem (in der EU verbotenen) Wachstumshormon Ractopamin erlauben will. Ma beteuert, das dubiose Fleisch sei die Bedingung für Freihandelsabkommen mit den USA und einen Beitritt Taiwans zur Trans-Pacific-Partnership. Seither sind die Popularitätswerte der Blauen im freien Fall. Zur Antrittsrede von Ma im Mai warfen aufgebrachte Bauern Mist und verfaulte Eier. Im Parlament versuchten DPP-Abgeordnete, die Rindfleisch-Abstimmung durch fünftägige Besetzung des Rednerpults zu verhindern.
Versuche, eine eigene taiwanesische Identität auszubilden, werden von der KMT nur noch halbherzig sabotiert. Von den Briefmarken der Republik China wurde der Zusatz „(Taiwan)“ wieder gestrichen. Die „Halle der taiwanesischen Demokratie“ wurde wieder in „Chiang Kai-shek Memorial-Hall“ umbenannt; die Geschichtsausstellung dort zeigt Chiangs Orden aus Belgien, Nicaragua und anderen obskuren Staaten, während die Volksrepublik nicht einmal erwähnt wird. Andererseits wurden von der DPP eingerichtete Gedenkstätten für die Opfer der KMT-Diktatur bislang nicht angetastet.
Rund um die Insel wurden gerade vier „Nationalmuseen“ eröffnet, die nicht China, sondern Taiwan im Namen führen: für Geschichte und für Literatur in Tainan, für Schöne Künste in Taizhong und für Traditionelle Künste in Luodong. Wie auch die Schau zum Geburtstag der Republik China vermitteln sie, was auf der Insel Konsens ist: Taiwan sei seit Jahrhunderten ein Schmelztiegel unterschiedlichster Kulturen und heute eine lebhafte Demokratie mit tadelloser Vergangenheitsbewältigung. Gewisse Länder auf der anderen Seite des Meeres sollten sich daran ein Beispiel nehmen.
Dass Taiwan bisher sehr sanft durch die Krise kam, ist dabei der Volksrepublik zu verdanken, dem wichtigsten Wirtschaftspartner. Die Kaufkraft der Taiwaner ist höher als die der Japaner, die Arbeitslosigkeit liegt bei 4 Prozent, es sind weniger Obdachlose zu sehen als in Europa. Seit Präsident Ma unter dem Motto „ein China, zwei Gebiete“ eine Öffnungspolitik betreibt und Direktflüge vom Festland erlaubt, boomt der Tourismus: Im vergangenen Jahr kamen 1,8 Millionen Besucher über die Taiwan Strait, vor allem zum Shopping. Seit Juni dürfen auch Individualtouristen aus Peking und neun weiteren chinesischen Städten frei in Taiwan herumreisen. Studenten vom Festland sollen Hochschulen retten, die von der niedrigen Geburtenrate Taiwans bedroht sind.
Für Peking ist die Entspannung durchaus riskant: Dass die Taiwaner in zahlreichen Tempeln und Kirchen Religionsfreiheit genießen, können selbst gut beaufsichtigte Reisegruppen nicht übersehen. Taipeis Buchläden, zum Teil 24 Stunden geöffnet, verkaufen gerne Bücher, die in der Volksrepublik verboten sind. Zu Jahresbeginn hatte die chinesische Regierung Reisebüros aufgefordert, während des Wahlkampfs keine Touristen nach Taiwan zu schicken – prompt fanden sich dort zahlreiche neugierige Volksrepublikaner ein, die dann auch noch im Internet den „ordentlichen“ Wahlverlauf lobten.
Von der wirtschaftlichen Verflechtung mit China fühlen sich viele Taiwaner bedroht. DPP-Größen trommeln gegen den „Ausverkauf“. Da sich Medientycoon Tsai Eng-meng in Peking mit der Bemerkung anbiederte, die „Tiananmen-Ereignisse“ im Jahr 1989 seien kein richtiges Massaker gewesen, rufen mehr als 60 bekannte Akademiker zum Boykott der China-Times-Gruppe auf. Taiwans junge Demokratie dürfe nicht „in Chinas Falle gehen“, erläutert der Historiker Yu Ying-shih: Vom „oberflächlichen Wirtschaftsboom auf dem Festland“ solle man sich nicht täuschen lassen, ein „verkommenes Regime wie die Kommunistische Partei Chinas“ könne niemals soziale Stabilität erreichen.
Trotz Endziel Großchina kämpft auch die KMT-Regierung zäh um internationale Aufmerksamkeit für ihr Land, das 1971 aus der UNO flog und nur noch vom Vatikan und 22 anderen Ministaaten diplomatisch anerkannt wird. Unermüdlich werden ausländische Politiker lobbyiert. Aus Luxemburg etwa wurden im Herbst Lydie Polfer und Anne Brasseur durch Taiwan geführt, diesen Mai Jacques Santer und Frank Engel. Die Gäste versuchen immer höflich, den Vorträgen zum Thema „Eine Republik China – verschiedene Interpretationen“ zu folgen.
Am wenigsten Identitätsprobleme haben wohl die Ureinwohner Taiwans. Derzeit sind 14 austronesische Stämme amtlich anerkannt, das heißt mitsamt ihren Sprachen. Frühere Regierungen hatten versucht, sie auszurotten, manchmal mit Giftgas. Heute werden sie gehätschelt, jedenfalls so lange sie kein Land zurückhaben wollen. Obwohl alle Ureinwohner zusammen nur etwa 1 Prozent der Bevölkerung Taiwans ausmachen, entdecken immer mehr Taiwaner ihre Aborigine-Urgroßmutter. Denn eines sind die Amis, Paiwan, Sediq und anderen Stämme bestimmt: garantiert keine echten Chinesen.
Martin Ebner
N.B.: Taiwan ist Gründungsmitglied der UNPO: Lobby für übersehene Völker
Foto: Festival of the Chaotien Temple in Beigang, Taiwan. Festo de la Chaotien templo en Beigang, Tajvano. Fest des Chaotien Tempels in Beigang, Taiwan