About: How to calculate inflation correctly. And when does hyperinflation start to soar?
Pri: Kalkulo de inflacio. Kaj kiam komencas inflaciego?
1. Die große Pleite. Wann kommt die Hyperinflation? (26.02.2021)
2. Spaß mit Mathe. Die Berechnung der „wirklichen“ Inflation bereitet vielen Menschen große Freude (12.06.2020)
Published, Aperis: d’Lëtzebuerger Land, 26.02.2021
Die große Pleite
Wann kommt die Hyperinflation? Der Ökonom Ingo Sauer hat zumindest herausgefunden, warum sie kommt.
Millionen reichen schon lange nicht mehr, Milliarden müssen es sein, lieber gleich Billionen. Seit 2007 hat sich in der Euro-Zone die Geldmenge mehr als vervierfacht, und die Staatsschulden wachsen ungebremst. Warum gibt es bislang trotzdem keine nennenswerte Inflation? Weil Geldentwertung mit der unablässig steigenden Geldmenge nichts zu tun hat, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Ingo Sauer. Jedenfalls nicht direkt.
Sauer forscht in Frankfurt als Assistent von Professor Rainer Klump, dem ehemaligen Präsidenten der Uni Luxemburg. Inflation könne alle möglichen Ursachen haben, erläutert der Ökonom: zum Beispiel Gewerkschaften, die Lohnkosten erhöhen, oder Araber, die auf dem Ölschlauch stehen. Für eine richtig große, schlimme Geld-entwertung aber, mit Geldscheinen voller Nullen, Preiserhöhungen mehrmals am Tag und allgemeiner Flucht in Sachwerte – dafür brauche es eine bankrotte Zentralbank. So lange es keine Forderungen in Fremdwährungen gegen sie gibt, kann eine Zentralbank zwar technisch nicht insolvent gehen, da sie beliebig eigene Währung drucken kann – das „Konzept der Solvenz“, die finanzielle Stärke der Zentralbank spiele aber sehr wohl eine große Rolle.
Für Milton Friedman war „Inflation immer und überall ein monetäres Phänomen“. Ökonomen erklären bis heute Inflation meist mit der Quantitätstheorie: Die Zentralbank druckt zu viel Geld, das Geld ist immer weniger wert und die Preise steigen, besonders wenn dabei die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes zunimmt, die Güter-menge gleich bleibt oder die Produktion sinkt. Oder durch Erhöhung der Geldmenge werden die Zinsen gesenkt, was die Nachfrage nach Krediten und Gütern anheizt und ebenfalls die Preise erhöht.
Zentrale Zentralbank-Bilanz – Thomas Sargent, ein Träger des Wirtschafts-Nobel-Gedächtnispreises, fand bereits 1982, die herrschende Lehre könne nicht stimmen: Nach dem Ersten Weltkrieg sei in den europäischen Hyperinflations-Ländern das Preisniveau abrupt und lange vor einer Währungsreform stabilisiert worden; die Geldmenge sei dort erst nach der Stabilisierung der Währung massiv gewachsen. Die Geldmenge sei also unwichtig. Entscheidend sei die Qualität der Assets, die von der Zentralbank für ausgegebenes Geld zur Besicherung in ihrer Bilanz verbucht werden: zur Zeit der Hyperinflation wertlose Staatsanleihen, nach der Stabilisierung echte Werte.
Sargents Studie wurde kaum beachtet. Der Ökonom habe damals auch nur eine einzige, unvollständige Quelle gehabt, räumt Ingo Sauer ein: eine Studie für den US-Senat von 1925. Sauer hat für seine Dissertation die fehlenden Daten ergänzt und Sargents Ergebnisse mit ökonometrischen Techniken getestet. Bei der Untersuchung der vier Hyperinflationen in Österreich, Ungarn, Polen und Deutschland hat Sauer für jeden Nominalwert in den Bilanzen der damaligen Zentralbanken einen Marktwert recherchiert. Keine leichte Übung, denn Werthaltigkeit ist ein „fließender Prozess“: Zunächst hatten Staatsanleihen durchaus noch einen Wert – aber welchen? Um die Stärke einer Zentralbank zu bestimmen, hat Sauer ein eigenes Maß entwickelt: den „verteidigbaren Wechselkurs“ (solvency exchange rate).
Unschuldiges Gelddrucken – In allen historischen Fällen, die Sauer erforschte, war der Mechanismus gleich: Hyperinflation wurde immer durch eine Verschlechterung des Wechselkurses ausgelöst. Sobald die Zentralbank zu viele wertlose Aktiva in ihrer Bilanz hatte, war sie zu schwach, um an den Devisenmärkten den Wechselkurs zu verteidigen. Die Währung verlor gegenüber den damaligen Leit-währungen Dollar und Pfund an Wert – und umgehend stiegen die Preise. Folgerung: die eigentliche Ursache von Hyperinflation sei die fehlende Solvenz der Zentralbank; die steigende Geldmenge sei nur eine „nicht verstandene Begleiterscheinung“.
Meist laufen Wechselkurs-Einbruch, Preisanstieg und Aufblähung der Geldmenge gleichzeitig ab. In Deutschland lassen sich die einzelnen Phasen aber gut auseinanderhalten, findet Sauer: Die Reichsmark verlor gegenüber dem US-Dollar von November 1918 bis Juni 1922 rund 98% ihres Werts – und das deutsche Preisniveau stieg spiegelbildlich. Massiv brach der Kurs 1919 ein, als die Reichsbank die Hälfte ihres Goldes für Lebensmittel-Importe ausgeben musste. Das restliche Gold wurde im Februar 1923 verpfändet, um während der französischen Besetzung des Ruhrgebiets den Wechselkurs zu stabilisieren. Ein aussichtsloser Versuch, erläutert Sauer: „Alle wussten, dass die Reichsbank ihre letzten Reserven verpulvert und nicht lange durchhalten kann.“
Gegen den nach wenigen Wochen folgenden Absturz halfen keine Preiskontrollen, keine Gesetze, keine patriotischen Aufrufe: Nichts konnte Geldwechsel auf dem Schwarzmarkt aufhalten. Szenen dieser Zeit haben sich tief in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegraben: Bündel von Banknoten, die nicht gezählt, sondern gewogen werden. Löhne, die täglich mit der Schubkarre ausgezahlt werden. Einst wohlhabende Familien, die ihre Wände mit Geldscheinen tapezieren.
Schließlich musste die Reichsbank ein tieferes Wechselkurs-Niveau akzeptieren. Vom 15. bis 20. November 1923 wurde der Wechselkurs erfolgreich fixiert: 4,2 Billionen Reichsmark zu 1 US-Dollar. Erst nach dieser gelungenen Stabilisierung explodierte die Geldmenge: bis Juni 1924 um den Faktor 15. Dass die Reichsbank ihre Bilanz derart aufblähte, kümmerte aber niemanden mehr: Die Reichsmark war nicht mehr mit Staatsanleihen des bankrotten Deutschen Reichs „besichert“, sondern wurde nur noch gegen kurzlaufende Unternehmensanleihen, Grundstücke und andere werthaltige Assets ausgegeben. Die Spekulation gegen die Reichsmark hörte bereits im Dezember auf. Die Währungsreform, 12 Nullen gestrichen und neue Geldscheine, kam dagegen erst Monate später.
Dass sich Hyperinflation nur durch „Rückkehr zu den einfachen Grundsätzen soliden Bankings“ stoppen lässt, sei den damaligen Praktikern völlig klar gewesen, ergaben Sauers Recherchen: „Der Reichsbankpräsident oder die Völkerbund-Experten, die Ungarn sanierten, haben nie gesagt ‚Wir müssen jetzt die Geldmenge reduzieren‘. Darauf kamen Ökonomen erst viel später.“ Seine Dissertation sei eine „vollständige Falsifizierung der Quantitätstheorie“.
Falsche Theorie, gefährliche Praxis? – Da für die heute vorherrschende Lehre die Assets der Zentralbanken keine Funktion haben, spiele ihre Qualität für die Theoretiker keine Rolle. „Die Deckung der Assets wird auch in der Praxis vernachlässigt“, kritisiert Sauer. In den USA gebe es zwischen den Federal-Reserve-Banken einen regulären Ausgleich gegenseitiger Ansprüche. Dagegen seien die Ökonomen, die das Euro-Systems aufbauten, nur auf die reine Geldmenge fokussiert gewesen – für Forderungen zwischen Euro-Zentralbanken sei kein tauglicher Abwicklungsmechanismus geschaffen worden.
Die Ökonomen hätten lange sogar dabei versagt, die immensen Ungleichgewichte bei den Target-Salden in den Untiefen der europäischen Zentralbank-Bilanzen auch nur zu bemerken. Bereits Ende 2010 machten diese „unbesicherten Ansprüche“ zum Beispiel bei der deutschen Bundesbank fast die Hälfte der Assets aus. „Die Steuerzahler wurden nie über diese riesigen finanziellen Lasten informiert. Wenn das Eurogebiet auseinanderfällt, werden vor allem Deutschland, Luxemburg, die Niederlande und Finnland enorme Schwierigkeiten haben, ihre Zentralbanken zu rekapitalisieren.“
Bislang ist in der Euro-Zone von Inflation nicht viel zu sehen. Sauer erklärt das damit, dass die Zentralbanken des Euro-Systems noch relativ viel Eigenkapital haben, etwa Goldreserven. Außerdem seien viele dubiose Bilanzposten der EZB bisher noch nicht wertlos geworden. Die Risiken würden aber immer größer: Schrottanleihen von Krisenländern und Zombiefirmen, langfristige Kredite an insolvente Geschäftsbanken und immer größere Target-2-Forderungen.
Wann genau die EZB zu schwach wird, um den Euro zu verteidigen, kann Sauer nicht sagen. Sobald griechische oder italienische Staaatsanleihen ausfallen? Sobald ein Drittel oder die Hälfte der EZB-Aktiva wertlos ist? Es gebe es keinen linearen Zusammenhang von Bilanz-Verschlechterung und Preissteigerung, man müsse sich das eher wie das Schütteln einer Ketchup-Flasche vorstellen: Lange passiert nichts…
Spekulanten werden den rechten Zeitpunkt wohl ertesten. Der legendäre Hedgefondsmanager George Soros erkannte 1992, dass die Bank of England verwundbar ist: Mit Attacken gegen das Pfund soll er damals rund eine Milliarde US-Dollar verdient haben. Möglicherweise werden Angriffe auf die EZB bald noch mehr einbringen. Für die europäischen Sparer und Steuerzahler allerdings eher nicht.
Martin Ebner
Die Dissertation von Ingo Sauer soll veröffentlicht werden unter dem Titel „The Case Against the Quantity Theory: Hyperinflations as Central Bank Insolvencies, (Mis-) Leading Textbooks and an Obscure Culprit for Hollowing-out the Euro“. Der YouTube-Kanal des Forschers heißt „Wissen hat keinen Eigentümer“. Weitere Publikationen sind hier zu finden: www.wiwi.uni-frankfurt.de
Bitte weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen!
Die gegenseitigen Forderungen und Verpflichtungen von Zentral-banken des Euro-Systems sind nach gängiger Ökonomen-Meinung unproblematische, werthaltige Ansprüche. Zu diesen sogenannten Target-2-Salden, reinen Verrechnungsposten, brauche es keine öffentliche Diskussion: Selbst wenn zum Beispiel Italien aus dem Euro austräte, würden diese Schulden beglichen. Ganz bestimmt. Im Januar 2021 standen in den Bilanzen europäischer Zentralbanken diese Milliarden-Summen:
größte Forderungen: |
größte Verbindlichkeiten: |
Deutschland: 1.054 Mrd. |
Spanien: – 499 Mrd. |
Luxemburg: 255 Mrd. |
Italien: – 481 Mrd. |
Finnland: 78 Mrd. |
Griechenland: – 84 Mrd. |
Irland: 51 Mrd. |
Portugal: – 79 Mrd. |
Quelle: eurocrisismonitor.com
Published, Aperis: d’Lëtzebuerger Land, 12.06.2020
Spaß mit Mathe
Die Berechnung der „wirklichen“ Inflation bereitet vielen Menschen große Freude.
Was kommt jetzt als Nächstes? Keine Frage für deutsche Bestseller-Autoren: erst ein deflationärer Schock, dann Hyperinflation. Sein Vermögen müsse man nun in „Sachwerte“ retten. Praktischerweise haben Max Otte, Dirk Müller, Matthias Weik und Marc Friedrich jeweils auch passende eigene Investmentfonds im Angebot; Markus Krall rät als Sprecher der Degussa Goldhandel eher zu Edelmetall. Mit dem Boulevardmagazin Focus sind sich die Crash-Propheten einig: „Die offizielle Inflation stimmt hinten und vorne nicht.“
Dass die Teuerungsrate ebenso verlogen sei wie die Arbeitslosen-quote, das Wirtschaftswachstum und andere staatliche Zahlen, ist längst ein Gemeinplatz. Die EU-Kommission erfasst bereits seit 2003, wie EU-Bürger die Inflation wahrnehmen. Erst 2017 hat die Europäische Zentralbank (EZB) diese Umfragen doch einmal ausgewertet: Von 2004 bis 2015 sei die „tatsächliche“ Inflation im Euro-Raum 1,8% gewesen – die „wahrgenommene“ aber 9,5%. Die Luxemburger etwa tippten auf 7,2% statt auf 2,5%, die Rumänen gar auf 20,1% statt auf 5,7%. Selbst bei den staatsgläubigen Schweden war die gefühlte Inflation gut doppelt so hoch wie die amtliche.
Sind Hausfrauen, die täglich einkaufen, vielleicht einfach zu doof, die Entwicklung der Kaufkraft richtig einzuschätzen? Das würden Forscher im Auftrag der EZB nie behaupten. Sie formulieren: „Frauen, Niedrigverdiener und Personen mit niedrigem Bildungs-niveau tendieren dazu, höhere Inflationsniveaus wahrzunehmen und zu erwarten.“
Vielleicht können ja die Statistiker keine realistischen Warenkörbe basteln? Das wiederum würden Jan Swiatkowski, Marius Puke und Hans-Peter Burghof niemals schreiben. Die Ökonomen der Universität Hohenheim in Stuttgart haben vom 1. Februar bis 20. April 2020 auf den Internetseiten von fünf europäischen Supermarktketten die Preise von rund 30.000 Produkten verfolgt. Während der Corona-Krise habe sich der Verbrauch drastisch gewandelt: kein Benzin, keine Reisen, kein Sport, dafür mehr Nudeln, Reis und Klopapier. Folglich sehe die Teuerung ganz anders aus als mit dem offiziellen Warenkorb gemessen.
In den ersten Wochen „haben die Unternehmen die Preise nur zögerlich angepasst und es vermieden, die Krisensituation für kurzfristige Gewinne zu missbrauchen“, finden die Stuttgarter Forscher. Dann aber seien die Preise deutlich gestiegen, besonders für Backwaren (zum Beispiel Kekse +45%), Fertigprodukte (Tiefkühlkost +33%), Obst und Gemüse (Tomaten +23%). Im Schnitt seien Lebensmittel in den vergangenen Monaten um 0,8% teurer geworden. Wenn dieser Trend anhalte, ergebe sich für das Jahr eine Inflation von 3,8% – viel mehr als von der EZB erwartet. Das könnte „eine fehlerhafte Geldpolitik auslösen“, warnen die Wissenschaftler: Es sei fraglich, ob die Inflation „tatsächlich einen so großen Spielraum für eine Erhöhung der Geldmenge zulässt“.
Das offizielle Inflationsmaß der EZB ist der „Harmonisierte Verbraucherpreisindex“ (englische Abkürzung: HICP), der von den europäischen Statistikbehörden erfasst und zweimal monatlich veröffentlicht wird: Wenn Olivenöl in Griechenland billiger wird, fühlen sich auch Haushalte in Finnland gleich besser. Natürlich nur ein bisschen, denn mehr als eine Million Preise werden mit hochkomplexen Berechnungen klassifiziert, gewichtet, saison-bereinigt, qualitätsadjustiert und europaweit harmonisiert.
Eine erste „Schnellschätzung“ meldet für Mai 2020 einen HICP von 0,1%, nach 0,3% im April und 0,7% im März. Nur wenige EU-Länder verzeichnen derzeit Inflation (Slowakei 2,0%, Deutschland 0,5%, Frankreich 0,2%), die meisten jedoch Deflation. Für Luxemburg zum Beispiel werden minus 1,6% geschätzt – im Januar war es noch offiziell plus 2,5%. Verantwortlich dafür seien europaweit vor allem gesunkene Energiepreise (-12%), während unverarbeitete Lebensmittel (+6,5%) teurer wurden.
Die „COVID-19-Eindämmungsmaßnahmen“ werden von den EU-Statistikern durchaus zur Kenntnis genommen. Zum Beispiel ist es recht schwierig, Preise von Flugtickets zu erfassen, wenn kein Flugzeug fliegt. Deshalb werden für sie bei der Berechnung des Warenkorbs „imputation rules“ angewandt: Um den (fiktiven) Preis für April 2020 zu bestimmen, wird der Wert vom März 2020 mit dem Faktor 1,05 multipliziert, denn im vergangenen Jahr hatten sich Flüge von März bis April um 5% verteuert. Ähnlich wurden immer schon die Preise von saisonalen Produkten berechnet, wenn diese gerade „out of season“ sind, also nur auf dem Papier erhältlich.
Kritiker sehen im Hantieren mit esoterischen Bewertungs- und Gewichtungsfaktoren nichts als Lug und Trug. Die Teuerung bei Vermögenspreisen werde vorsätzlich ausgeblendet, die Inflation künstlich niedrig gerechnet. Der HICP sei reiner Hohn: Wenn die Armen sich kein Brot mehr leisten können, sollen sie doch billigere Fernreisen buchen, von besseren Computern profitieren und sich über ihre gestiegenen Aktien freuen…
Der Amerikaner John Williams bloggt über Statistik-Tricks. Die „Kerninflationsrate“ zum Beispiel blendet Lebensmittel- und Energiepreise aus, weil diese zu volatil und auslandsabhängig seien – sie misst die Verbraucherpreise mit Ausnahme der Preise, für die sich Verbraucher hauptsächlich interessieren. „Hedonische Bewertung“ macht Autos auf dem Papier billiger, weil sie immer besser würden – Qualitätsverschlechterung, etwa geplanter Verschleiß, wird dagegen nicht erfasst. Die „owners‘ equivalent rent of primary residence“ (OER) misst die Miete, die Hausbesitzer zahlen würden, wenn sie Miete zahlen würden. Sozialleistungen werden der offiziellen Inflation angepasst. Williams findet, sie müssten bei einer halbwegs korrekten Berechnung „be more than double what they are today“.
Für Statistiker scheint der beliebig gestaltbare OER-Fantasiefaktor unwiderstehlich zu sein. Die EZB, bei der gerade eine „Strategieüberprüfung“ läuft, liebäugelt mit einer Neuberechnung der Inflation nach US-Vorbild. Der deutsche Bankenverband ist dafür: Es gebe „relevante Bedenken, dass Kosten für selbstgenutzten Wohnraum in der Verbraucherpreisentwicklung der Eurozone unterrepräsentiert sind“.
Niedrige Inflationszahlen sind angenehm: Arbeiter verlangen dann weniger Lohnerhöhung, das Wirtschaftswachstum sieht größer aus, Regierungen und andere Schuldenmacher müssen weniger Zinsen zahlen, und allgemein ist die Stimmung besser. Vor allem aber kann die EZB die Geldschleusen immer weiter öffnen, ohne das deklarierte HICP-Ziel zu verfehlen („unter, aber nahe 2%“).
Dabei ist umstritten, ob Warenkörbe, ständig aktualisiert und leicht zu manipulieren, überhaupt ein geeignetes Maß sind. Nach dem Ökonomen Milton Friedman ist Inflation „immer und überall ein monetäres Phänomen“ – und ihre Berechnung ganz einfach nach der Faustformel „Wachstum der Geldmenge minus Wirtschafts-wachstum“. Für Deutschland zum Beispiel ergäbe sich damit von 2001 bis 2012 eine Inflation von 66%s statt den amtlichen 12% – pro Jahr eher 6% als die verkündeten 1,55%. Falls die Zahlen zu Geldmenge und Wirtschaftswachstum stimmen.
Da „Familien die Dinge ganz anders sehen als die Ökonomen“ und „viele Menschen die Teuerung als stärker wahrnehmen“, schlägt Oren Cass, der Leiter der konservativen Denkfabrik American Compass, eine neue Messlatte vor. Sein „Cost-of-Thriving Index“ misst die Kosten eines vierköpfigen Haushalts (die größten Ausgabeposten: Miete für ein Haus mit drei Schlafräumen, ein Auto, Krankenversicherung für die Familie, ein Semester an einem öffentlichen College) im Verhältnis zum Wochenlohn eines männlichen Vollzeit-Arbeitnehmers. Ergebnis: 1985 musste ein Durchschnittsmann für den American Way of Life 30 Wochen arbeiten – heute bräuchte er 53 Wochen. Heißt in Wirklichkeit: die Frau zur Arbeit schicken, Ansprüche verringern, Schulden machen, Staatsknete beantragen.
Ob ein Mann eine Familie gründen und ernähren können soll, will Cass nicht diskutieren: Nach wie vor seien über 70% der Amerikaner der Meinung, dass das einen „guten Ehemann“ ausmache. „Früher konnte ein Mann das, jetzt nicht mehr.“ Die aufpolierte offizielle Inflation sage nichts über die Finanzierbarkeit von (oft sozial normierten) Bedürfnissen einer Familie, über die wahren Lebenshaltungskosten aus: Ein noch so großer TV-Bildschirm nütze nichts, wenn man sich keinen Zahnarzt mehr leisten kann. Die sich öffnende Schere zwischen den Kosten eines Mittelklasse-Lebens und dem Durchschnittsverdienst, sei „eine zentrale Tatsache, die die Öffentlichkeit offenbar lange vor den Ökonomen verstanden hat“. Normalbürger können allerdings auch nicht so schön rechnen.
Martin Ebner
Nullen und andere Zahlen:
– Die Bücher „Weltsystemcrash“ (Otte), „Machtbeben“ (Müller), „Der größte Crash aller Zeiten“ (Weik, Friedrich) und „Die Bürgerliche Revolution“ (Krall) werden vom Mainstream derart totgeschwiegen, dass es für die Spiegel-Bestsellerliste reicht.
– „EU consumers’ quantitative inflation perceptions and expectations: an evaluation“, ECB Occasional Paper No 186, April 2017: ecb.europa.eu
– „Corona-Preise an der Supermarktkasse und die Geldpolitik der EZB“, Hohenheimer Lehrstuhl für Bankwirtschaft: bank.uni-hohenheim.de
– Amtliche Inflationsberechnung: ec.europa.eu/eurostat/web/hicp
– Was John Williams an den Inflationszahlen stört, erläutert v.a. sein „Public Comment No. 515“: shadowstats.com
– „The Cost-of-Thriving Index: Reevaluating the Prosperity of the American Familiy“ von Oren Cass, 20. Februar 2020: manhattan-institute.org
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Foto: Rather worthless paper money from Zimbabwe. Senvalorpaperoj el Zimbabvo. Inflationsgeld aus Simbabwe (fotografiert in der Kunsthalle Baden-Baden).