New houses in Radolfzell, Germany

Dossier: Zersiedelung der Bodenseelandschaft

About: How can urban sprawl be prevented in the unique landscape around Lake Constance?
Pri: Kiel protekti la pejzaĝon ĉirkaŭ la Konstanca lago?

1. St. Galler Tagblatt: Großstadt mit Landschaftspark. Wie kann die Zersiedelung des Bodenseeraums gestoppt werden?

2. Buchempfehlung in der NZZ am Sonntag: Landschaftsstadt Bodensee


Published, Aperis: St. Galler Tagblatt, 25.07.2006

Großstadt mit Landschaftspark

Wie kann die Zersiedelung des Bodenseeraums gestoppt werden?

Architekten und Stadtplaner wollen zwischen Allgäu und Rheinfall die Verstädterung aufhalten: Brachflächen bei Bahnhöfen bebauen, dafür die freie Landschaft in Ruhe lassen.

Als vor ein paar Jahrzehnten der Bodensee eine stinkende Kloake war und umzukippen drohte, rauften sich die verschiedenen Anlieger-Länder und Gemeinden zusammen, bauten gemeinsam Kläranlagen und stellten die Ufer unter Schutz. Mit Erfolg: heute wird Wasser aus dem See sogar in Flaschen abgefüllt und als Mineralwasser verkauft. Könnte mit einer ähnlichen Anstrengung auch das idyllische Landschaftsbild rund ums Schwäbische Meer gerettet werden?

Gegen die Verstädterung muss dringend etwas unternommen werden, fordern Architekten, Stadtplaner und Baubürgermeister, die sich in der „Forschungsgruppe Bodenseestadt“ zusammengeschlossen haben. „Es gibt eine schleichende Erodierung unserer einzigartigen Landschaft“, warnt der Konstanzer Professor Frid Bühler: „Schon heute haben in vielen Teilen der Region die Werbeaufnahmen der Tourismusverbände mit der Realität nicht mehr viel zu tun.“

Einfamilienhäuser am Stadtrand, neue Straßen, Einkaufszentren auf der grünen Wiese: der Siedlungsdruck ist enorm. In der prosperierenden „Euregio Bodensee“, die vom Allgäu bis nach Schaffhausen reicht, hat die Einwohnerzahl von 1950 bis 1990 um die Hälfte zugenommen, sich im Bodenseekreis am nördlichen Ufer sogar mehr als verdoppelt. Heute entvölkern sich zwar einzelne Stadtzentren, zum Beispiel weil Steuerflüchtlinge aus dem Schweizerischen Rorschach in preiswertere Landgemeinden umziehen. Insgesamt kann am Bodensee aber im Gegensatz zu vielen anderen Gegenden von Schrumpfen keine Rede sein: Bis 2020 wird ein weiteres Bevölkerungswachstum von sechs Prozent erwartet. Der Straßenverkehr wird sich ohne Gegenmaßnahmen in den nächsten Jahren sogar verdreifachen, befürchten die Planer.

Das Bodenseeufer selbst wurde an vielen Stellen renaturiert, vom Schiff aus macht es oft einen geradezu unbewohnten Eindruck. Dafür wird das Hinterland rasant zersiedelt. Gegen das Vordringen des Häuserbreis lässt sich mit den traditionellen Instrumenten des Umweltschutzes nichts ausrichten, stellt Raimund Blödt von der Fachhochschule Konstanz fest: „Die bisherige Entwicklung hat bewiesen, dass restriktive Planungswerkzeuge, wie Landschaftsplan oder Seeuferplan, die Zersiedlung der Landschaft und die Suburbanisierung der Stadt nicht aufhalten können.“

Trotzdem wollen die Raumplaner noch nicht alles verloren geben. Ihre auf den ersten Blick etwas paradoxe Idee: Die Verstädterung soll dadurch aufgehalten werden, dass der ganze Bodenseeraum als eine einzige Stadt betrachtet und mit einer Ring-S-Bahn erschlossen wird. Dazu soll die „Jahrhundertchance“ der gerade überall in besten Lagen freiwerdenden Industrie- und Eisenbahnflächen genutzt werden, erläutert der Überlinger Landschaftsarchitekt Johann Senner: die Brachen mit Mehrfamilienhäusern füllen und dafür die freie Landschaft in Ruhe lassen. Bei den S-Bahn-Haltestellen gäbe es dann jeweils dicht bebaute, urbane Zentren – und dazwischen viel Grün, sozusagen Stadtparks.

Kann man Häuslebauer zum Umzug in Bahnhofsviertel animieren? Kommt darauf an, welche Angebote man ihnen macht, hofft die Forschergruppe. Von dem Frankfurter Soziologen Jürgen Schmitt ließ sie die „Wohnorientierungen“ im Bodenseeraum untersuchen. Der Wohn-Typ, der von einer Villa im Grünen träumt, wünscht demnach vor allem praktischen Gebrauchswert und Ruhe. Dafür bräuchte man nicht unbedingt ein Einfamilienhaus, meinen die Landschaftsschützer. Ganz abgesehen davon, dass in neuen Stadtrandsiedlungen die Nachbarn oft ziemlich dicht aufeinander sitzen und der tägliche Stau auf dem Weg zur Arbeit auch nicht komfortabel ist.

Bisher werden kaum Alternativen zu Mietskasernen und den ähnlich einförmigen Produkten der Fertighausindustrie angeboten. Immerhin gibt es einzelne Experimente. In Radolfzell zum Beispiel hat der Architekt Hans-Dieter Küster sechs originelle Wohnhöfe erbaut, von denen er einen selbst bewohnt. Die Anlage braucht viel weniger Platz als freistehende Bauten und der Komfort sei erst noch größer: „Anders als im Reihenhaus hat jeder seinen eigenen Garten. Absoluter Sichtschutz, guter Schallschutz.“ Die Internationale Gartenausstellung 2017, für die sich gerade 23 Bodenseegemeinden gemeinsam bewerben, möchte die Forschergruppe nutzen, um weitere Protoypen neuer Wohnformen vorzustellen.

Bis 2017 soll auch eine S-Bahn rund um den See flitzen. Dazu müssten sich die diversen Bundesländer, Kantone, Kreise und Kommunen einigen. Ein aussichtsloser Traum? Die Planer verweisen darauf, dass sich in der Euregio schon viel getan hat: Wander- und Radwege werden seit 2002 über die Grenzen ausgeschildert. Schweizer Regionalzüge fahren bis in den Hegau, und vom Rheinfall bis zum Arlberg gilt für Schiffe, Busse und Bahnen eine Tageskarte. Konstanz gibt der Bebauung des Zentrums Vorrang vor Neuland-Erschliessung. Von Friedrichshafen bis Ravensburg betreiben 14 Kommunen nicht nur eine Lokalbahn, sondern planen auch gemeinsam die Einrichtung von Gewerbegebieten. Einzelne Bürgermeister sollen sogar schon das Undenkbare in Erwägung ziehen: Kooperation bei der Ansiedlung von neuen Einkaufszentren.

Martin Ebner

Links (last update: 13.03.2024):

⇑ up ⇑ supren ⇑ nach oben ⇑


Published, Aperis: NZZ am Sonntag, 06.08.2006

Landschaftsstadt Bodensee

Wie kann die Zersiedelung aufgehalten werden?

Was fällt Reisenden ein, wenn sie in Romanshorn die heruntergekommenen Lagerhallen, rostigen Schienen und grasüberwachsenen Hafenanlagen sehen? Stadtplaner und Architekten denken jedenfalls an Tokio. Nicht etwa, weil sie Hochhäuser ans Ufer klotzen wollen, sondern weil sie rund um den Bodensee eine Ring-S-Bahn projektieren und dabei wie in der japanischen Hauptstadt die Bahnhöfe zu Zentren dicht besiedelter Quartiere werden sollen. Es gelte die „Jahrhundertchance“ der in besten Innenstadtlagen freiwerdenden Industrie- und Eisenbahnflächen zu nutzen. Die Zerstörung der unbebauten Landschaft soll dadurch gestoppt werden, dass der ganze Bodenseeraum als eine einzige Stadt mit vielen Parks und Grünflächen betrachtet und gestaltet wird.

Die vor rund zehn Jahren aus einer Kooperation der Fachhochschulen Konstanz, Winterthur und St. Gallen hervorgegangene „Forschungsgruppe Bodenseestadt“ präsentiert in „Beyond Metropolis“ eigene Arbeiten und Gastbeiträge zum Problem der Zersiedlung. Knappe historische Darstellungen, theoretische Überlegungen und Interviews, etwa von und mit Saskia Sassen, Ben van Berkel oder Winy Maas, wechseln sich dabei ab mit Lösungsvorschlägen für das Fallbeispiel Bodenseeraum. Die noch relativ intakte Landschaft zwischen den Grossstädten Zürich, Stuttgart und München soll als „Kapital“ erhalten werden, um im Wettbewerb der Standorte den Metropolen „komplementäre Angebote“, etwa Tourismus, machen zu können.

Verstädterung ist in der boomenden „Euregio“ von Winterthur bis zum Allgäu ein akutes Problem: Seit 1945 hat sich die Bevölkerung vervierfacht, bis 2020 wird ein weiteres Wachstum von sechs Prozent prognostiziert. Das Bodenseeufer selbst ist weitgehend Naturschutzgebiet. Die Planer sind damit aber nicht zufrieden, denn nun könnten einerseits die Städte ihre Lage am Wasser nicht mehr richtig nutzen, zum anderen werde das Hinterland mit einem hässlichen Häuserbrei überzogen: „Die bisherige Entwicklung beweist, dass restriktive Planungswerkzeuge, wie Landschaftsplan, Seeuferplan etc., die Zersiedlung der Landschaft und die Suburbanisierung der Stadt nicht aufhalten können.“

Als Ausweg empfiehlt die Forschergruppe das „Netzstadt-Modell“ des Zürcher ETH-Professors Franz Oswald: nicht Zentrum und Peripherie hierarchisch gegenüberstellen, sondern Siedlungen als gleichberechtigte Knoten eines Netzes betrachten; keine Gesamtplanung versuchen, sondern sich auf vielversprechende „Interventionspunkte“ konzentrieren. Am Bodensee seien dafür vor allem die Bahnknoten geeignet. Die Haltestellen könnten durch eine internationale S-Bahn aufgewertet werden, und zahlreiche Brachflächen böten genügend Platz, um urbane Alternativen zu Einfamilienhäusern auf dem Land zu entwickeln. „Mittel zum Zweck“ könne die Internationale Gartenausstellung 2017 werden, für die sich gerade 23 Bodensee-Gemeinden gemeinsam bewerben.

Von dem Frankfurter Soziologen Jürgen Schmitt liessen die Planer die „Wohnorientierungen“ der Bodenseeanrainer untersuchen (diese Studie ist auch ausführlicher als eigenes Buch „Einfamilienhaus oder City?“ im VS Verlag Wiesbaden erschienen). Kopfzerbrechen bereitet den Landschaftsschützern vor allem der Typ „Wohnen als Reproduktion“, der von einer Villa im Grünen träumt. Da diesem Menschenschlag aber vor allem der praktische Gebrauchswert wichtig ist und andererseits moderne Einfamilienhaussiedlungen oft nicht wirklich ruhig und komfortabel sind, hoffen die Architekten der Bodenseestadt, mit neuen Angeboten zum Umzug in die Bahnhofsviertel animieren zu können. Als Protoypen diskutieren sie zum Beispiel die Siedlung Halen bei Bern und die gestapelten Reihenhäuser von Zürich Schwamendingen. Seltsamerweise sind dabei Energiefragen in dem Buch überhaupt kein Thema: Gäbe es nicht auch Zusammenhänge von Wohnform und Heizölrechnung?

Gedanken machen sich die Autoren über ihre politischen Chancen. Können sich konkurrierende Kantone, Bundesländer, Kreise und Gemeinden zu einer gemeinsamen Raumplanung zusammenraufen? Immerhin hat sich schon viel getan: Das Bodenseeufer wird nicht mehr als Platz für Müllhalden und Erdöltanks gesehen. Wanderwege werden seit 2002 über die Grenzen ausgeschildert. Schweizer S-Bahnen fahren bis in den Hegau, und vom Rheinfall bis zum Arlberg gilt für öffentliche Verkehrsmittel eine Tageskarte. Konstanz gibt der Bebauung des Zentrums Vorrang vor der Neuland-Erschliessung. Von Friedrichshafen bis Ravensburg betreiben 14 Kommunen nicht nur eine Lokalbahn, sondern planen auch gemeinsam die Einrichtung von Gewerbegebieten. Einzelne Bürgermeister sollen sogar schon das Undenkbare in Erwägung ziehen: Kooperation bei der Ansiedlung von Einkaufszentren. Neue Mehrfamilienhäuser an einer Ringbahn mit Seeblick zu konzentrieren, scheint daher nicht völlig utopisch zu sein. Wenn’s nicht klappt, kann man die Landschaft ja immer noch verschandeln.

Martin Ebner

Buch: Raimund Blödt u.a. Hrsg.: Beyond Metropolis. Eine Auseinandersetzung mit der verstädterten Landschaft, 271 Seiten, 48 Franken, Niggli Verlag, Zürich 2006

N.B. (28.12.2016): Ein Gedicht von Kurt Marti über die Schweiz:

fünfziger syndrom

und kaum
war das kleine land
dem großen krieg
ohne zerstörung entkommen
begannen seine bürger
beflügelt vom fleiß
der ihnen schon immer nachgesagt wurde
friedlich und freudig
mit der zerstörung
des landes


#Werbung für meine Amazon-Affiliate-Seite:

Die freie Marktwirtschaft dient uns allen. Besonders den etwas Größeren von uns.

Foto: Whereas the shoreline of Lake Constance is more or less protected, the hinterland is increasingly spoilt. Novaj domoj en Radolfzell, Germanujo. Das Bodensee-Ufer ist mehr oder weniger geschützt. Dafür wird das Hinterland zersiedelt (Radolfzell, Deutschland).

⇑ up ⇑ supren ⇑ nach oben ⇑

Texts of timeless beauty. Or at least some historical interest.