Bird researchers in Rybachy, Russia

Vogelforschung in Rybatschij: Paßkontrolle für Buchfinken

About: Bird research station in Rybachy, Kaliningrad, Russia (before World War II: Rossitten, Germany)
Pri: Instituto de birdo-esploro en Rybatschij, Rusujo (antaŭ la dua mondmilito: Rossitten, Germanujo)
Published, Aperis: taz – die tageszeitung, 08.11.1997


Im russischen Rybatschij werden im Herbst tausende Vögel registriert. Die älteste Vogelwarte der Welt ist auf West-Hilfe angewiesen. Interessierte Touristen sind willkommen

Bei welchem Reisebüro können sich Zugvögel beschweren? So hatte sich das Goldhähnchen seinen Flug in den Winterurlaub nicht vorgestellt: Unzufrieden baumelt es im Netz. Plötzlich sieht sich der kleine Vogel von zwei riesigen Händen gepackt, in ein Labor verschleppt und auf eine Waage geworfen. „28 Gramm, Feder F8“ hört er eine Stimme sagen, „jetzt noch Flügellänge, Fett- und Mauserzustand.“ Dann verpassen ihm die Hände mit routinierten Griffen einen kleinen numerierten Fußring, eine Art Vogel-Reisepaß – und nach nicht einmal zwei Minuten schmeißen sie ihn einfach zum Fenster raus. Empört flattert das Goldhähnchen davon. Ob es sich jemals wieder in der „Biologischen Station Rybatschij“ blicken lassen wird?

Jedenfalls ist kaum ein Ort so gut zur Vogel-Beobachtung geeignet wie Rybatschij (ehem. Rossitten), ein kleines Dorf nördlich von Kaliningrad. Die nordeuropäischen Wald- und Feldvögel fliegen nicht gern übers Meer – deshalb folgen sie der Kurischen Nehrung, der schmalen Landzunge zwischen Ostsee und Haff. Die Wasservögel dagegen wollen möglichst lange Meer unter sich sehen – und fliegen daher ebenfalls über Rybatschij, wo Schilf und viele Sträucher zur Rast einladen.

Vom Interkontinental-Flughafen  Rybatschij aus wird die lange Herbstreise in drei Richtungen fortgesetzt:

  • die Zaunkönige zieht es nach Westen: England und Spanien
  • nach Mitteleuropa fliegen Buchfinken, Meisen, Amseln und Würger. Schwalben und Sumpfrohrsänger verlassen Rybatschij schon Anfang August – sie wollen bis Südafrika. Rotkehlchen dagegen lassen sich bis Oktober Zeit – sie überwintern in Süddeutschland.
  • nach Osten starten Grasmücken und ein Teil der Störche, ihr Ziel ist die Türkei. Karmingimpel kommen bis Indien.

Daß dieser rege Flugverkehr ideale Bedingungen für Vogelforscher bietet, erkannte schon Ende des letzten Jahrhunderts Pfarrer Johannes Thienemann. Mit Geld der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gründete er 1901 in Rossitten die erste Vogelwarte der Welt. Weil er auf die Idee kam, die Vögel zu beringen, konnte er nachweisen, daß sie über 10.000 km zurücklegen können. 1944 mußte die Vogelwarte Rossitten aufgegeben werden. Sie zog nach Radolfzell an den Bodensee, wo sie bis heute beim Schloß Möggingen arbeitet.

Nach der sowjetischen Eroberung Ostpreußens standen die Institutsgebäude leer – bis 1956 Prof. Lew Belopolski aus einem sibirischen Gefängnis entlassen wurde und in Rybatschij wieder eine Vogelwarte aufbauen konnte. Auch die neue Forschungseinrichtung wurde rasch weltweit bekannt. Die rund 30 ständigen Mitarbeiter kommen meist vom Zoologischen Institut St. Petersburg und arbeiten nur von Ende März bis Anfang November in Rybatschij. Sie sind stolz darauf, daß ihre Station schon über 600 Bücher über Zugvögel veröffentlicht hat.

In Herbst und Frühjahr ziehen über eine Million Vögel über Rybatschij. Besonders hochfliegende Arten werden vom Dach der Vogelwarte aus gezählt, nachts mit Hilfe eines Scheinwerfers. Am Boden werden in über 200 Netzen und 18m hohen Vogelreusen pro Jahr bis zu 100.000 Vögel gefangen. „Im Herbst beringen wir von morgens bis abends. Wenn man an einem Tag schon 9.000 Vögel registriert hat, muß man aufpassen, daß man nicht Rotkehlchen mit Goldkehlchen verwechselt“, berichtet Petra Wurst. Die Biologin aus Gießen lebt schon seit 3 Jahren in Rybatschij und sammelt Material für ihre Doktorarbeit. „In Deutschland würde ich nirgends eine so starke Zugvogelkonzentration und über 200 verschiedene Vogelarten finden.“

Ihre Arbeit sei recht anstrengend: „Wir müssen die Netze jede Stunde kontrollieren, sonst wildern Krähen und Katzen. Bei Regen müssen wir sogar alle 30 Minuten durchgehen, weil die Vögel so schnell auskühlen.“ Nicht alle lassen sich einfach aus dem Netz holen: „Blaumeisen sind recht kämpferisch. Und Neuntöter  haben Widerhaken am Schnabel – das ist dann nicht so lustig.“

Oft ist die Mühe vergebens. Die registrierten Vögel scheren sich um keine Grenzkontrolle und verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Bei Großvögeln wie den Waldohreulen wird immerhin jeder 10. Ring wiedergefunden – bei den kleinen Buchfinken dagegen von 200 Ringen im Schnitt nur ein einziger. „Die Vögel fliegen eben über Gebiete wie den Balkan oder Afrika, wo die Menschen andere Sorgen haben, als auf Vogelringe zu achten“, erklärt Petra Wurst. Trotz der geringen Rücklaufquote und obwohl manche Tierschützer die Beringung für schädlich halten, gebe es dazu „bisher keine Alternative“. Die damit gewonnenen Ergebnisse würden „gerade auch aus Naturschutzgründen gebraucht“ – wie sonst könne man denn z.B. den starken Rückgang der Singvögelarten nachweisen? „Solche ökologischen Fragestellungen werden in Rybatschij allerdings erst seit zwei Jahren bearbeitet.“

Andererseits können alte Projekte wegen Geldmangels nicht fortgesetzt werden – Exkursionen nach Mittelasien wie noch zu Sowjetzeiten sind heute nicht mehr möglich. „Selbst zu unseren Nachbarvogelwarten in Litauen haben wir keine Kontakte mehr“, bedauert die Biologin Nadia Silinowa. „Die Balten haben noch weniger Geld für Wissenschaft übrig als Rußland. Wir müssen uns deshalb an Westeuropa orientieren.“

Zusammen mit Radolfzell und 40 anderen Fangstationen in Europa und Afrika nimmt Rybatschij seit 1994 am sogenannten „ESF-Programm“  teil, in dessen Rahmen der Vogelzug von Skandinavien über Gibraltar bis zum Äquator erforscht wird. Ermöglicht wird die Mitarbeit durch Spenden aus Westeuropa, erläutert Nadia Silinowa: „Von der Russischen Akademie der Wissenschaften bekommen wir seit vier Jahren nur die Gehälter überwiesen – nichts für Strom, Benzin oder Geräte. Aber die Schweden haben uns z.B. 30.000 Vogelringe geschenkt. Unser deutscher Freundeskreis und die Heinz-Sielmann-Stiftung haben 50.000 DM geschickt..“

Eine weitere Geldquelle sind Touristen. Seit Kaliningrad nicht mehr Sperrgebiet ist und von Berlin aus bequem über Nacht erreicht werden kann, kommen pro Jahr bis zu 5.000 Besucher. „Leider sind das überwiegend Tagestouristen – v.a. Rentner aus Deutschland, die hier nur ihr altes Ostpreußen suchen. Für unsere Arbeit interessieren die sich überhaupt nicht“, ärgert sich Petra Wurst. Auch würden Ignoranten, die „überall in den Dünen, auch auf den Brutplätzen herumlaufen“,  zunehmend „ein echtes Problem“.

Interessierte Naturfreunde dagegen seien „herzlich eingeladen“. Sie müßten genug Zeit für die einzigartige Küstenlandschaft der Nehrung mitbringen, dürften sich nicht an der spartanischen Einrichtung der Biostation stören und den Forschern nicht auf die Nerven gehen. „Dafür haben sie die einmalige Möglichkeit, am Einfangen und Beringen vieler verschiedener Vogelarten teilzunehmen.“ -Wenn die Gäste einmal genug von all den Vögeln haben, ist es auch nicht schlimm. Sie können dann in den Wald gehen: Elche beobachten.

Martin Ebner

Bird research station Rybachy
Vogelwarte Rybatschij, Russland (16.09.1997)

Informationen (last update: 04.05.2014):

  • Biologische Station Rybatschij: www.zin.ru/rybachy/
  • Max-Planck-Institut für Ornithologie (MPIO) in Radolfzell: www.orn.mpg.de (für Vogelringe, die in Deutschland oder Österreich gefunden werden)
  • Schweizerische Vogelwarte Sempach: www.vogelwarte.com/ (für in der Schweiz gefundene Vogelringe)

Siehe auch das Dossier: Störche

Vogelringe
Die traditionelle Methode der Vogel-Beringung wurde in Rossitten erfunden. (fotografiert im Max-Planck-Institut für Ornithologie, Radolfzell)

 

Vogel-Sender
Im Jahr 2014 eingesetzt: Sender zur Verfolgung von größeren Vögeln (fotografiert im Max-Planck-Institut für Ornithologie, Radolfzell)

 


Foto (16.09.1997): A kinglet and biologists Nadia Silinowa and Petra Wurst in Rybachy, Russia. Biologiistinoj Nadia Silinova kaj Petra Wurst en Rybatschij, Rusujo. Gruppenbild mit Goldhähnchen: die Biologinnen Nadia Silinowa und Petra Wurst (rechts) in Rybatschij, Russland.

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Texts of timeless beauty. Or at least some historical interest.