About: Dossier on cartography
Pri: Dosiero pri kartografio
1. Alternative Weltbilder. Neue Atlanten versprechen einen neuen Blick auf die Erde (d’Lëtzebuerger Land)
2. Die Macht der Meridiane. Landkarten prägen unsere Weltbilder – und umgekehrt (Stuttgarter Nachrichten)
3. Zeigen und verschweigen (DAAD Letter Buchbeilage)
4. Erde in Fetzen. Ein holländischer Informatiker tüftelt an neuen Weltkarten (Stuttgarter Nachrichten)
Published, Aperis: d’Lëtzebuerger Land, 15.11.2002
Alternative Weltbilder
Neue Atlanten versprechen einen neuen Blick auf die Erde
Über die Welt schweben, sich beliebige Ausschnitte der Erdoberfläche auf den Bildschirm zoomen, mit einem Mausklick Länderinformationen abrufen und Nationalhymnen anhören: was CD-ROM-Nachschlagewerke wie „Encarta“ von Microsoft bieten, ist beeindruckend. Wie können da Herausgeber von Atlanten mithalten? Eine Möglichkeit sind aufwändig gestaltete Grossformate: Ein repräsentatives Werk von Knaur, Dumont oder Meyer macht sich im Bücherregal immer gut.
Eine andere Möglichkeit: ein alternatives Weltbild bieten. Diesen Versuch unternimmt der Verlag Zweitausendeins mit einer aktualisierten Ausgabe von „Peters Atlas“. Der „erste ehrliche geografische Atlas der Welt“ will „alle Länder und Kontinente in ihrer wirklichen Grösse“ zeigen. Während sonst die „europazentrische“ Mercator-Projektion der Kolonialzeit „noch heute“ unsere Weltsicht verfälsche, räume dieses Kartenwerk mit irrigen Vorstellungen auf.
Der Bremer Historiker Arno Peters hatte 1973 mit Hilfe der UNESCO eine neue Weltkarte vorgestellt, deren Projektion nicht nur achs- und längen-, sondern auch flächentreu sei und deshalb alle Länder in „wahrer Grösse“ zeige. Sie wird vom Evangelischen Missionswerk verkauft, angeblich bereits über 20 Millionen Mal. 1989 erschien mit Unterstützung des Schweizerischen UNICEF-Komitees bei der Akademischen Verlagsanstalt Vaduz erstmals ein Atlas mit Peters‘ Projektion.
Beim ersten Durchblättern der Neuausgabe ist man angetan: Die 43 einzelnen Geländekarten haben den gleichen Massstab und zeigen jeweils 1/60 der Erde. So fallen Vergleiche leicht: Wie klein ist Europa, wie riesig Mexiko! Das liesse sich allerdings mit jeder Projektion erreichen. Die Besonderheit von Peters‘ Darstellungsweise wird an den Weltkarten deutlich: Russland ist dort ein dünner Schlauch; in der Mitte baumeln gross, aber stark abgemagert Afrika, Südamerika und Indien. Ausserdem schlägt Peters ein neues Gradnetz vor: 100 Meridiane und 100 Breitenkreise und ein Null-Meridian, der durch die Beringstrasse läuft. Verwirklicht ist diese radikale Abkehr von Greenwich aber nur auf einer Erdkarte im hinteren Buchdeckel.
Peters‘ Kampf gegen Mercator erscheint etwas übertrieben, denn heute erläutern alle grossen Atlanten verschiedene Methoden, die Erdkugel auf Karten darzustellen – und welche Nachteile sie haben. „Knaurs Weltatlas“ grenzt mit roten Linien den „Bereich optimaler Darstellung“ ab. „Meyers Neuer Weltatlas“ demonstriert, dass jede Karte ein Kompromiss ist – und die Peters-Projektion Winkel und globale Beziehungen „signifikant verzerrt“. Der „Diercke“-Schulatlas blendet in Karten der Dritten Welt zum Vergleich kleine Deutschlandkarten ein. Seine Rückseite klärt auf: „Soll eine Kugeloberfläche in der Ebene abgebildet werden, muss man sie ‚aufklappen‘ wie die Schale einer Orange. Das geht nicht ohne Stauchen und Dehnen.“
Sieht man sich „Peters Atlas“ genauer an, entdeckt man Mängel: In der Buchmitte verschwinden kleine Länder, etwa die Schweiz und Tunesien. Amtliche Ortsnamen werden willkürlich eingedeutscht: zum Beispiel Hangzhou zu „Hangtschu“, Fuzhou aber zu „Foochow“. Umstrittene Grenzen sind einfach weggelassen. Unter der Meeresoberfläche gibt es keinen Marianengraben und sonst auch nichts. Neue Bahnlinien und Tunnel werden ignoriert. Die Einleitung tröstet: „Für bestimmte Zwecke ist dieser Atlas nicht geeignet: Er kann nicht die Strassenkarte des Autofahrers sein, auch nicht die Grundlage des Heimatkundeunterrichts – aber er gibt die erste wirklich globale Weltsicht.“ Politisch korrekt, aber unbrauchbar?
Weltanschauungssache sind die 246 Themenkarten in „Peters Atlas“. Die meisten sind konventionelle Darstellungen: Klima, Bodenschätze, Religionen. Breit abgedeckt ist der Bereich Wirtschaft. So ist zu erfahren, dass Ägypten „kapitalistisch“, Italien ein „Schwellenland“ und China „sozialistisch“ sei; in „sozialistischen Ländern lebt heute fast ein Viertel der Menschheit“. Viele wichtige Themen fehlen völlig, zum Beispiel Umweltprobleme, aber auch die Entkolonialisierung.
Aktuellere Informationen und eine sorgfältigere Edition verspricht der für Februar angekündigte „Atlas der Globalisierung“ von „Le Monde diplomatique“; der ursprüngliche Erscheinungstermin November 2002 wurde wegen der „zu bewältigenden Masse an Daten“ verschoben. Projektion und Gradnetz sind dem französischen Kartenmacher kein Anliegen: Philippe Rekacevicz, früher Chefkartograph der Vereinten Nationen, hält ohnehin jede Karte für „eine Art Lüge durch Auslassung“.
Sein Handbuch mit 92 Doppelseiten zu 92 Themen ist in zwei Hauptteile gegliedert. „Die Globalisierung und ihre Folgen“ behandelt grenzüberschreitende Phänomene, etwa Telekommunikation und Tourismus, Waren- und Geldströme, Korruption und Steuerparadiese, mafiöse Netze und Migrationsbewegungen, Konzerne und NGOs. Besonders interessant dürften die Karten zu Rüstung, Kriegen und umstrittenen Gebieten werden, denn diese aktuellen Themen sind selbst in so umfassenden Nachschlagwerken wie dem „Fischer Weltalmanach 2003“ meist ausgeblendet. Karten zu genmanipulierten Pflanzen, politischen Gefangenen und den „Rechten von Schwulen und Lesben weltweit“ sind ebenfalls anderswo schwer zu finden.
Der zweite Teil, „Schauplätze und Akteure“, fokussiert einzelne Weltregionen: die „Hypermacht USA“ und ihren Hinterhof, die EU, die Transformation in Osteuropa, Japans Stagnation, Chinas Aufschwung und schliesslich die zerfallenden Staaten Afrikas. Allein acht Doppelseiten sind dem Nahen Osten und Nordafrika gewidmet. Der Schwerpunkt liegt jeweils auf der Darstellung von „Reichtum und Armut“, von Wirtschaftsbeziehungen und Konflikten. Diesen Atlas mit dem Weltbild der Globalisierungsgegner wird sich nicht jeder ins Wohnzimmer stellen wollen, lesen und sich gegebenenfalls darüber aufregen aber vielleicht schon.
Martin Ebner
Buch:
Peters Atlas, Zweitausendeins, Frankfurt 2002
Links (last update: 06.05.2014):
- Peters Weltkarte, Evangelisches Missionswerk: www.emw-d.de
- „Atlas der Globalisierung“, Le monde diplomatique: www.monde-diplomatique.de/atlas
Published, Aperis: Stuttgarter Nachrichten (†), 12.08.2006
Die Macht der Meridiane
Landkarten prägen unsere Weltbilder – und umgekehrt
Den Weg weisen oder in die Irre führen, ungeahnte Zusammenhänge aufdecken oder ganze Städte verschwinden lassen: mit Landkarten kann man alles machen. Ein paar Striche und ein dicker roter Punkt genügen und schon wird aus Hintertupfing eine „Ferienstadt im Herzen Europas“, zentral im stilisierten Straßennetz gelegen und gar nicht zu verfehlen. Wenn dann noch der Ortsname im Atlas unterstrichen und gelb eingekastelt ist oder gar ein Sternchen Sehenswürdigkeiten verheißt, steht dem Ansturm von Gästen nichts mehr im Wege.
Karten sollen aber nicht nur locken, sondern auch festhalten. Zum Beispiel sind am Bodensee von Konstanz aus die Schwimmbäder und Einkaufszentren, Hotels und Geldwäschereien der Schweizer Nachbarschaft bequem zu Fuß zu erreichen – mit dem Stadtplan der Konstanzer Tourist-Information findet man aber bestimmt nicht hin, denn der endet knapp hinter der deutschen Grenze. Kommen so Abwanderungsgedanken gar nicht erst auf?
Die Manipulationsversuche der Fremdenverkehrsbroschüren sind wahrscheinlich zu plump, um wirklich erfolgreich zu sein. Andere kartographische Produkte sind heimtückischer. Satellitenaufnahmen etwa sind scheinbar objektiv, aber doch immer bearbeitet. Wetterkarten sind scheinbar unpolitisch, aber wenn das österreichische Fernsehen weiterhin Südtirol jeden Tag in seine Wettervorhersage einbezieht, geben die Italiener den Brenner vielleicht doch wieder her.
Dass „durch wissenschaftlichen und technischen Fortschritt die Karten genauer würden und darum die Wirklichkeit immer besser abbildeten, ist bestenfalls die halbe Wahrheit“, schreibt die Historikerin Ute Schneider in dem von ihr herausgegebenen Buch „Kartenwelten“: „Schon bei der Wahl des Ausschnitts und des Maßstabs, der Farben und der Symbole beginnt die Konstruktionsarbeit, die den einen Gegenstand privilegiert und den anderen dafür ausblendet.“
Jede Karte ist zwangsläufig ein stark vereinfachtes, mehr oder weniger verzerrtes Modell der Wirklichkeit. Das wissen wir zwar, trotzdem entwickelt die Kartenwelt in unseren Köpfen ein seltsames Eigenleben. Wenn auch nicht bei allen Menschen so hartnäckig wie bei Kolumbus: Von antiken Darstellungen, die den Erdumfang stark unter- und die Größe Asiens überschätzten, wurde er zu seiner Seefahrt Richtung Westen verleitet. Die auf dem Weg nach Indien zufällig „entdeckten“ amerikanischen Inseln ordnete er dann stur in sein altes Weltbild ein; Haiti sah er als Japan, Kuba als China und ließ sich davon zeitlebens nicht mehr abbringen.
Vor den großen Expeditionen hatten Kartographen gar nicht den Anspruch, den irdischen Tand exakt abzubilden. Im Mittelalter waren Weltkarten nach Osten orientiert und zeigten die biblische Heilsgeschichte mit Jerusalem im Zentrum. Weiße Flecken füllten sie mit Bildern von Heiligen oder Elefanten. Nach Kolumbus wurden die Linien auf dem Papier immer bedeutender: Im Vertrag von Tordesillas zum Beispiel teilten Spanien und Portugal 1494 die ganze Erde außerhalb Europas mit einem dicken Strich von Grönland zum Südpol unter sich auf. Obwohl damals Längengrade noch gar nicht genau bestimmbar waren und folglich Jahrzehnte um die Grenze des portugiesischen Brasiliens gefeilscht wurde.
Auf Karten herumzumalen ist seither eine Lieblingsbeschäftigung von Politikern. Erleichtert wird das dadurch, dass sich westliche Geographie-Vorstellungen weltweit durchgesetzt haben. Noch im Jahr 1800 gerieten sich englische und osmanische Diplomaten bei einer Konferenz in die Wolle, weil die Türken jede Verbindung von Rotem Meer und Indischem Ozean leugneten und überhaupt von der Kugelgestalt der Erde nichts wissen wollten.
Im Vergleich dazu wird heute nur noch um Kleinigkeiten gestritten. Müssen zum Beispiel Weltkarten genordet sein und Europa im Zentrum zeigen? Sie können sich auch nach Süden ausrichten und Australien verherrlichen. Oder auch den Ozean ganz präsentieren und dafür die Landmassen zerschneiden. Am häufigsten wird um Benennungen gerungen: „Japanisches Meer“ oder koreanisches „Ostmeer“? Nicht unwichtig ist auch die Methode, mit der die Erdkugel auf flache Karten gebracht wird: Die Mercator-Projektion etwa ist winkeltreu, übertreibt aber die Größe Europas. Dagegen zeigt die bei Entwicklungshelfern beliebte Peters-Projektion die Riesenfläche von Afrika, verzerrt dafür aber die Form der Kontinente.
Die Wahl der Projektion hat durchaus Folgen für unser Wohlbefinden, je nach dem, wo wir uns auf dem Globus befinden. Vor drei Jahren veröffentlichte zum Beispiel die Zeitschrift „Economist“ eine Mercator-Karte zur Reichweite der nordkoreanischen Atomraketen: Die Zirkel-Kreise streiften die Türkei und Alaska. Leser protestierten, dass man die Erdkrümmung und die kürzere Flugstrecke über den Nordpol berücksichtigen müsse. Die entsprechend korrigierte Darstellung ist viel bedrohlicher: Tatsächlich könnten die Waffen ganz Europa und die USA treffen.
Die Wirklichkeit lässt sich auch ohne Raketen den Landkarten anpassen. Die Schweiz etwa entstand als Staat zuerst auf dem Papier. Als General Dufour 1832 mit der Vermessung der Berge anfing, gab es nur ein Sammelsurium von eigenbrötlerischen Kantonen – er kartographierte die Einheit der Nation herbei. „Schweiz Tourismus“ freut sich noch heute über das „markante Design, eine Mischung aus präziser technischer Zeichnung und malerischem Ungestüm“. Der Umriss Helvetiens ist mittlerweile so bekannt, dass er als eigenständiges Logo stehen kann. Eines Tages wird vielleicht diese Marke allein reichen und das echte Land gar nicht mehr gebraucht.
Martin Ebner
Buch:
Ute Schneider: Kartenwelten, Primus Verlag, Darmstadt
Published, Aperis: DAAD Letter Buchbeilage 2006
Zeigen und verschweigen
„GeschichtsBilder“ war das Motto des diesjährigen Deutschen Historikertags in Konstanz. Die Zeiten, da visuelle Dokumente von der Geschichtswissenschaft „nicht einmal ignoriert“ wurden, sind vorbei, hoffen Christof Dipper und Ute Schneider. Die beiden Historiker, die an der TU Darmstadt unterrichten, erwarten nun mehr Aufmerksamkeit für ihr Forschungsgebiet, denn „zu den Bilderwelten gehören die Kartenwelten“.
In dem von ihnen herausgegebenen Sammelband untersuchen zehn Historiker und Geographen, wie Landkarten hergestellt und gelesen, verbreitet und genutzt wurden und welche Wirkung sie hatten. Die Beiträge, deren Schwerpunkt auf dem 19. Jahrhundert liegt, gehen „davon aus, dass das Credo neuzeitlicher Kartographen, durch wissenschaftlichen und technischen Fortschritt würden die Karten genauer und bildeten darum die Wirklichkeit immer besser ab, bestenfalls die halbe Wahrheit ist“.
Dass Karten keine objektiven, wertfreien Weltbilder vermitteln, sondern vielmehr Konstrukte sind und „schon bei der Wahl des Ausschnitts und des Maßstabs, der Farben und der Symbole die Konstruktionsarbeit beginnt“, wird zum Beispiel anhand von Karten der deutsch-polnischen Grenzregion gezeigt. Wie andere Imperien nutzte auch Preußen Landkarten, um nach der Aufteilung Polens seine Herrschaftsansprüche durchzusetzen. Das Einzeichnen von Sprachgrenzen entfaltete in späteren Nationalitätenkonflikten eine „geradezu tödliche Fernwirkung“.
Der ausführlichste Beitrag des Bandes behandelt die Entwicklung des Geographie-Unterrichts in Deutschland. Die rasante Entwicklung der Verkehrs- und Kommunikationsmittel mache Kartenlesen zu einer unentbehrlichen Kulturtechnik, war schon 1859 ein Berliner Oberlehrer überzeugt: „Längst reichen die entferntesten Länder und Völker mit ihren mannichfaltigen Beziehungen bis in unsere Wohnungen und Werkstätten herein.“
Zwei Kapitel sind Geschichtsatlanten gewidmet. Die „gleichsam eingefrorenen Geschichtsbilder“ des seit 1877 erscheinenden „Putzger“ und des 1964 erstmals herausgegebenen „dtv-Atlas“ werden nicht nur in Deutschland millionenfach verkauft, sondern – mit geringfügigen Änderungen – auch erfolgreich in viele andere Länder exportiert. Bei der Darstellung des Zweiten Weltkriegs und der Nazizeit sieht Christof Dipper in den 1960er Jahren „entscheidende Brüche des Geschichtsbildes“: Wurden davor vor allem Karten zur Zerstörung deutscher Städte und zur Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa präsentiert, werden seither auch Schaubilder zur Ermordung der Juden gezeigt.
Wer sich für die Weltanschauungen vergangener Tage interessiert, wird auch in Ute Schneiders Buch „Die Macht der Karten“ fündig, das 2004 erschienen ist und nun vom Primus-Verlag neu herausgegeben wird. Dieser großformatige, prächtig illustrierte Band verfolgt die Entwicklung der Kartographie von den Mappae mundi des Mittelalters, die biblische Geschichten bebildern und Orientierung im heilsgeschichtlichen Raum vermitteln sollten, bis zu den topographischen, vermeintlich exakten Karten der Gegenwart.
Schneider geht auch auf Herausforderungen für unseren gewohnten Blick auf die Erde ein, zum Beispiel auf Stuart McArthurs gesüdete Weltkarte, die Australien ins Zentrum stellt, und auf die Projektion des Bremer Historikers Arno Peters, die den Entwicklungsländern mehr Platz einräumt als der Nordhalbkugel. Bis zu Kinderatlanten sind solche alternativen Ansätze aber noch nicht vorgedrungen: Selbst neue Ausgaben wollen zum Beispiel von Großstädten oder Autos im südlichen Afrika nichts wissen, sondern verzeichnen dort nur Löwen und Elefanten. Bei Landkarten ist nicht nur wichtig, was sie zeigen, sondern auch, was sie verbergen.
Martin Ebner
Bücher:
Christof Dipper, Ute Schneider (Hrsg.): Kartenwelten. Der Raum und seine Repräsentation in der Neuzeit, Darmstadt: Primus Verlag, 2006; Ute Schneider: Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, Darmstadt: Primus Verlag, 2006
Published, Aperis: Stuttgarter Nachrichten (†), 17.04.2010
Erde in Fetzen
Ein holländischer Informatiker tüftelt an neuen Weltkarten
Die Formen, Flächen und Richtungswinkel der Welt können auf Weltkarten realitätsgetreuer wiedergegeben werden als bisher gewohnt. Dafür sind allerdings zahlreiche Einschnitte und Einkerbungen in Kauf zu nehmen. —
Im Leben gibt es selten etwas umsonst. Jedenfalls keine Weltkarte: Wie man es auch dreht oder wendet, jede genaue Darstellung einer Erdregion geht auf Kosten von anderen Gebieten, die mehr oder weniger verzerrt wiedergegeben werden. Sind die Größenverhältnisse von Landmassen und Ozeanen korrekt – dann stimmen die Formen nicht. Oder die Winkel sind so richtig, dass Flugzeugpiloten danach abbiegen können – dann haut es aber mit den Flächen nicht hin. Eine Lösung gibt es für dieses Dilemma nicht. Schließlich lässt sich eine Orangenschale auch nicht ohne Quetschen, Dehnen oder Einreißen flach ausbreiten.
Kartografen behelfen sich damit, die Deformierungen in Gegenden anfallen zu lassen, wo es den meisten Betrachtern nicht so auffällt, also bei den Polen oder mitten im Meer. Oder sie schneiden die besonders verunglückten Teile der Weltkarten einfach ab. Jarke van Wijk aber gibt sich mit herkömmlichen Atlanten nicht zufrieden. Van Wijk ist Professor für Visualisierung an der Technischen Universität Eindhoven. Er geht neue Wege auf der Suche nach weitgehend verzerrungsfreien Weltbildern.
Van Wijks Grundidee ist einfach: „Karten von einem kleinen Ausschnitt der Erde sind beinahe perfekt und kaum verzerrt. Warum nicht so eine kleine Karte nehmen, benachbarte kleine Stückchen darankleben und das so oft wiederholen, bis die ganze Erde gezeigt wird?“ Um das auszuprobieren, entwickelte van Wijk ein Verfahren, das er „myriahedrale Projektion“ nennt – nach dem griechischen Wort murioi, das „Zehntausende“ oder auch „unzählig viele“ bedeutet.
Um die Punkte von einem runden Globus auf eine flache Landkarte zu übertragen, werden üblicherweise – gedacht oder wirklich – Hilfskörper dazwischengeschoben. Werden zum Beispiel die Umrisse der Kontinente erst auf einen Zylinder aufgetragen, ergibt sich beim „Ausrollen“ eine rechteckige Weltkarte. Nimmt man stattdessen einen Kegel, bekommt man eine fächerförmige Karte. Man könnte die Erdteile auch erst auf einen Würfel aufmalen – wenn man den aufschneiden und seine sechs Seiten flach auslegen würde, gäbe das allerdings arge Verzerrungen. Van Wijk verwendet Polyeder.
Ein Polyeder ist ein Körper mit vielen Oberflächen, zum Beispiel ein Fußball, der aus vielen kleinen Lederstückchen zusammengenäht ist. Bisher haben Kartografen schon mit Ikosaedern experimentiert, also mit Gebilden, die aus 20 kleinen Dreiecken aufgebaut sind. Van Wijks Ansatz ist nun ein Polyeder mit Tausenden Oberflächen-Stückchen. Je mehr Oberflächen man nimmt, desto größer ist die Annäherung an die Erdkugel. Um zu entscheiden, wo dieser Hilfskörper geknickt und wo er geschnitten werden soll, damit er flach ausgebreitet werden kann, „gewichtet“ van Wijk dann die verschiedenen Kanten. Das heißt, er ordnet ihnen bestimmte Zahlenwerte zu.
Das Ergebnis sind Weltkarten, die tatsächlich weitgehend form-, flächen- und winkeltreu sind. Allerdings haben diese Wunderwerke einen Preis: viele Einschnitte. Sehr viele Einschnitte, um genau zu sein. Orte, die in Wirklichkeit benachbart sind, kommen so zuweilen auf völlig unterschiedlichen Karten-Streifen zu liegen. Die ausgefransten Darstellungen, die das übliche Gitternetz der Längen- und Breitengrade oft völlig zerfetzen, „sind sehr ungewöhnlich und stimmen nicht mit dem überein, was gewöhnlich für eine nützliche Landkarte gehalten wird“, räumt van Wijk ein. Außerdem ist bei der Herstellung mit einfachen Gleichungen nichts auszurichten: „Die Methode verlangt eine Reihe nichttrivialer Algorithmen.“ Wozu soll das gut sein?
„Diese Art von Karten wurde noch nicht erforscht“, verteidigt van Wijk seine optische Zumutung. Sein computerwissenschaftlicher Ansatz sei „methodisch interessant“: Kartografie sei sonst eine Domäne von Mathematikern und Kartografen, die nach einer geschlossenen Formel suchen, um die Erdoberfläche auf die Ebene zu projizieren – er als Informatiker nähere sich dem Problem dagegen schrittweise. Außerdem seien die polyhedralen Karten unterhaltsam und pädagogisch hilfreich: „Die Einschnitte zeigen die unvermeidliche Verzerrung in expliziter Weise. Bei herkömmlichen Standardkarten kann der Betrachter nur Vermutungen anstellen, wo und welche Verzerrungen vorkommen.“
Ein Vorteil des Polyeder-Verfahrens ist die Leichtigkeit, mit der sich Karten auf Knopfdruck nach den Vorlieben der Betrachter ausrichten lassen, erläutert Van Wijk: „Die Implementierung ist nicht einfach, aber wenn die Maschinerie einmal installiert ist, kann damit eine große Vielfalt von Karten generiert werden, indem man einzelne Parameter verändert.“ Wer sich für eine verzerrungsfreie Darstellung der Kontinente interessiert, der stellt die Landmassen ins Zentrum der Karte und macht die Einschnitte in den Ozeanen. Wer dagegen die Meere in den Blick nehmen möchte, verlegt umgekehrt die Küsten an den Fransenrand. Auch Flugrouten könnte man so genau darstellen.
Um unser gewohntes Weltbild auf den Kopf zu stellen, braucht es allerdings gar keine aufwändige neue Projektionsmethode. Eine Umorientierung reicht: Der Australier Stuart McArthur, dem die ständigen Downunder-Witze auf die Nerven gingen, veröffentlichte eine „richtige Weltkarte“, die nicht nach Norden, sondern nach Süden ausgerichtet ist. Australien rückt so ins Zentrum und Europa verkrümelt sich in die rechte untere Ecke. Verzerrungen sind Geschmacksache.
Das Runde muss ins Flache
Ein Globus ist meist teuer, selten praktisch und lässt sich auch nicht ohne weiteres vervielfältigen. Daher wurden Hunderte verschiedene Verfahren entwickelt, die annähernd kugelförmige Erde auf platten Landkarten darzustellen. Ein perfektes Weltbild kann keine Methode ergeben: Der Basler Mathematiker Leonhard Euler wies nach, dass jede beliebige Projektion zwangsläufig Verzerrungen produziert.
Die von Gerhard Kremer im 16. Jahrhundert eingeführte, bis heute verbreitete Mercator-Projektion ist winkeltreu. Dafür übertreibt sie die Flächen der Randgebiete. Grönland zum Beispiel sieht damit fast so groß aus wie Afrika, das in Wirklichkeit 14 Mal größer ist. Nord- und Südpol lassen sich mit Mercator überhaupt nicht auf eine Weltkarte bringen, denn sie wären damit vom Äquator unendlich weit entfernt.
Als Alternative zu „eurozentristischen“ Darstellungen veröffentlichte der Historiker Arno Peters 1973 ein flächentreues Weltbild. Die optische Aufwertung der südlichen Länder geht dabei jedoch auf Kosten der Form: Die Kontinente erscheinen bei der Peters-Projektion als lange schmale Schläuche. Die Produzenten von Weltkarten suchen daher oft Kompromisse zwischen Winkel- und Flächentreue.
Martin Ebner
N.B. 05.03.2020:
Subjektive Kartographie – der bayrische Künstler Stephan Huber erschafft mit großformatigen, teils fiktiven Landkarten ein eigenes Weltbild: www.stephanhuberkunst.de
Foto: Kink of the Ancient Roman Empire: reconstruction of the Limes border fence in Lorch, Germany. This point can be easily found on historical maps: Here the border between Romans and Germans took a sharp turn to the north. Facile trovebla sur historiaj kartoj: limo de iama roma imperio apud Lorch, Germanujo. Auf historischen Landkarten leicht zu finden: Limes-Knick in Lorch, Deutschland.