Don't drink and dive!

Russisches Portrait: Unsere Jugend ist unsere Zukunft!

About: manuscript for a radio feature about a young Russian deputy
Pri: radioelsendo pri juna rusa politikisto
Sponsor, Sponsoro: Körber-Stiftung
First broadcast,
Unua elsendo: SWR2 Eckpunkt, 18.09.1998

Regie: Maria Ohmer

1. Sprecher,
2. Sprecher liest deutsche Übersetzungen für russische O-Töne von Andrej


Sprecher: Einfach ist es nicht, das Leben des Andrej Viktoriewitsch zu überblicken. Will man ihn selbst fragen, bekommt man ja doch keine gescheite Antwort. Bestenfalls:

 

Andrej: Hier in Wologda, in dieser Mietskaserne wurde ich 1964 geboren, hier lebe ich, und wenn es mit mir zu Ende geht, wird mein Freund Larik dort drüben, wo „Rituelle Dienste“ draufsteht, mein Grab bestellen. So ein Kreis ist das.

 

Sprecher: Zuweilen aber hat Andrej doch das Bedürfnis, sich der jüngeren Generation mitzuteilen. Larik und Tolsti und alle anderen im Zimmer bekommen dann den Auftrag, den Tisch am Fenster abzuräumen: die vollen Aschenbecher, die Bücher, Lariks Pinsel und Malerfarben, die Pfanne mit den angebackenen Nudeln der letzten Woche, Andrejs Messer, die Brottüte, die Zuckertüte, die Zigarettentüte, die halbvertrocknete Zimmerpflanze, Teekanne und Kaffeetassen… Die Grabung ist so lange fortzusetzen, bis man das Tischtuch wegziehen kann. Dann kommt nämlich die alte Schulwandkarte „Niederwerfung des japanischen Imperialismus“ zum Vorschein.

 

Andrej: Seht ihr!

 

Sprecher: …pflegt Andrej dann zu rufen

Andrej: Seht ihr, da ist Wladiwostok, da hab‘ ich auf dem Schiff gearbeitet! Die Japaner haben mit ihrer Hochtechnologie und ihren hellen Lampen die ganzen Fische angezogen und wir haben blöd zugeguckt. Jetzt wollen die Japsen auch noch Kuschinar zurückhaben! [Bedeutungsschwere Pause] Na ja, macht nichts, Hauptsache, im Kosmos ist mit uns noch alles in Ordnung.

 

Sprecher: Auf dem Fischkutter habe er sich die Zehen gebrochen, daraufhin angefangen, viele Bücher zu lesen, schließlich studierte er Geschichte in Wologda, einer Provinzhauptstadt 500 Kilometer nördlich von Moskau. Im März machte Andrej Examen. Die ganze Nacht diktierte er Larik allerhand zum Thema „Die Selbstverwaltung in Archangelsk zur Zeit des Bürgerkrieges“. Als er am nächsten Morgen seine Diplomarbeit verteidigte, war er ganz weiß um die Nase herum. „Ohne alle bolschewistischen Klischees“, schrieb sein Professor, ein alter Kommunist, in die Bewertung.

 

Andrej: „Ausgezeichnet. 5 Punkte“ Ja, fick‘ doch deine Mutter!


Sprecher
: Freudig sträubte Andrej seinen Walroßschnurrbart und machte sich sogleich auf, seinem Vater, den es nach der vierten Heirat aufs Land verschlagen hatte, das Abschlußzeugnis zu zeigen. Wenn er im Bus nicht eingeschlafen wäre, wäre er Stunden früher auf der Kolchose angekommen.

 

Seinem Vater gehe es gut, berichtete er Larik bei der Rückkehr, der sei jetzt Bauer und Patriot – wie alle Dörfler.

 

Andrej: Er hat mich, also einen Sohn mit höherer Bildung, zehn Hühner, zwei Kühe und eine Frau. Was willst Du mehr?


Sprecher
: In Andrejs Zimmer hausen gewöhnlich drei: Der Schauspieler Larik darf, weil er mit 18 Jahren der jüngste ist, auf dem „guten Bett“ unter dem großen Wandteppich schlafen. Tolsti, der auch Schauspieler ist, aber als Straßenhändler vom Bierverkauf lebt, schläft auf dem Boden. Andrej schließlich rollt sich daneben auf einem kleinen Diwan zusammen. Da er nicht größer als 1,60 Meter ist, geht das gut.

Neulich aber feierte hier ein flüchtiger Bekannter Geburtstag. Am nächsten Morgen zählten die Oma und die Friseurladenbuch-halterin, denen die anderen Zimmer der Gemeinschaftswohnung gehören, fünfzehn Schlafende. Dann hörten sie auf zu zählen und fingen an, sich über die heutige Jugend zu wundern.

In der Küche hat Andrej einen Lenin vom Sperrmüll aufgehängt. Früher trohnte das Bild in irgendeinem Amtszimmer – jetzt wird es bestraft:


Andrej
: Das Schwein soll sehen, wie wir hier leben.


Sprecher
: Darunter steht Lariks Kakerlakenzuchtglas. „Wenn man ein Männchen und ein Weibchen zusammensetzt, wir nehmen einfach zwei der hier frei herumlaufenden Exemplare“, doziert Larik, „vermehren sie sich in 24 Stunden um den Faktor 50. Wenn man dann die Nahrungszufuhr einstellt, sieht man, daß sich Kakerlaken nicht gegenseitig auffressen, sondern verhungern.“ Also unter Versuchsbedingungen nicht zu Kannibalismus neigen.

Eines Tages kam ein Telegramm vom Stadtsowjet. Der Volksdeputierte Andrej Viktoriewitsch sei zur demnächst stattfindenden Ratssitzung eingeladen. Fluchend stellte Andrej alles auf den Kopf, um seine Stimmkarte zu finden. Nach einigen Anstrengungen gab er es auf.


Andrej
: Ich habe mich sowieso nur aus Dummheit in den Stadtrat wählen lassen von meinen Genossen Studenten. Die Exekutive macht eh, was sie will. Das sind haarscharf die gleichen Leute wie vor zehn, was sage ich, fünfzehn Jahren!


Sprecher
: Außerdem würden bei den Sitzungen immer viele Abgeordnete fehlen. Und sein Wahlprogramm habe er auch schon längst erfüllt:


Andrej
: Einem Verrückten, der mir Briefe geschrieben hat, hab‘ ich zur Pension verholfen. Und die Wiedereröffnung der großen Sophienkathedrale ist im Gang. In Rußland gibt es nur drei Sophienkathedralen – in Kiew, in Nowgorod und bei uns.


Sprecher
: Andrej erzählt das grundsätzlich allen Leuten, auch denen, die es nicht wissen wollen…


Andrej
: …in Kiew, in Nowgorod und bei uns.


Sprecher
: Mit seiner höheren Bildung war es kein Problem für Andrej, vom „Wissenschaftlich-methodischen Zentrum des Oblasts“ beschäftigt zu werden. Einmal im Schwung, überredete er seinen Chef, auch gleich noch seinen alten Studienkollegen und Mitabsolventen Wadik einzustellen.


Andrej
(prustet): Wadik muß bloß sagen, wo er herkommt, schon lacht alles. Er kommt nämlich aus der einzigen Stadt der ehemaligen Sowjetunion, in der Kondome hergestellt wurden.“


Sprecher
: Er könne schon lange nicht mehr darüber lachen, sagte da Wadik. Es sei schwer, mit Andrej in einem Raum zusammenzuarbeiten.


Andrej
: Ich entscheide wichtige Fragen…


Sprecher
: …erläuterte Andrej einmal seine Tätigkeit. Als Larik ergänzte, das „Wissenschaftlich-methodische Zentrum“ wisse selbst nicht, wozu es eigentlich existiere, führte Andrej aus, er organisiere Trachtenabende, Ballonfahrten, Volksfeste und andere bedeutende kulturelle Ereignisse.


Andrej
: Aber genaugenommen ist das eine Frauenarbeit, den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen, Tee trinken und auf den Abend warten. Immerhin habe ich aber ein Telefon, und von meinem Monatslohn kann ich mir, wenn er einmal ausbezahlt wird, ein Eis kaufen. Das ist auch etwas.


Sprecher
: Sein Chef ist gleichzeitig Gebietshäuptling der von Wendehälsen gegründeten NPSR, der „Volkspartei Freies Rußland“. So wunderten sich Andrejs alte Mitstreiter von der Dissidentenbewegung „Demokratisches Rußland“ wenigstens nicht allzusehr, als Andrej sich zum 1.Mai in Schale warf, zum Bahnhof ging, dort von seinem Abgeordneten-Recht, außerhalb aller Warteschlangen bedient zu werden, Gebrauch machte und mit Wadik zusammen nach Moskau fuhr, um an der Gründungsversammlung der NPSR-Jugendorganisation teilzunehmen.

Im Zug hatte Andrej Entscheidungsschwierigkeiten, denn es gab gleich mehrere hübsche Schaffnerinnen. Aber das schadete seiner guten Laune keineswegs, wie sich am nächsten Morgen in Moskau zeigte. Kaum angekommen an der Rezeption der ehemaligen Komsomolhochschule, in der die Versammlung stattfand, stellte Andrej seinen Begleiter vor:


Andrej
: Das hier ist Wadik, mein Freund, Sozialist und…


Sprecher
: -Wadik hatte eigentlich schon bei „Freund“ protestieren wollen-


Andrej
: …ehemaliger Kommunist.


Sprecher
: Mit entschlossener Handbewegung unterstrich Andrej seine Worte. „Wir hier alle auch“, strahlte der NPSR-Empfangsmann, „herzlich willkommen“.

Ohne sich auch nur ein einziges Mal zu Wort zu melden, wurden Andrej und Wadik in den Sowjet der neuen Jugendorganisation gewählt. Ihre Namen hatten wohl schon vorher auf der Wahlliste gestanden. Beim Mittagessen in der noblen Kantine der ehemaligen Komsomolzenanstalt fragte Wadik, wieso Andrej nach so vielen Jahren antikommunistischen Kampfes derart mühelos Funktionär bei der Jugendorganisation der Exkommunisten werden könne?


Andrej
: Als ich gestern in Wologda abfuhr, sah ich die Perspektive, gratis nach Moskau zu fahren. Jetzt sehe ich die Perspektive, auch ein zweites Mal nach Moskau zu fahren; oder noch öfter.“


Sprecher
: Außerdem habe die NPSR „große Möglichkeiten“ und eine durch und durch vernünftige Losung: „Eigentümer schaffen!“ Auch sei seine neue Funktion nicht besonders anstrengend:


Andrej
: Der Vertreter des NPSR-Büros gibt mir die Essensmarken und sagt mir, wie ich abstimmen muß.


Sprecher
: Gegen Ende der Gründungsversammlung stand einer der Jungabgeordneten auf und donnerte, alle der Versammelten hätten versagt, ihre Aufgabe nicht erfüllt. Andrej interpretierte:


Andrej
: Er meint, wir hätten drei Tage lang nur über Funktionärsposten und Strukturen der neuen Parteijugend geredet, aber kein Wort über unsere politischen Ziele verloren, also warum und wozu wir die Organisation gründen. Andererseits – wozu brauchen wir politische Ziele, wenn wir doch eine Organisation haben?


Sprecher
: Vor der Rückfahrt versuchte Andrej verzweifelt, irgendwo im Jaroslawler Bahnhof für eine „sehr liebe Bekannte“ Bananen zu kaufen. Als dieses Trachten scheiterte, tröstete er sich mit der Bemerkung, daß es mittlerweile Bananen genausogut auch in Wologda zu kaufen gebe, und mit einer Cognacflasche. Danach suchte er recht lange eine Metrostation, in der schon Stalin immer gesprochen habe – wegen der guten Akkustik. Als er den Untergrundbahnhof endlich gefunden hatte, sang er so laut er konnte, er bezwinge die Taiga und baue die BAM, die „Baikal-Amur-Magistrale“! Ein älterer Passant wankte gerührt auf ihn zu und drückte ihm ergriffen die Hand.


Andrej
: Bitte, bitte, gern geschehen!


Sprecher
: Friedlich, fast ohne Gesang fuhr Andrej nach Hause.

Der Rest des Frühlings sah trautes Leben in der Wohngemeinschaft. Andrej kämpfte sich mühsam durch ein dickes Marketinglehrbuch, hüllte sich dabei in Schweigen, wozu er das jemals brauchen werde. Tolsti verkaufte Bier. Larik schlief meistens, nur nachts nicht, denn da bemalte er Andrejs Wandschrank mit den bunten Ornamenten der traditionellen nordrussischen Volkskunst. Zufällig wachte Andrej einmal um drei Uhr auf.


Andrej
: Du bist ein Genie!


Sprecher
…lobte er Larik väterlich.

Dann aber überlegte sich Larik ernsthaft, sich in Moskau beim Theaterinstitut zu bewerben. Er fing an, häufiger zur Gitarre zu greifen und klassisches Liedgut zu singen: „Das alte Mütterchen geht mit dem Eimer zum Brunnen“ etwa oder „Ich stehe auf und kämpfe für die Sowjetmacht“.


Andrej
: Halt‘ jetzt endlich dein dummes Maul!

Sprecher: …schrie Andrej nach dem zuletzt genannten Lied. – Larik war zutiefst beleidigt. Er packte seine Gitarre, seinen Rucksack, die Gedichtbände, das große Gurkenglas (ein Geschenk seiner Mutter), die bemalten Holzschachteln und all sein sonstiges Hab und Gut und brachte alles bei diversen Freundinnen in der ganzen Stadt unter. Kaum war der Auszug aber perfekt, versöhnte er sich wieder mit Andrej. Tagelang waren die beiden beschäftigt, den ganzen Müll wieder einzusammeln und in Andrejs Zimmer zurückzustopfen.

Das Sexualleben eines Volksdeputierten bedarf der Organisation:


Andrej
: Heute Abend, sagen wir mal so ab elf,


Sprecher
: …erklärte Andrej, müsse er dringend etwas für seine Gesundheit tun. Larik verstand sofort. Er maulte zwar noch ein bißchen, daß er am folgenden Tag seine Aufnahmeprüfung fürs Theaterinstitut habe, seine letzte Chance, nachdem er das erste Examen verschlafen hatte. Aber dann trottete er doch einsichtig durch den strömenden Regen zum Hauptbahnhof, um sich dort dem schlechten Bier aus Jaroslawl auszusetzen, den noch schlechteren Lunchpaketen, den amerikanischen Videofilmen und Missionstraktaten, die das schlechteste von allem waren.

Um vier Uhr kam Larik zurückgelatscht. Empört stellte er fest, daß Andrej gar keinen Damenbesuch hatte, ja solcher nicht einmal zu erwarten gewesen war. Er habe „zufällig“ eine Kiste mit Gaspistolen organisiert, klärte Andrej auf, die habe er nun einem interessierten Klienten verkaufen wollen.


Andrej
: Waffenhandel ist strafbar. Wenn die Miliz kommt, ist es besser, sie verhaften nur mich, kapiert?


Sprecher
: Larik zeigte wenig Verständnis für die ganze Aktion, als er wütend seinen klatschnassen Pullover auswrang – nicht zuletzt deshalb, da kein Klient erschienen war. Andrej zuckte erklärend die Achseln.


Andrej
: Was tun? So ist das Leben.


Sprecher
: Bei dieser Gelegenheit kam auch der akademisch gebildete Analytiker wieder einmal zum Vorschein. Mit weit ausholender Gebärde legte Andrej dar:

Andrej: In Rußland haben wir es zur Zeit mit folgendem Prozeß zu tun: Die Menschen werden selbständig und befreien sich aus der Abhängigkeit vom Staat. Wenn ich auch nur eine einzige Gaspistole verkaufe, habe ich schon sieben Monatslöhne verdient.

Sprecher: Auf seine Arbeit in diesem „wissenschaftlich-methodischen Zentrum“ schaue er jetzt nur noch mit dem linken Auge. Mit dem rechten schaue er aber auf den Markt, wo es Geld zu verdienen gebe. -„Er hat noch keine einzige Gaspistole verkauft“, plauderte Larik nach sechs Wochen aus.

Daß im Juli schließlich die Stromversorgung des Zimmers endgültig ihren Geist aufgab und die Kakerlaken sich explosionsartig vermehrten, nahm Andrej gelassen. Daß die Wasserversorgung zusammenbrach und man mit Eimern bis zur Feuerwehr gehen mußte, war weiter nicht tragisch. Auch daß Tolsti von Bier auf „Prima Royal Feinsprit 96 Prozent Alkohol“ umstieg und die Hälfte gleich selbst unverdünnt verbrauchte, akzeptierte er, denn er konnte mittrinken. Daß aber seine unlängst verstorbene Großmutter anfing, ihm „jede Nacht zu erscheinen“ und „auf den Kopf zu hauen“ – das machte Andrej ganz fertig. Ohne jede Kommentar fuhr er nach Jalta in die Sommerferien.

So einer ist Andrej. Ich hab‘ ja gleich gesagt, daß er ein schwieriger Fall ist.

Martin Ebner


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Foto: Don’t drink and dive! Warning in Velikij Ustjug, Russia. Avertotabulo en Velikij Ustjug, Rusujo. Warntafel in Welikij Ustjug, Russland

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