About: Japan’s landscape is destroyed by useless construction projects.
Pri: Malutilaj konstruadoj detruas la pejzaĝon de Japanujo
Sponsor, Sponsoro: Krupp-Stitung
Published, Aperis: Woz – Die Wochenzeitung, 26.06.2002
Ein Land zum Weinen: Japan begräbt sich selbst
Warum ist Japan so hässlich, obwohl es für elegantes Design und schöne Gärten berühmt ist? Dass die Hochglanzbilder der Fremdenverkehrsprospekte von der Wirklichkeit abweichen, soll auch anderswo vorkommen. Während aber das Ruhrgebiet nie den Anspruch erhoben hat, ein Vorbild hinsichtlich „Naturliebe“ und „Ästhetik“ zu sein, werden Japan-Besucher mit Naturpropaganda bombardiert: In den Werbebroschüren preisen Restaurants mit Namen wie „Ahornblatt“ oder „Herbstlaub“, Hotels wie „Glühwürmchen“ oder „Bambuswald“ und die Bank „Kirschblüte“ ihre Dienste an, daneben sind Fotos von Felsen an der Meeresküste zu sehen, auch Bergquellen, die über bemooste Steine sprudeln.
Nicht, dass ich gleich hinter dem bombastischen, seltsam menschenleeren Kansai International Airport in Osaka Reisfelder und einen rauschenden Bergbach erwartet hätte. Nach über einer Stunde rast der Flughafenexpress aber immer noch vorbei an Betonklötzen, denen man nicht ansieht, ob es Mietshäuser, Fabriken, Schulen, Kraftwerke, Einkaufszentren oder Müllverbrennungsanlagen sind. Unterbrochen wird das Grau nur von Werbeplakaten, einem Dschungel von Stromleitungen, Autobahnzubringern und den Neonreklamen der allgegenwärtigen Pachinko-Spielhöllen. Zuweilen gibt eine Brücke den Blick frei – auf ein bis zum Horizont komplett zubetoniertes Flussbett.
Die nächsten acht Stunden könnte ich so weiterfahren: Nach Osaka kommt eine Betonwüste, die genauso scheusslich ist und Nagoya heisst, irgendwann ihren Namen in Yokohama ändert, um schliesslich nahtlos in Tokyo überzugehen. In Richtung Westen das gleiche Elend bis Hiroshima: ein 800 Kilometer langer Häuserbrei. An den Zugfenstern müssten Warnschilder angebracht werden: „Hinausschauen kann zu Depressionen führen“. Als ob man zu lebenslänglich Untertürkheim verurteilt wäre.
Ich steige in Kyoto aus. Im Reiseführer hatte ich was von „kulturelle Hauptstadt“, „beeindruckende Tempel“ und „alte Holzhäuser“ gelesen. Und dass die Amerikaner die Stadt 1945 nicht bombardiert haben, weil sie zu schön sei und irgendwie der ganzen Menschheit gehöre. Die Generäle hätten sich ihre sentimentale Anwandlung sparen können. Beton, Plastik und Plexiglas wirken zwar nicht so schnell wie eine Atombombe, aber fast so gründlich: Außer Tempeln und ein paar Gärten ist vom alten Kyoto so gut wie nichts mehr übrig.
Die ehrwürdige Kaiserstadt ist nicht in den fortschrittsgläubigen 1960er Jahren zerstört worden, sondern in den letzten beiden Jahrzehnten, als sich der Rest der Welt schon längst Stadtplanungs- und Denkmalschutzgesetze zugelegt hatte. Nach Angaben von Bürgerinitiativen sind in Kyoto seit 1980 über 50000 alte Holzhäuser „verschwunden“. Im Stadtmuseum, einem klobigen Betonhochhaus, in dem sich eine Handvoll Exponate verlieren, wurde dafür im neonbeleuchteten Erdgeschoss eine traditionelle Ladenzeile nachgebaut. Der Zementfussboden lässt zwar keine urige Atmosphäre aufkommen, ist aber bestimmt pflegeleicht abspritzbar – die Moderne hat auch Vorteile.
Am Rand von Kyoto gibt es noch schöne Ecken. Sofern man über die Hochspannungsleitungen, die alle Bergwälder durchschneiden, hinwegsieht – was aber nach ein paar Tagen in Japan ganz automatisch geht. Schade nur, dass meine Fotokamera die Masten nicht auch ausblendet; die Wahl des Bildausschnitts ist immer etwas mühsam. Der Blick von der kaiserlichen Villa Shigakuin soll auf „seit dem 17. Jahrhundert unveränderte Natur“ fallen, sagt die Werbung. Tatsächlich entdecke ich erst auf den zweiten Blick einen völlig zubetonierten Berg, wobei die Verbauung ausnahmsweise begrünt oder grün angemalt wurde.
Und wenn man aus dem Industriegürtel flüchtet? Ich versuche es und fahre zur Nordküste. Der Bummelzug ist so langsam, dass ich den Müll links und rechts der Strecke gut erkennen kann: rostende Kühlschränke, alte Autos, Plastiktüten. Wohin sollte man den Abfall auch sonst schmeissen, als in eine Landschaft, deren „Berge, Felder und Bäume seit Urzeiten heilig und den Gottern geweiht sind“? Wahrscheinlich gibt es auch eine Shintogottheit für Getränkeautomaten, die selbst in Dörfern alle 50 Meter rund um die Uhr leuchten, piepsen und blinken.
In Amanohashidate pilgere ich zu einer der „drei schönsten Ansichten Japans“, einer kieferbestandenen Landzunge, die eine Meeresbucht abtrennt. Wenn man sich beim Aussichtspunkt mit dem Rücken zum Meer stellt, nach vorn beugt und zwischen den Beinen durchschaut, soll man eine „Leiter zum Himmel“ sehen. Ich sehe vor allem eine Bergbahn, die auf dem gegenüberliegenden Berg zu einem Freizeitpark mit Riesenrad fährt, sowie am Ufer die üblichen, lieblos hingepfuschten Neubauten. Und in Richtung einiger Inseln im Meer ein riesiges Unding, das ein Zementwerk oder ein Atomkraftwerk sein könnte, vielleicht auch ein Hotelkomplex. Je länger ich Japan anschaue, desto mehr überzeugen mich die Bücher von Alex Kerr.
Alex Kerr ist ein Amerikaner, der seit 30 Jahren als Kunsthändler und Dolmetscher für Immobilienfirmen bei Kyoto wohnt. Seine Mission: erklären, warum Japan so hässlich ist. Seine These: Nicht „Verwestlichung“ führe zum Verlust der traditionellen Schönheit, sondern paradoxerweise der Versuch, sich gegen ausländische Einflüsse abzuschirmen und um jeden Preis Veränderungen zu vermeiden. Während der Rest der Welt sich in ein postindustrielles Zeitalter aufmache, zunehmend von Dienstleistungen lebe und an Umweltschutz denke, sei Japan in den 1960er Jahren steckengeblieben.
Vor allem widmet sich Kerr der im Gegensatz zur Exportindustrie im Ausland kaum bekannten Bauindustrie. Ganze 10% der japanischen Erwerbstätigen würden dort arbeiten und pro Jahr 30 Mal mehr Beton mehr verbrauchen als die -viel grösseren- USA. Die Folge: Von 113 großen Flüssen sind bereits 100 komplett eingemauert, von der Meeresküste mehr als die Hälfte. Für die meisten der mit Schulden finanzierten Bauten, die Japan verhässlichen, gibt es keinen echten Bedarf: riesige Brücken zu kaum bewohnten Inseln, gigantische Flughäfen, zu denen sich kaum Flugzeuge verirren, monumentale Museen, die nichts auszustellen haben, überdimensionierte „Mehrzweckhallen“ noch im kleinsten Dorf.
Der Hauptgrund für den Baurausch, der 40% der Staatsausgaben auffrisst, ist laut Kerr, dass von jedem Auftrag ein bis zwei Prozent des Budgets – steuerlich anerkannt – in die Taschen der zuständigen Politiker wandern. Die Bürokraten würden erst recht profitieren, sei es als Angestellte von Bauagenturen, sei es weil sie die nicht öffentlich ausgeschriebenen Aufträge Firmen zuschanzen, an denen sie beteiligt sind oder bei denen sie nach ihrer Pensionierung angestellt werden.
Die Bürokratie werde nicht kontrolliert, daher sei Japan ein „Land ohne Bremsen“. Wenn die Beamten einmal einen Weg eingeschlagen haben, gebe es nichts, was sie aufhalten könne. Noch so viele Unterschriftenaktionen könnten etwa die Verschandelung Kyotos nicht verhindern. Allerdings hätten japanische Firmen nie Altbauten-Know-how entwickelt, und ausländische Unternehmen würden nicht zugelassen. Daher hätten auch private Hausbesitzer nur die Wahl zwischen „alt und schäbig“ oder „neu und steril“.
Da die Bürger durch überteuerte Landpreise zum Sparen gezwungen werden, habe die Bürokratie auf so viel Kapital Zugriff, dass sie auch auf ökonomische Vernunft keine Rücksicht nehmen müsse. Beispielsweise werde seit 1980 der Nagara-Staudamm gebaut, für 1,5 Trillionen Yen eines der teuersten Bauprojekte der Welt, das den letzten naturbelassenen Fluss des Landes begrabe – obwohl die zugrundeliegende Prognose zum Wasserverbrauch von 1950 stamme und den heutigen Bedarf um 80% übertreffe.
Wie sich dieses System entwickelt hat, schildert Kerr am Beispiel der Strommasten: „Japan ist das einzige entwickelte Land, das Kabel nicht unterirdisch verlegt.“ Nach dem Krieg hätten das die Planbürokraten für überflüssigen Luxus gehalten, da alles Geld für die Industrie gebraucht würdde. Um 1965 sei diese Politik dann „eingefroren“: Da Kabel nie verlegt wurden, habe das „High-Tech-Land“ dafür keine Technologien entwickelt, sondern nur Rechtfertigungen, etwa dass Japan einen „besonderen Boden“ habe oder die „Erdbebengefahr“ den Kabelsalat nötig mache. Obwohl gerade bei Erdbeben umknickende Masten und herabhängende Stromleitungen gefährlich sind. „Das dritte Stadium ist Abhängigkeit. Die Produktion von Stahl- und Betonmasten ist ein profitables Geschäft für die entsprechenden Kartelle geworden“.
Der Grund für die Misere sei aber nicht nur die Gier der Beamten, sondern auch die traditionelle Kultur. Hinter der Betoniererei stecke auch der alte Wunsch nach „totaler Kontrolle“: Zwischen der Vergewaltigung eines Bonsais und der Vergewaltigung einer Landschaft gebe es keinen prinzipiellen Unterschied. Hinter der „geschmacklosen“ Verwendung von modernen Baustoffen stecke Tradition: „Japanische Architekten nehmen die Materialien, die sie vorfinden und gebrauchen sie ohne Bearbeitung“ – ob Bambus oder Wellblech.
Diese Selbstzerstörung könnte durch Ausländer gemildert werden, meint Kerr, der selbst einen Strohdachbauernhof restauriert hat. Japan verhindere jedoch eine Ansiedlung von Ausländern. Trotz seiner ursprünglich dramatischen Landschaft und zahlreicher Sehenswürdigkeiten habe sich das Land auch bewußt gegen Tourismus entschieden: „Japans Bürokraten mögen keine Mobilität. Ihre Strukturen hängen davon ab, dass die Grenzen geschlossen bleiben und Menschen, Ideen und Geld sich nicht allzu leicht bewegen.“ Beton ist nicht schön, aber stabil.
Martin Ebner
Bücher von Alex Kerr:
„Dogs and Demons. Tales from the Dark Side of Japan“, Penguin 2001; „Lost Japan“, Lonely Planet 2001 (10. Auflage seit 1996)
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N.B. (10.03.2020):
Apropos japanischer Beton: Triaina-Projekt will Fische retten
Japanische Künstler wollen aus der Not eine Tugend machen: Zusammen mit Forschern der Universität Tokushima haben sie Beton entwickelt, der mit Aminosäure angereichert ist und Nährstoffe an seine Umgebung abgeben soll. Damit wollen sie maritime Ökosysteme renaturieren: triaina-project.com
Foto: Fukuchiyama, a little town in Central Japan; Fukuchiyama, urbeto en Japanujo; Fukuchiyama, eine Kleinstadt in Japan