About: Japan rediscovers its traditional long distance ways (Tokaido, Nakasendo etc.)
Pri: Japanujo remalkovras tradiciajn ŝoseojn
Sponsor, Sponsoro: Krupp-Stitung
Published, Aperis: Die Zeit, 12.02.2004
Japan entdeckt seine alten Fernwege wieder, auf denen zu Shogunzeiten Millionen unterwegs waren. Die ersten Poststationen sind schon auf Vergangenheit getrimmt.
Wanderer mit Strohhüten stapfen an bizarren Kiefern vorbei, Kulis beugen sich unter Lastballen an Bambusstangen, dazwischen drängeln Sänften und rote Sonnenschirme, im Hintergrund leuchtet die weiße Bergspitze des Fuji über den blauen Ozean: Die Holzschnitt-Serie „53 Stationen des Tokaido“ machte den Künstler Hiroshige berühmt und prägt bis heute das Bild von Nippon. Zum 400-jährigen Jubiläum der japanischen Fernstraßen wurden Teilstücke der alten Überlandwege wieder hergestellt, urige Poststationen und Gasthäuser restauriert.
„Wer viel reist, gibt viel Geld aus. Und wer kein Geld hat, macht keinen Aufstand“, dachten sich die Shogune, die nach langen Bürgerkriegen im Jahr 1600 die Macht über ganz Japan eroberten. Um ihre Militärdiktatur zu sichern, verdonnerten sie alle Provinzfürsten, die Daimyos, Frauen und Kinder als Geiseln nach Edo, also ins heutige Tokyo, zu schicken und jedes zweite Jahr selbst in die Hauptstadt zu kommen. So wurden die Daimyos auf Trab gehalten: Sie mussten außer ihrer Stammburg eine zweite standesgemäße Hofhaltung in Edo finanzieren, dazu die kostspieligen Reisen. Das System funktionierte im Sinne der Erfinder: Für Privatarmeen blieb kein Geld übrig; in Japan herrschte 250 Jahre lang Frieden.
Für die staatlich angeordnete Völkerwanderung wurden Fernstraßen gebaut. Die beiden wichtigsten verbanden Edo, den Sitz des Shoguns, mit der alten Kaiserstadt Kyoto: der Tokaido, der „Weg am östlichen Meer“, und der Nakasendo, der „Weg mitten durch die Berge“. Eine Unzahl von Kontrollstellen und Wachposten sorgte dafür, dass der Militärregierung nichts entging. Den Daimyos wurde genau vorgeschrieben, wann sie sich mit ihrem bis zu 300 Mann starken Gefolge wo einzufinden hatten. Nie durften sich zwei Provinzfürsten in einem Gasthaus begegnen; so konnten sie sich nicht streiten, und schon gar nicht verbünden.
Ursprünglich waren die neun Meter breiten, oft von Bäumen beschatteten Pflasterstraßen nur für Fürsten, Samurai-Ritter, Beamte und Boten der Regierung gedacht. Bald erkannten aber auch Scharen von Kaufleuten den Nutzen der bewachten Verbindungen. Zum Spaß zu verreisen, war strikt verboten. Gegen fromme Gebete konnte aber selbst der strengste Shogun nichts haben. Daher entdeckten jedes Jahr bei schönem Wetter an die drei Millionen Japaner ihre Liebe zur Sonnengöttin, besorgten sich bei den Behörden eine Erlaubnis, pilgerten zum heiligen Schrein von Ise – und ließen es sich unterwegs in Bädern, Garküchen und Teehäusern gut gehen.
Ende des 19. Jahrhunderts bereiteten moderne Verkehrsmittel dem bunten Treiben von Adligen und Wandermönchen, Händlern und Gaunern, Ausflüglern und Schaustellern auf den Landstraßen ein Ende. Der Tokaido ist nun fast restlos unter Eisenbahnlinien und Japan entdeckt seine alten Fernwege wieder: Auf der Straße dAutobahnen begraben. Den Nakasendo dagegen würde ein Samurai durchaus wiedererkennen, zumindest im Landesinnern, obwohl nachts die alten Signallampen der Poststationen nicht mehr leuchten.
Im Kiso-Tal nördlich von Nagoya machten die Einwohner von Tsumago, einer von 67 Poststationen am Nakasendo, schon um 1968 aus der Not eine Tugend: vom Durchgangsverkehr abgeschnitten, setzten sie auf Nostalgie-Tourismus. Heute präsentiert sich Tsumago als eine Art japanisches Rothenburg: Die Restauration der Holzhäuser ist beinahe zu perfekt, fast schon kitschig geraten. Autos, Supermärkte und Spielhöllen wurden aus dem Zentrum verbannt, Stromleitungen und Fernsehantennen versteckt. Statt des sonst üblichen Plastikmülls verkaufen die Souvenirläden traditionelle Süßigkeiten, Schnitzereien und Washi-Papier. Für Fotografen ist die „Fuzoku Emaki Parade“ der Höhepunkt des Jahres: Die Einheimischen verkleiden sich am 23. November als Reisende der Edo-Zeit.
Mittlerweile entdecken auch andere Orte die alten Überlandwege wieder. In Hakone zum Beispiel wird in Sichtweite des Fuji-Bergs bis 2007 der ehemalige Kontrollpunkt wieder aufgebaut. An dieser Stelle wachten mit langen Eisengabeln bewaffnete Soldaten vor allem darüber, dass niemand Daimyo-Frauen aus Edo herausschmuggelte. Ein kleines Museum ist schon fertig, im Wald dahinter sind neun steile Kilometer des Tokaido wieder zu begehen. Wer hier über die Steinquader keucht, fragt sich, wie es einst möglich war, dass Expressboten für die 500 Kilometer von Edo nach Kyoto gerade einmal drei Tage brauchten, reguläre Speditionen fünf Tage.
In Kusatsu bei Kyoto, wo sich Tokaido und Nakasendo kreuzen, zeigt ein neues Museum alte Reiseführer, Geldbeutel, Landkarten und andere Reiseutensilien. Die Besucher dürfen Sänften und Kleider der Edo-Zeit ausprobieren. Außerdem kann in Kusatsu nach sieben Jahren Restaurierungsarbeiten ein Honjin wieder besichtigt werden, eine offizielle Unterkunft für Fürsten. In ganz Japan gab es einmal an die 1000 Honjins, meist das größte Haus der jeweiligen Poststadt. Heute sind noch rund 40 erhalten. Das herrschaftliche Gasthaus in Kusatsu stammt aus dem Jahr 1635. Zu der 4700 Quadratmeter großen Anlage gehören 39 elegante Zimmer, Bäder, Küchen, Ställe, ein Felsgarten – und eine schwarz lackierte Toilette für hohe Herren.
In der Gästeliste von Kusatsu findet sich auch Philipp Franz von Siebold. Der Japanforscher aus Würzburg arbeitete als Arzt für die holländische Handelsniederlassung in Nagasaki und begleitete Kaufleute auf dem Tokaido nach Edo. Siebold war bestimmt froh, aus Nagasaki wegzukommen. Dort waren die Holländer im Hafen auf der 70 mal 230 Meter kleinen Insel Dejima eingepfercht – bis zu Japans „Öffnung“ vor 150 Jahren der einzige Ort, an dem sich Ausländer aufhalten durften. Dejima wurde 1904 bei einem Hafenumbau abgerissen. Jetzt wird die ehemalige Langnasensiedlung rekonstruiert; fünf Gebäude können schon besichtigt werden, zwanzig weitere sind in Arbeit.
Tokyo will da nicht zurückstehen. Die Brücke Nihombashi, einst von Hiroshige verewigt und bis heute Nullpunkt aller japanischen Straßen, soll in zehn Jahren wieder sichtbar werden. Dazu muss eine Stadtautobahn verlegt werden. Die Beseitigung des Betons wird nicht billig, aber die Bürger des ehemaligen Edo wollen eben ein schöneres Stadtbild, erläutert Hitoshi Aoki von der staatlichen Stadtentwicklungsgesellschaft: „Viele Japaner sind nach Europa gereist und haben viel kohärentere Landschaften gesehen“, außerdem arbeiten nun die Leute wegen der Wirtschaftskrise weniger und „haben mehr Zeit über Lebensqualität nachzudenken“.
Wer heute schon Schönheit sucht, fährt am besten von Tokyo über Nikko nach Norden. In einem abgelegenen Tal war dort die ehemalige Poststation Ouchijuku nach dem Eisenbahnbau von der Welt vergessen worden. Vor ein paar Jahren entschieden die Dörfler, sie könnten die Modernisierung auch ganz bleiben lassen: Sie rissen den Asphalt von ihrer Hauptstraße wieder weg und ersetzten rostige Blechdächer durch Stroh. Jetzt lebt Ouchijuku wieder von Reisenden, die von weit her kommen. Touristen sitzen in den alten Gasthäusern auf Tatami-Matten, schlürfen gemütlich Tee und schauen zu wie draußen nach dem Regen Nebel aus dem Wald aufsteigen. Und träumen vom alten Japan.
Martin Ebner
Foto: Tori gate on Miyajima island near Hiroshima, Japan. Insulo Miyajima apud Hiroshima, Japanujo. Tori auf Miyajima bei Hiroshima, Japan