About: Situation of students in Bulgaria
Pri: Situacio de studentoj en Bulgarujo
Published, Aperis: FAZ Hochschulanzeiger, Januar 1998
Neuwahlen, aber keine Vitamine
Erfolgreich demonstrieren – hungrig in den Hörsaal: Studenten in Bulgarien
„Zu Jahresbeginn hatten wir ein bißchen Hoffnung, daß die Dinge besser würden“, erzählt die bulgarische Ethnologiestudentin Velitchka Kitipova. „Ich konnte es kaum glauben, als ich sah, wie tausende Studenten auf die Straßen gingen.“ Im Januar demonstrierten die Studierenden jeden Tag gegen die sozialistische Regierung – in Sofia, in Plovdiv und in ganz Bulgarien. „Die Demonstrationen hatten jeden Tag ein Hauptthema: An einem Tag trugen wir Särge durch die Straßen – für die Sozialistische Partei. Am nächsten Tag hatten wir alle Pyjamas an, um zu zeigen, daß Bulgarien ein Irrenhaus ist, dann liefen wir mit Weckern herum usw. Es hat Spaß gemacht. Wir haben uns frei gefühlt – wahrscheinlich zum ersten Mal in unserem Leben.“
Zunächst haben die Demonstrationen ja nichts gebracht. Die Regierung ignorierte den Wunsch nach Neuwahlen einfach. Dann aber fingen auch die Angestellten der öffentlichen Verkehrsmittel zu streiken an. Immer mehr Menschen schlossen sich dem Protest an. Sie blockierten die wichtigsten Bahnlinien, dann die Hauptstraßen. Plovdiv, die zweitgrößte Stadt nach Sofia, wurde völlig von der Außenwelt abgeschnitten. „Die Läden waren sofort leer. Wir waren am Anfang eines Bürgerkriegs“, berichtet Velitchka. „Aber dann gaben die Sozialisten doch auf. Das war der glücklichste Tag in unserem Leben!“
Bis zu den für den 19. April geplanten Parlamentswahlen führt eine nichtsozialistische Übergangsregierung die Geschäfte. Siegesfreude will bei den Studierenden trotzdem nicht so recht aufkommen. „Vor lauter Stolz über die Demonstrationen haben wir gar nicht bemerkt, daß unser Schiff sinkt“, sagt Georgi Naidenov. „Bulgarien ist schlicht und einfach am Ende.“ Wo sonst in Europa gibt die Regierung offiziell zu, daß die Atomkraftwerke mangels Wartung „sehr gefährlich“ sind, die Getreidevorräte „wahrscheinlich nur noch für 20 Tage reichen“ und die Inflation monatlich so um die 390 Prozent beträgt?
An ein Studieren im eigentlichen Sinne ist unter diesen Umständen natürlich nicht zu denken. Georgi zum Beispiel kommt nicht einmal in die Uni – „weil es keinen Treibstoff gibt und deshalb auch keine Busse mehr fahren“. Aber fürs Ingenieur-Studium hat der Fünfundzwanzigjährige ohnehin keine Zeit, seit er als Verkäufer in einem Kosmetik-Geschäft arbeitet. Dabei verdient er 30.000 Leva (rund 20 DM). Das ist zwar immerhin soviel, wie ein Professor der Akademie der Wissenschaften bekäme, wenn die Regierung jemals das Gehalt überweisen würde – „aber das reicht gerade für Brot und Zigaretten. Ich kann keine Früchte und kein Fleisch kaufen – und bekomme nicht genug Vitamine.“
So geht es fast allen Studierenden in Bulgarien, bestätigt der Medizinstudent Georgi Vytev: „Die Ernährung ist ziemlich ungenügend – zu wenig Vitamine und Proteine. Zum Glück haben viele Studenten Eltern auf dem Land, die ihnen ab und zu Äpfel oder Kartoffeln schicken.“ Für Städter wie die Philologiestudentin Sophia Kiriakova sieht es dagegen wirklich düster aus: „Ich lebe von 6000 Leva (rund 4 DM) im Monat. Das bedeutet beinahe verhungern. Ich esse einmal am Tag – nur Brot. Ich kann keine Kleider, Schuhe, Medizin oder sonstwas kaufen. Ich kann nicht mit Freunden ausgehen, nicht rauchen, nicht trinken.“ -Kein Wunder also, daß den bulgarischen Studenten zur Zeit vor allem zwei Gedanken durch den Kopf gehen: 1. „Wo bekomme ich was zu essen?“ 2. „Wie zum Teufel komme ich ohne Geld aus Bulgarien raus?“
Nadia Alexander / Martin Ebner
Foto (04.07.2013): Changing times: this former palace of the Communist Party in Blagoevgrad, Bulgaria, is now an „American University“. Iama domo de komunista partio en Blagoevgrad, Bulgarujo, estas nun „amerika universitato“. Im ehemaligen Palast der Kommunistischen Partei in Blagoevgrad, Bulgarien, ist jetzt eine „Amerikanische Universität“ untergebracht.