Shop window in Bialystok, Poland

Polen: 25 Jahre Solidarnosc

About: Poland remembers 25 years Solidarnosc movement [in 2005]. Winners and loosers of recent developments have different views about it.
Pri: 25 jaroj Solidarnosc-movado en Polujo.

Sponsor, Sponsoro: Bundeszentrale für politische Bildung
Published, Aperis: d’Lëtzebuerger Land, 14.10.2005


„Was gibt es da zu feiern?“


25 Jahre Solidarnosc: Begegnung mit Kapitalismuskritikern, Konzernchefs und anderen Veteranen des Danziger Werftstreiks

Tor Zwei ist frisch gestrichen, am Gitter hängen die Fahnen Polens, des Vatikans und der Solidarnosc, dazu Blumen und ein Bild von Papst Johannes Paul II. „Werft Danzig“ steht immer noch groß darüber, nicht mehr „namens Lenin“, sondern „Aktiengesellschaft“. Das Pförtnerhäuschen ist nun ein Souvenir-Kiosk. Dahinter: Bäume, Büsche, braunes Brachland. Der Großteil der Werft ist abgerissen. Am Rand des riesigen Geländes steht noch die Halle, in der Lech Walesa vor 25 Jahren das legendäre Abkommen mit der kommunistischen Regierung unterzeichnete. Sie dient jetzt als Solidarnosc-Museum. Hinter Glas sind dort die beiden mittlerweile als Weltkulturerbe geltenden Holztafeln ausgestellt mit den 21 Forderungen der streikenden Werftarbeiter vom August 1980. Die ersten drei Punkte waren freie Gewerkschaften, Streikrecht und Pressefreiheit gewesen, die übrigen hatten soziale Verbesserungen verlangt, etwa Lohnerhöhungen, ein niedrigeres Pensionsalter, mehr Kindergartenplätze und schließlich „alle Samstage arbeitsfrei“. Haben die Solidarnosc-Aktivisten erreicht, was sie wollten? Was wollen sie heute? Bisher waren die Jahrestage der Bewegung in Polen kaum begangen worden; diesen Sommer aber treffen sich viele Veteranen wieder.

Bei den diversen Konferenzen, Symposien, Konzerten und Vernissagen, die sich bis in den Oktober hinein abwechseln, fehlt eine Mitbegründerin der Solidarnosc: Anna Walentynowicz. Die ehemalige Kran- und Streikführerin, deren Entlassung aus der Danziger Werft vor 25 Jahren die Protestwelle ausgelöst hatte, gehörte mit Walesa zu den Verhandlern des Abkommens, wurde zu Zeiten des Kriegsrechts interniert und hat nach ihrer Entlassung nie wieder richtig Tritt gefasst. In der „zweiten Solidarnosc“ ab 1989, dem „Runden Tisch“ mit den Kommunisten und der ganzen Entwicklung seither sieht die 76jährige Walentynowicz nichts als Betrug und Scheitern: „Walesa, Mazowiecki, Geremek und wie sie alle heißen, sind durch den Verrat reich geworden. Wir aber, die Solidarnosc-Mitglieder der ersten Stunde, haben unsere Arbeit verloren. Heute stehen drei Millionen Arbeiter auf der Straße. Was gibt es da zu feiern? Dafür haben wir nicht gekämpft!“ Die erste Solidarnosc habe nicht Kapitalismus, sondern Selbstbestimmung gewollt und sei die erste Anti-Globalisierungsbewegung der Welt gewesen. In einem offenen Brief an das Europa-Parlament wettert sie: „Jetzt steht der Name Solidarnosc für die Liquidierung von Industrie und Arbeitsplätzen, für nationalen Ausverkauf. Um den Lügen und Fälschungen jede Glaubwürdigkeit zu nehmen, boykottieren viele Teilnehmer der Streiks von 1980 die offiziellen Jubiläumsfeiern.“ Das ist allerdings etwas übertrieben: Zu den alternativen Tagungen, mit denen Walentynowicz unter dem Slogan „Aus Sorge um das Vaterland“ durch Polen tourt, kommt nur ein Häuflein Wendeverlierer.

Zur großen Jubiläumskonferenz „Von der Solidarität zur Freiheit“ versammelten sich dagegen Ende August die prominenten Solidarnosc-Aktivisten fast vollzählig in Warschau, dazu viele Sympathisanten aus dem Ausland. Im Hotel Viktoria beklatschten sie artig pathetische Worte von Walesa und Barroso. Höflich hörten sie auch Präsident Kwasniewski zu, der ihnen „Hochachtung und Dankbarkeit aller Polen“ bescheinigte; der Ex-Kommunist legte dar, die gewaltlose Revolution habe das polnische Schicksal durchbrochen und das alte Image der Polen als Husaren, Antisemiten und Säufer überwunden. Beim Buffet, das vom reichsten polnischen Unternehmer gesponsert wurde, verglichen die Veteranen ihre Haftzeiten: „Wie lange hast du gesessen?“ Da es in der Volksrepublik Polen immer wieder Amnestien gegeben hatte, mussten sich die Polen dabei meist Dissidenten aus weniger liberalen Ländern geschlagen geben – ein Rumäne zum Beispiel war wegen einer Grußadresse an Solidarnosc ganze sechseinhalb Jahre im Knast gelandet.

Bogdan Borusewicz, Mitautor der Danziger Forderungen und einst einer der Anführer des „radikalen“ Flügels der Solidarnosc, hatte es bereits als Gymnasiast mit antikommunistischen Flugblättern zu drei Jahren Gefängnis gebracht. Nach Verhängung des Kriegsrechts ging er vier Jahre in den Untergrund, bevor er doch verhaftet wurde; nach den ersten freien Wahlen war er bis 1993 Fraktionsführer der Solidarnosc im Sejm. Heute ist er Vize-Marschall der Wojewodschaft Pommern und sieht keinen Grund, nicht zu feiern: „Wir müssen das historische Bewusstsein bewahren. Solidarnosc war vor allem ein Sieg ohne Blutvergießen – sonst hatte Polen immer nur blutige Niederlagen. Der August 1980 zeigte die besten polnischen Charakterzüge, die guten Menschen wurden damals noch besser, es gab sogar Fälle von Abstinenz.“

Dass der Wahlkampf vor den anstehenden Sejm- und Präsidentschaftswahlen gerade in eine Schlammschlacht um die kommunistische Vergangenheit ausartet und dabei auch die freie Gewerkschaft ins Visier diverser Verschwörungstheoretiker gerät, belustigt Borusewicz: „Es wird gestritten, ob Solidarnosc eine Veranstaltung der CIA oder der polnischen Stasi war. Der Schlüssel ‚Geheimdienste‘ passt einfach immer. Von US-Millionen habe ich jedenfalls in der Solidarnosc-Leitung nie etwas gesehen. Für kein Geld der Welt hätte man eine Zehn-Millionen-Bewegung gründen können – und alle Spitzel konnten sie nicht verhindern! Ausländische Unterstützung bekamen wir anfangs von links, zum Beispiel eine Spende von Heinrich Böll. Deutsche Maoisten wollten uns die Revolution beibringen und brachten die ersten Druckmaschinen mit – unter dem polnischen Einfluss hörten sie nach einigen Jahren auf, Maoisten zu sein. Später haben wir dann anderen geholfen. Das Modell der Gewerkschaft, die politische Ziele nicht direkt ansteuert, ist spezifisch polnisch und wohl nicht übertragbar, aber wir haben zum Beispiel Radioempfänger nach Litauen gebracht. Es ist ja klar: Freiheit wäre in einem Land allein nicht länger haltbar.“

So sehen das die meisten Solidarnosc-Aktivisten: Das Jubiläum soll genutzt werden, die Demokratisierung Osteuropas weiter voranzutreiben. Das von der Stadt Danzig gestaltete, in ganz Polen verbreitete Jubiläumsplakat zeigt unter dem Titel „Die Gegenwart wurde in Danzig geboren“ eine Reihe umstürzender Dominosteine. Auf dem ersten ist ein Bild Walesas zu sehen, dann folgen Aufnahmen des Brandenburger Tors, Vaclavs Havels und des neuen ukrainischen Präsidenten, dahinter werden weitere Dominosteine angedeutet. Darunter reicht eine Liste osteuropäischer Städtenamen von „Danzig August 1980“ bis „Kiev 2004…“. Man beachte die kleinen Punkte, bittet Jan Krzysztof Bielecki, ehemaliger Berater der Danziger Streikenden, Ex-Premier und heute Präsident einer Bank: „Wir vom Organisationskomitee haben Platz für weitere Revolutionen eingeplant.“

„Wir waren uns von Anfang an einig, dass wir uns nicht auf polnische Themen konzentrieren sollten“, erläutert auch Eugeniusz Smolar, der 1968 als Studentenaktivist verhaftet worden war, dann emigrierte, als BBC-Journalist eine wichtige Rolle für die Solidarnosc spielte und nun Programmdirektor der Jubiläumskonferenz war. „Es gibt in Polen viele innenpolitische Konflikte, jeder hat andere Erinnerungen an die Solidarnosc, und Hunderttausenden, wenn nicht Millionen haben die Veränderungen nicht nur Vorteile gebracht.“ Deshalb habe man entschieden, den Fokus der Konferenzdiskussionen auf den internationalen Kontext zu legen: das Ende des Ostblocks, die Bedeutung von Papst Johannes Paul II. und „Radio Free Europe“, Helsinki-Schlussakte und „humanitäre Interventionen“.

Viel Applaus bekam bei der Konferenz US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, je nach Sichtweise Fossil des Kalten Kriegs oder Vorkämpfer der Menschenrechte. Der 77jährige federte in geradezu provozierender Frische zum Rednerpult und erklärte, der von Solidarnosc eingeleitete Prozess sei „immer noch lebendig und sein Erfolg unvermeidbar“, auch „die beiden europäischen Regierungen, die bei den Feiern nicht anwesend sind“ [Russland und Weißrussland], seien „nicht immun gegen Freiheit und Demokratie und können sie auf Dauer nicht aufhalten“. Delegationen aus Weißrussland, Aserbaidschan, Kasachstan und Kirgisien warben anschließend um Unterstützung und baten um die Entsendung von Wahlbeobachtern. Wer sich an der Reisefreiheit für polnische Klempner störe, müsse sich noch auf einiges gefasst machen, witzelte ein Moderator: „Die Perspektive sind 500 Millionen chinesische Solidarnosc-Sympathisanten.“ Solidarisch mit dem Osten gab sich auch das Jubiläumskonzert danach auf dem Warschauer Theaterplatz. Die etwas bizarre Kombination aus Filmprojektionen, Klassik, Schlagerschnulzen und Hardrock wurde angereichert durch Hip-hop aus der Ukraine und Rap aus Weißrussland. Zum Schluss sang die Menschenmenge die Solidarnosc-Hymne „Mury“ und schwenkte dazu eine große weißrussische Flagge.

„Wir haben uns immer für Freundschaft mit den Nachbarn eingesetzt“, sagt Helena Luczywo, „wir waren auch immer für Marktwirtschaft, für die EU, für die NATO.“ Die Journalistin hatte vom Danziger Streik berichtet, war dann Chefin der Solidarnosc-Presseagentur und redigierte zu Zeiten des Kriegsrechts die größte Untergrundzeitschrift; 1989 gründete sie die „Gazeta Wyborcza“ und den börsennotierten Pressekonzern „Agora“. Im Süden von Warschau, wo Supermärkte und abgezäunte Villenviertel wie Pilze aus dem Boden sprießen, blitzt und strahlt das neue Medienhaus. Luczywo wuselt zufrieden durch die hellen Räume und findet: „Beinahe alles, was wir wollten, hat geklappt. Wir sind unabhängig von Moskau, und das erst noch ohne blutige Revolution. Wir haben Reise- und Pressefreiheit. Polen ist heute ein anderes Land!“ Grund genug für Sonderseiten: „Der August 1980 war der schönste Augenblick unseres Lebens. Der Anfang vom Ende des Kommunismus.“ Die hohe Arbeitslosigkeit und die immer noch verbreitete Armut machten sie nun allerdings ratlos, immerhin sei aber ihre Zeitung „die einzige, die sich noch für die heutige Solidarnosc interessiert“.

Dass „viele Oppositionelle von 1980 heute als Unternehmer auf der anderen Seite der Barrikade stehen“, hält Krzysztof Dosla für „eine ganz natürliche Entwicklung“. Er selbst ist allerdings immer noch bei der Solidarnosc, nämlich mittlerweile ihr Vorsitzender in der Region Danzig. Vom Fenster des Gewerkschaftshauses sieht er auf den Park, der das alte Werftgelände überwuchert. Gewerkschaften haben es im heutigen Polen schwer, erzählt er, obwohl es mittlerweile allein bei der Eisenbahn elf verschiedene gibt. „Solidarnosc ist mit 800.000 Mitgliedern immer noch die größte Organisation in Polen. Viele Bürger erwarten, dass wir alle Aufgaben des Staates übernehmen: soziale Sicherung, gerechte Privatisierung… Damit wären wir aber völlig überfordert. In den letzten Jahren haben wir deshalb, die Last des politischen Engagements abgeworfen und beteiligen uns nicht mehr an Wahlkampagnen. Wir sollten bei unserer ursprünglichen Aufgabe als Gewerkschaft bleiben.“ Der Überrest der einstigen Massenbewegung ist nun allerdings vor allem in staatlichen Einrichtungen vertreten, bei den rabiat vordringenden westlichen Konzernen haben Betriebsräte kaum Chancen, bedauert Dosla: „Ein Teil der Solidarnosc-Aktivisten ist wieder im Untergrund aktiv. Konflikte sind vor allem mit ausländischen Investoren und der EU vorprogrammiert: Der ökonomische Teil der 21 Forderungen ist bis heute nicht erfüllt.“

Martin Ebner


 


Foto: Shop window in Bialystok, Poland; Montra fenestro en Bialystok, Polujo; Polnisches Stillleben in Bialystok, Polen

⇑ up ⇑ supren ⇑ nach oben ⇑

Texts of timeless beauty. Or at least some historical interest.