Art Nouveau house in Riga

Lettland: Riga, die europäische Jugendstilmetropole

About: Art nouveau in Riga, the capital of Latvia
Pri: Riga, la ĉefurbo de Latvujo, regajnas malnovan brilon
Published, Aperis: d’Lëtzebuerger Land, 10.09.2004


Bandwurmlinien, Azteken-Eulen und Meerjungfrauen, die Bier trinken

Riga, die europäische Jugendstilmetropole, erstrahlt wieder in altem Glanz

Wenn auch sonst nicht viel, haben die Städte von Salamanca bis Odessa, von Helsinki bis Istanbul doch wenigstens eines gemeinsam: alte Villen mit stilisierten Pflanzenornamenten und eleganten Linien. In allen europäischen Metropolen feierte vor hundert Jahren das liberale Bürgertum den Höhepunkt seiner Macht mit großartiger Architektur. Riga aber, die während der sowjetischen Besatzung vom Rest der Welt fast vergessene Hauptstadt Lettlands, schlägt sie alle: Nirgends sonst sind noch so viele Jugendstilbauten erhalten. Ganze Stadtviertel, insgesamt über ein Drittel aller Häuser, stammen aus der Epoche der ersten Globalisierung.

„Rigas Jugendstilarchitektur ist wunderbar lustig, voller phantastischer Häuser wie aus Grimms Märchen, wie halbgeschmolzene Schokoladekuchen“, schwärmt der Publizist Anatol Lieven: Die Fassaden zeigen „überraschend üppige weibliche Formen, mit Meerjungfrauen, die hier nicht so ausgemergelt sind wie sonst, sondern sehr robust – es sind biertrinkende Meerjungfrauen, die mit den Walfischen verwandt sind. Das verrückteste Beispiel ist die Elizabetes Str. Nr.8: Auf Dachhöhe ist das Haus noch neoklassisch, geht dann durch alle Stile durch – bei Erreichen der Straße endet es mit zwei aztekischen Eulen.“

Art Nouveau owl in Riga
Art Nouveau owl in Riga

Zu verdanken hat Riga seine architektonischen Schätze einem beispiellosen Wirtschaftsboom um 1900. Innerhalb weniger Jahre stieg damals die vorwiegend von Deutschen, Letten und Russen bewohnte Stadt zum wichtigsten Hafen und fünften Industriestandort des russischen Reiches auf. Über 300 neue Fabriken produzierten Schuhe, Fahrräder, Spielzeug und Eisenbahnwaggons für halb Europa und das ganze Zarenimperium. Riga explodierte geradezu, sprengte die Mauern der mittelalterlichen Hansesiedlung am Düna-Fluss und vergrößerte sein Stadtgebiet von einem halben auf über 300 Quadratkilometer. Wohnhäuser für die bald über 500.000 Einwohner, Banken, Büros und Geschäftshäuser schossen wie Pilze aus dem Boden.

Plaque for Michail Eizenstein in Riga, Latvia
Plaque for Michail Eizenstein in Riga, Latvia

Am spektakulärsten gerieten die Häuser nördlich der Altstadt. In der Alberta Straße und Elizabetes Straße tobte sich der Architekt Michail Eisenstein, der Vater des berühmten Filmregisseurs Sergej Eisenstein, aus: Seine Bauten verschwinden geradezu hinter einem Vorhang von Masken, Ornamentfriesen, Girlanden, Schlangenköpfen und Medusenhäuptern. Selbst auf den Gehsteigen davor dösen steinerne Löwen im Schatten, bewacht eine Sphinx wild gekurvte Eingänge. Die Treppenhäuser sind fast noch schöner als die Fassaden. Öffentlich zugänglich ist die Wohnung des 1916 verstorbenen Malers Janis Rozentals: „Unsere Fenster werden uns andauernd geklaut“, klagt eine Museumswärterin. „Sie sind einfach zu schön.“

Alberta Iela in Riga

Alberta Iela in Riga

Eisensteins „eklektischer Jugendstil“ hat „seine überreiche Fassadendekoration so übertrieben, daß eine Steigerung nicht mehr möglich war“, sagt der Architekturexperte Janis Krastins, der fast sein ganzes Leben dem Rigaer Jugendstil widmet. „Die zweite Generation der Art-Nouveau-Architekten suchte deshalb einen neuen Ansatz.“ Sie gestaltete betont einfach, verwendete natürliche Materialien wie Stein, Holz und Keramik. Ihr „nationaler Romantizismus“, der von 1905 bis zum Ersten Weltkrieg blühte, orientierte sich an der traditionellen Volkskunst und wollte eine spezifisch lettische Architektur schaffen.

Bis heute „verleiht der Jugendstil dem Aussehen der Stadt eine einzigartige urbane Originalität, die sie von allen anderen Städten unterscheidet“, findet Krastins stolz. „Nur in Riga gibt es so eine Jugendstilkonzentration und Formenvielfalt.“ Viele Zeitgenossen der Jahrhundertwende waren damit allerdings überhaupt nicht zufrieden gewesen. Sie polemisierten gegen den „modernen Bandwurmstil“, spotteten über die „gereizten Regenwürmer“ an den Fassaden und meinten gar, der „volksfremde“ Jugendstil fördere Atheismus und Anarchie.

Art Nouveau doorway in Riga
Art Nouveau doorway in Riga

Die damaligen Kritiker konnten nicht ahnen, was auf ihre Stadt noch alles zukommen sollte. Während um 1900 selbst bei Mietskasernen wenigstens die Fassade mit ein paar Goldschnörkeln verziert wurde, sind die Betonplattenkisten, die seit der Sowjetzeit am Stadtrand wuchern, nur eines: häßlich. Kein Wunder, daß sich Apparatschiks und Offiziere am liebsten in alten Jugendstilvillen einquartierten, deren dekadente Formenpracht noch nach Jahrzehnten der Verwahrlosung gegen die graue Langweile des Kommunismus protestierte.

Besonders gerne wohnten die Besatzer in Mezaparks, weit außerhalb des Stadtzentrums. Dort hatte ab 1901 der Berliner Städtebauer Hermann Jansen für reiche baltendeutsche Geschäftsleute eine der ersten europäischen Gartenstädte errichtet: die Villenkolonie „Kaiserwald am Stintsee“. Dicht bewaldet ist dieses Viertel heute noch. Die umrankten Fachwerkhäuschen sind jetzt bei Politikern und anderen Neureichen heiß begehrt.

Art Nouveau sphinx in Riga
Art Nouveau sphinx in Riga

Die ersten Besitzer dieser Villen hatten Riga spätestens nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 verlassen müssen. Von ihrem Eigentum hat fast nichts die beiden Weltkriege, die Plünderungen und Deportationen überlebt. Immerhin kann aber das Rigaer Stadtmuseum eine kleine Ausstellung mit Möbeln und anderem Interieur zeigen.

„Beliebt waren diese Häuser immer schon“, sagt Janis Lejnieks vom Lettischen Architektenverband, „aber zu Sowjetzeiten hatten wir eben kein Geld. Alles verfiel einfach.“ Heute aber wird die alte Pracht wieder herausgeputzt – nicht nur, weil die Jugendstilviertel mittlerweile auf der Liste des Weltkulturerbes stehen: „Ausländische Firmen und einheimische Ministerien wollen möglichst repräsentative Residenzen. Und richtig standesgemäß ist da nur Jugendstil.“

Martin Ebner

Art Nouveau facade in Riga
Art Nouveau facade in Riga, Latvia

Jugendstil in Riga (last update: 29.04.2014):
Der Lettische Architektenverband unterhält ein eigenes Museum und gibt den Stadtplan „Art Nouveau in Riga“ heraus. Eine Fotoausstellung ist hier zu finden: http://vip.latnet.lv/ArtNouveau/en/default.htm

Riga gehört auch zum „Art Nouveau Network“, das dreizehn europäische Jugendstil-Städte gegründet haben. Die Internetseite www.artnouveau-net.eu/ bietet unter anderem Informationen zu Ausstellungen.

Riga Jugendstil Riga Jugendstil 5
Riga Jugendstil 4 Riga Jugendstil9

 


Foto: Art nouveau house in Riga, Latvia. Domo en secesi-stilo en Riga, Latvujo. Jugendstil-Haus in Riga, Lettland

 ⇑ up ⇑ supren ⇑ nach oben ⇑

Texts of timeless beauty. Or at least some historical interest.