About: Personal memories of Cherepovets, the Russian hometown of Arcelor’s would-be partner Severstal
Pri: Miaj memoroj pri la rusa urbo Tscherepowez. Kialo: rusa firmao Severstal kai okcidenta firmao Arcelor volis kuniĝi.
Published, Aperis: d’Lëtzebuerger Land, 16.06.2006
Spazieren im Stahlwerk
Russland, das unbekannte Parallel-Universum: Plötzlich taucht da so ein -schow auf und kauft halb Europa, und alle müssen im Atlas nachschauen, wo eigentlich dieses -wez ist. Oder -winsk? Ich muss allerdings zugeben, dass ich die Heimat von Sewerstal auch nur aus Zufall kenne. Igor, ein langhaariger Rockmusiker, hatte mich 1992 zu einem ersten Besuch nach Tscherepowez eingeladen.
Von Moskau aus geht es mit dem Zug erst einmal 400 Kilometer nach Norden, vorbei an Jaroslawl, wo die Transsib nach China abzweigt. Nach einer Nacht rollt man in Wologda ein, der Hauptstadt der gleichnamigen Oblast, die größer ist als Benelux und Schweiz zusammen. Diese Provinz ist so russisch wie nur möglich: weiße Birken, weiße Kirchen mit goldenen Zwiebeldächern und blauäugige Blondinen, die auf der Balalaika klimpern. Dass die Sowjetmacht die Holzhäuser nach Kräften durch graue Betonplatten ersetzte und in den endlosen Wäldern Straflager verstreute, ist verständlich – wer hält auf die Dauer so viel Schönheit aus?
Touristen fahren meist noch weiter nach Norden, zu den Kunsthandwerker-Städtchen Totma und Welikij Ustjug oder zum Bjelosee, wo die Kreuzfahrtschiffe auf dem Weg von der Wolga zur Ostsee Halt machen. Businessmeni und Bürokraten aber biegen in Wologda nach Westen ab und erreichen in ein paar Stunden die Metallurgen-Metropole am Ufer eines riesigen Wolga-Stausees. Dass die Oblast-Regierung regieren will, andererseits aber die Sewerstal-Manager das Sagen haben, bringt viel Pendelverkehr zwischen den beiden 300.000-Einwohner-Städten Wologda und Tscherepowez mit sich.
Als ich endlich bei den rauchenden Schornsteinen ankam, war Igor schon nicht mehr Rocker, sondern Baptisten-Prediger. Erstaunlich erfolgreich missionierte er die Stahlarbeiter. Statt wilder weißer Nächte erwarteten mich Vegetariertum, Taufen und Gottesdienste. Entschädigt wurde ich dadurch, dass Igors Eltern im „Tscherepowezer Metallurgischen Kombinat ‚50 Jahre UdSSR'“ schufteten und mich gerne mitnahmen. Mir war’s recht: Ich hatte noch nie ein Stahlwerk gesehen, und ich musste für ein Stipendium irgendwas zum Thema Ökologie schreiben, wofür Hardrock ohnehin nicht getaugt hätte.
Tagelang stiefelte ich um die Hochöfen herum, schwer beeindruckt. Dass man Eisen kochen kann! Wie das spritzt und dampft! Nie wurde ich angehalten oder gefragt, was ich da suche. Dass ein Westler am helllichten Tag im größten Stahlwerk Russlands Fotos macht, war vielleicht so absurd, dass die KGBler mich für eine optische Täuschung hielten und einfach ignorierten. Oder sie waren vor lauter Perestroika demoralisiert. Wahrscheinlich waren alle Obrigkeiten gerade so mit Privatisierung und Umbenennung in „Nordstahl“ beschäftigt, dass für meine Verhaftung niemand zuständig war. Ein 27jähriger Finanzchef fing damals gerade an, das Kombinat aufzumischen; er hieß Alexej Mordaschow.
Später wollte ich mir einmal eine viel popeligere Stahlhütte im Ruhrgebiet anschauen. Die Security-Leute dort ließen mich nicht einmal in die Nähe, sondern faselten etwas von „gefährlich“ und „nur mit Schutzhelm, Schutzkleidung, gegebenenfalls Gasmaske“. -In Russland waren das keine Prioritäten. Mit zehn, zwölf tödlich Verunglückten müsse man pro Jahr im Kombinat rechnen, erläuterte mir ein Arbeiter. Auf den Fotos ist vielleicht noch der Schutzengel zu sehen, der meinen jugendlichen Leichtsinn bewacht hat. Hemdsärmelig und barhäuptig beim „Nordmädchen“, dem größten Hochofen der Welt!
Die Stadt daneben, die zusammen mit dem Werk nach 1945 von deutschen Kriegsgefangenen und anderen Häftlingen aus dem Boden gestampft worden war, gefiel mir eigentlich ganz gut: viel Grün, ein richtiger Dschungel zwischen den Wohnblöcken. Über unsichtbare Gefahren klärte mich allerdings die Handvoll Umweltaktivisten des „Ökoklubs“ auf. Die Liste von Schadstoffen und Grenzwertüberschreitungen ist mittlerweile sogar international bekannt: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied 2005 im Fall „Nadeschda Fadejewa vs. Russland“, dass Wohnungen direkt neben Sewerstal unzumutbar sind. 4000 gleichartige Klagen sollen in Straßburg noch anhängig sein, alle aus Tscherepowez. Vielleicht wird nun die „sanitäre Sicherheitszone“ um das Stahlwerk tatsächlich evakuiert, wie seit 1965 versprochen.
Vielleicht wird auch die von der Fusion mit Arcelor erhoffte „westliche Technologie und Perfektionierung der Verwaltungssysteme“ die Luft verbessern. Die regionalen Zeitungen und Rundfunkstationen, meist im Besitz von Sewerstal, schwärmen jedenfalls von den „neuen Möglichkeiten“. Überhaupt sind sie voll Lobes für ihren Eigentümer: Die Arbeitslosigkeit in Tscherepowez betrage 0,7 Prozent und Sewerstal zahle anständige Löhne von im Schnitt 12.000 Rubeln (rund 350 Euro). Begeistert zitieren sie Alexej Mordaschow, dass das so bleiben werde: „Wir planen weder Entlassungen, noch irgendwelche Änderungen bei der Bezahlung.“
Martin Ebner
Foto (15.07.1992): Steel works Cherepovets, Russia; ŝtaluzino en Ĉerepovec, Rusujo; Stahlwerk Tscherepowetz