1. Landpartie mit Geigerzähler. Tschernobyl-Touren: Bildungsreisen in den verstrahlten Wald von Belarus (Sonntag Aktuell)
2. Kampf um Tschernobyl-Daten. Strahlenforscher erheben schwere Vorwürfe gegen die US-Regierung (d’Lëtzebuerger Land)
About: Visit to the forbidden zone in Belarus near the nuclear power plant Chernobyl.
Pri: Ekskurso al belurusa barregiono apud Ĉernobilo.
Sponsor, Sponsoro: Bundeszentrale für politische Bildung
Published, Aperis: Sonntag Aktuell (†), 31.08.2003
Landpartie mit Geigerzähler
Tschernobyl-Touren: Bildungsreisen in den verstrahlten Wald von Belarus
Birken, adrette Häuser aus der Zarenzeit, Dnjepr-Dampfer auf dem Weg zum Schwarzen Meer, Sowjetdenkmäler und orthodoxe Kirchen sind auf den Hochglanzbildern zu sehen, auch ein Theater mit griechischen Säulen. Kein Wort verliert die Broschüre der 500.000-Einwohner-Stadt Gomel dagegen über den wahren Grund, der Besucher in die südöstliche Ecke Weißrusslands zieht, kein Foto zeigt die Warnschilder des Sperrgebiets um das Atomkraftwerk Tschernobyl.
Edmund Lengfelder und Christine Frenzel, Strahlenbiologen der Universität München, begleiten seit 1990 zwei, drei Reisegruppen im Jahr von Gomel in das „Polesker Staatliche Strahlenökologische Reservat“, meist Wissenschaftler, Journalisten oder Gasteltern von Tschernobyl-Kindern. Es müsse ein „ernsthaftes Interesse erkennbar“ sein, sagt Lengfelder. Wer bloß einen Kick suche, solle in die Ukraine gehen. Dort karrt eine Agentur des Zivilschutz-ministeriums jährlich an die 3000 „Umweltschutztouristen“ zum Besucherzentrum des Katastrophen-AKW; für Tagesausflügler aus Kiew wurde eine Aussichtsplattform mit Panoramascheibe errichtet.
Im Bus schaltet Lengfelder sein Dosimeter ein: „Wir sind keine Idioten, die sich einer Gefahr aussetzen.“ Dann erläutert er „ein paar Dinge, die zu beachten sind“: Gammastrahlung wirke von außen auf den Körper. Man solle nur schauen, nichts anfassen. Asphaltstraßen seien unproblematisch, da vom Regen abgewaschen; die überall noch herumliegenden Brennstoffteile seien nicht mehr biowirksam, würden also nicht vom Körper aufgenommen. Trotzdem solle man nicht barfuß gehen, Schuhe nicht vor der Nase ausschütteln. Und bitte keine Pflanzenteile in den Mund nehmen.
Nach eineinhalb Stunden der erste Halt: Chojniki ist der Hauptort des am meisten von Tschernobyl betroffenen Landkreises. Im Verwaltungsgebäude gegenüber der Lenin-Statue zeigt Rayonsleiter Nikolai Sadtschenko eine Karte der Strahlenbelastung: Während Gomel im gelben Bereich liegt, verfärbt es sich südlich von Chojniki vom Orangen ins Rote, beim Kraftwerk leuchtet es bösartig violett. Das AKW steht in der Ukraine, den Fallout der Explosion vom 26. April 1986 bekam aber vor allem Weißrussland ab. Die Radionuklide seien vom Regen ungleich verteilt worden, führt Sadtschenko aus. Während noch 400 Kilometer vom Reaktor entfernt Dörfer evakuiert werden mussten, gebe es in unmittelbarer Nähe „mehr oder weniger saubere“ Flecken.
In einem Dorf würden sich 16 Rentner weigern wegzuziehen. Ansonsten ist der Süden seines Rayons 1986 evakuiert worden, berichtet Sadtschenko. Von ursprünglich 52.000 Einwohnern seien 26.000 geblieben. „Die Abwanderung dauert leider bis heute an. 96 Familien aus drei Siedlungen müssen noch ausgesiedelt werden.“ Andererseits nehme man aus Kasachstan vertriebene Russlanddeutsche auf – wo sollen die sonst hin?
Kurzfristig aktive Nuklide seien nun verschwunden, aber mit Cäsium-137 werde man noch zehn, mit Strontium-90 noch 50 Jahre lang Probleme haben, schätzt Sadtschenko. Die Wirkung des Plutoniums und seiner Zerfallsprodukte sei noch unbekannt, manche Gebiete würden wohl Jahrhunderte unbewohnbar bleiben. „Die Strontium-Werte machen keine großen Fortschritte. Unser Getreide ist für Nahrungszwecke nicht geeignet. Dafür ist unsere Milchproduktion wieder sauber, sie entspricht den Normen für Kindernahrung.“ Auf Sadtschenkos Tisch stehen Milch und Käse, aber kein Besucher möchte zugreifen.
„Wir haben hier alle Gesundheitsämter mit Kleinspektrometern ausgestattet“, muntert Lengfelder auf. „Wir haben die Lebensmittel viele Jahre gegengecheckt. Sie bescheissen nicht.“ Privat erzeugte Nahrungsmittel seien jedoch problematisch, ergänzt Frenzel: „Privatleute können kontrollieren lassen, machen das aber immer weniger. Bei Pilzen hab‘ ich schon 80.000 Bequerel pro Kilo gemessen. ‚Das ist Wahnsinn!‘ sage ich den Leuten, ‚geben Sie’s wenigstens nicht ihren Kindern!‘ Aber die fragen nur: ‚Was soll ich ihnen sonst geben?‘ Die Akzeptanz der Kontrollen müsste erhöht werden. Aber die Leute hier sind früher viel angelogen worden. Die glauben nichts mehr.“
Von Chojniki geht es mit einem Kleinbus weiter. Zunächst kreuzen noch Pferdewagen den Weg der Atom-Safari, winken am Straßenrand Babuschkas. Dann sind nur noch verfallene Holzhäuser zu sehen. „Mich berührt’s immer noch“, sagt Christine Frenzel, „dabei war ich schon so oft da“. Beim ersten Zaun geben Polizisten den Besuchern Militärjacken. Sie sollen die Kleidung schützen; jedenfalls helfen sie gegen die Mücken. Nach einer weiteren Viertelstunde Schlaglochstraße wird das eigentliche Sperrgebiet erreicht, die 30-Kilometer-Zone. Der Wachposten will die roten, von der Zonenverwaltung ausgestellten Zutrittskarten sehen. In einem neuen, für Besuchergruppen gebauten Blockhaus werden in Plastikfolie eingewickelte Imbisse ausgeteilt.
„Die Hauptstraßen in der Zone halten wir frei“, sagt Reservatsleiter Pjotr Iwanowitsch: „Wir haben pro Jahr 20 bis 70 Waldbrände, da müssen wir schnell zum Löschen kommen.“ Einmal im Jahr werde den ehemaligen Bewohnern die Einreise erlaubt, um alte Friedhöfe zu besuchen. Ansonsten sei die Zone ganz der Natur überlassen: „Wir haben in dem Urwald viele seltene Tierarten, zum Beispiel schwarze Störche. Wildschweine und Wisente haben sich stark vermehrt. Letztes Jahr mussten wir hundert Wölfe erschiessen, weil die in landwirtschaftliche Gebiete wechseln.“ Wilderer schneiden immer wieder Löcher in den Zaun, weiß Christine Frenzel: „Die Elche sind hochbelastet. Ich würde hier nie Wild essen.“
Fotohalt in einem Dorf: In den verfallenen Häusern liegen Kleider, Spielzeug und Geschirr auf dem Boden. Die Bewohner waren erst tagelang nicht informiert worden, dann wurden sie Hals über Kopf abtransportiert und durften nichts mitnehmen. Um Wertsachen kümmerten sich später Plünderer. Lengfelders Geigerzähler knattert ununterbrochen: „In den Häusern sind die Werte acht bis zehnmal höher als normal.“
Schließlich kommt der Bus zu einem einsamen Haus an der ukrainischen Grenze. Masony ist die dem Unglücksreaktor nächstgelegene Forschungsstation, dazu die einzige, die die Wirkung der Radioaktivität auf die Natur untersucht. Jeweils zwei Wissenschaftler arbeiten hier, nach zwölf Tagen fahren sie zur Erholung für zwölf Tage heim nach Minsk.
Auf einem Hügel neben Masony soll ein Drehrestaurant mit Blick auf das fünf Kilometer entfernte AKW gebaut werden. Ein wackliger Holzturm steht schon da. Für Fotos ist es zu diesig, trotzdem zücken Besucher begeistert ihr Handy: „Ich seh‘ jetzt Tschernobyl! Den Sarkophag und alles!“ Lengfelder nutzt die Gelegenheit zur Agitation: „Der Sarkophag ist völlig für die Katz! Das ist eine reine Geldmaschine. Wenn er zusammenbrechen würde, wäre das eine begrenzte Katastrophe in einem Gebiet, das eh schon evakuiert ist.“
Neben dem AKW ist Pripjat zu sehen, die erstaunlich große Geisterstadt für die ehemaligen Angestellten des Kraftwerks. Wieso brauchten eigentlich 5.000 Arbeiter Plattenbauten für 55.000 Bewohner? Und was sind das für riesige Antennen, die von keinem Tschernobyl-Foto bekannt, nun aber mit bloßem Auge über Pripjat zu erkennen sind? Der Reservatsleiter zuckt die Schultern, seit dem Zerfall der Sowjetunion wisse man noch weniger als früher, was sich da drüben in der Ukraine tue.
Die Erklärung von Lengfelder: Das sei die unvollendete Antwort auf das Star-Wars-Programm der USA, nämlich zwei 150 Meter hohe, 600 Meter lange Antennenwände. Zehn Stück davon hätten in einem Kreis mit 35 km Durchmesser aufgestellt werden sollen, um Hochfrequenzstrahlen in die Ionosphäre zu schicken. Mit Spiegelung dort hätte man dann jeden Punkt der Erde mit extrem intensiven Strahlen erreichen und zum Beispiel die westlichen Kommunikationssysteme lahmlegen können. Das AKW sollte dafür riesige Energiemengen bereitstellen, 16 Reaktorblöcke hätten es werden sollen. „Das hätte funktioniert“, ist Lengfelder sicher: „Im Kleinen wird es in Medizin angewandt. Im Westen hat man es bloß nie in diesen Dimensionen probiert.“ -Tschernobyl lieferte also nicht nur Plutonium für Bomben, sondern war selbst Teil einer gigantischen Waffe. Wieder etwas dazugelernt.
Auf der Rückfahrt erzählt Christine Frenzel von der Tschernobyl-Forschung: Es sei eine „Riesensauerei“, dass sich die reichen Länder die Daten sichern, die Weißrussen aber ohne medizinische Betreung „im Regen stehen lassen“. Nur das Münchner Otto Hug Strahleninstitut veröffentliche seine Ergebnisse und behandle vor Ort die Krebspatienten, deren Zahl stark zunehme. Das mit Spenden in Gomel eingerichtete Schilddrüsenzentrum solle nun aber einem Projekt unterstellt werden, bei dem sich die USA in einem Vertrag mit der weißrussischen Regierung die Datenhoheit gesichert habe: „In den 50er Jahren haben die Amerikaner absichtlich eine Wolke mit radioaktivem Iod freigesetzt. Um teure Schadensersatzklagen abzuwehren, will die US-Regierung nun mit einem auf 30 Jahre angelegten Projekt nachweisen, dass Tschernobyl keinen Schilddrüsenkrebs verursacht habe. So können sie 30 Jahre auf laufende Forschungen verweisen – und danach sind sie nicht verpflichtet, die Daten zu veröffentlichen.“ Leider bekomme man von der deutschen Regierung keine Unterstützung: „Auch bei uns gibt es Null Interesse an den Resultaten, denn man kann sich ausrechnen, dass ein Atomunfall im dichter besiedelten Westeuropa noch schlimmer wäre.“
Vor der Ankunft in Gomel liest Lengfelder die Werte seines Dosimeters: „Wir haben heute maximal 6,4 Millisievert pro Stunde gemessen. Zum Vergleich: In München wären 0,15 Millisievert zu erwarten.“ Ein dreistündiger Aufenthalt in der Tschernobylzone entspreche der Belastung von 35 Stunden Urlaub im Bayrischen Wald, wo die natürliche Strahlung recht hoch ist. „Zehn bis fünfzehnmal ins Sperrgebiet fahren, das ist ungefähr so wie einmal die Lunge röntgen.“
Martin Ebner
About: Conflicts about the data of Chernobyl victims in Belarus
Pri: Konfliktoj en Belorusujo pri malsandatenoj de viktimoj de la atomkatastrofo en Ĉernobilo
Sponsor, Sponsoro: Bundeszentrale für politische Bildung
Published, Aperis: d’Lëtzebuerger Land, 14.08.2003
Kampf um Tschernobyl-Daten
Strahlenforscher erheben schwere Vorwürfe gegen die US-Regierung
US-Ministerien und Regierungsagenturen missbrauchen die weißrussischen Opfer der Atomkatastrophe von Tschernobyl als Versuchskaninchen; sie versuchen, alle Krankendaten unter ihre Kontrolle zu bringen und eine Auswertung durch unabhängige Forscher zu verhindern: diese Anschuldigungen erheben Edmund Lengfelder, Strahlenbiologe an der Universität München, und seine Mitarbeiterin Christine Frenzel. Sie kritisieren vor allem das „BelAm-Projekt“ zur Erforschung von Schilddrüsenkrebs und die internationale „Tschernobyl Gewebe- und Datenbank“. Nach ihren Angaben sollen in den nächsten Monaten zwei Kliniken, die in Weißrussland mit Spenden aus Deutschland und Luxemburg betrieben werden, unter US-Aufsicht gestellt werden.
In Weißrussland, dem vor 17 Jahren am schwersten von Tschernobyl betroffenen Land, forschen Lengfelder und Frenzel nicht nur seit 1991, das von ihnen gegründete „Otto Hug Strahleninstitut“ kümmert sich auch um die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Bisher hat es mehr als 13 Millionen Euro für Medikamente, Messgeräte und medizinische Ausrüstungen ausgegeben. In Gomel, der Hauptstadt des an Tschernobyl grenzenden Gebiets, hat das Institut zwei Fachkliniken mit aufgebaut: das Schilddrüsenzentrum der Endokrinologischen Polyklinik und das Onkologische Krankenhaus. Bisher wurden über 90.000 Patienten behandelt und eine Gewebebank eingerichtet.
Die Daten der Kliniken gehören dem weißrussischen Gesundheitsministerium und dem Otto-Hug-Strahleninstitut – und werden veröffentlicht. Freimütig erläutert Marina Tulupowa, die Chefärztin der Polyklinik, die Statistiken: Die Zunahme von Diabetes bei Kindern, die häufigeren Immunschwächen, vor allem aber die seit 1986 zehn mal öfter auftretenden Schilddrüsenkrankheiten seien „eindeutig“ auf radioaktives Iod von Tschernobyl zurückzuführen. Tatjana Prigozhaja, die Leiterin der Krebsklinik, berichtet, die Zahl der Krebskranken habe sich im Oblast Gomel seit der Atomkatastrophe verdoppelt. Besonders die Zunahme von Brustkrebs bei jungen Frauen sei „sehr untypisch“; die Krebsformen seien „viel aggressiver“ als vor 1986 und metastasierten schneller in Knochen und Lunge. – Mit so viel Transparenz ist demnächst wohl Schluss. Beide Kliniken sollen im Laufe dieses Jahres einem neuen Forschungszentrum unterstellt werden.
Am 25. April hat der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko in Gomel die erste Baustufe des „Republikanischen Wissenschaftlich-praktischen Zentrums für Strahlenmedizin und Ökologie des Menschen“ eingeweiht. An diesem Zentrum soll die gesamte weißrussische Tschernobyl-Forschung konzentriert werden. Zum Beispiel erhielten das Institut für Nuklearmedizin
und das Institut für Strahlenbiologie der Weißrussischen Akademie der Wissenschaften Order, von Minsk nach Gomel umzuziehen. Abgesehen davon, dass in Gomel für die Wissenschaftler noch keine Wohnungen zur Verfügung stehen und die Forschungen unterbrochen werden, hat die Reorganisation einen Haken: Das „wissenschaftlich-praktische Zentrum“ ist mit dem BelAm-Projekt verbunden, bei dem sich die US-Regierung die ausschließliche Datenhoheit gesichert hat.
US-Stellen sind in Sachen Tschernobyl schon lange aktiv. Gleich nach der Katastrophe hatten Sowjetunion und USA gemeinsame Projekte zur Erforschung der Folgen vereinbart; auf US-Seite bekam dabei das Energieministerium die Zuständigkeit für die Bereiche Gesundheit und Umwelt. Professor Fred Mettler (Uni New Mexico) zum Beispiel leitete ab Herbst 1989 die Expertenkommission der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) für medizinische Tschernobyl-Folgen. Der erste IAEA-Bericht konstatierte 1991 „keine Gesundheitsstörungen, die direkt einer Strahlenbelastung zugeordnet werden konnten“ – weißrussische Hinweise auf eine rasante Zunahme von Schilddrüsenkrebs wurden ignoriert.
Der Vertrag für das BelAm-Projekt wurde 1994 vom weißrussischen Gesundheitsministerium unterzeichnet. Er sieht vor, dass im Rahmen einer auf 30 Jahre angelegten Studie 12.000 Weißrussen, die zum Zeitpunkt der Atomkatastrophe jünger als 19 Jahre waren, regelmäßig untersucht werden. Damit solle herausgefunden werden, ob radioaktives Iod-131 Schilddrüsenkrebs verursache. Die Kosten von veranschlagten 10 Millionen Dollar trägt das US-Energieministerium; die wissenschaftliche Federführung hat das US-National Cancer Institute. Nach organisatorischen Schwierigkeiten liefen 1997 die ersten Untersuchungen an. Das US-Energieministerium sieht in ihnen eine „einzigartige Gelegenheit“ zur Risikoabschätzung, die gewonnenen Informationen würden „eine bedeutende Wissenslücke zu den Wirkungen radioaktiver Strahlung füllen und Anhaltspunkte geben für Gesundheitspolitik und Strahlenschutz in der Nähe von Kernreaktoren“.
Den Hintergrund für das besondere US-Interesse an Tschernobyl deckten 1996 Journalisten der englischen BBC auf: Eine Reihe von US-Bürgern hat gegen die US-Regierung Schadensersatzklagen eingereicht, da sie Schilddrüsenerkrankungen auf oberirdische Atomwaffentests der 1950er Jahre, auf die vorsätzliche Freisetzung einer radioaktiven Wolke durch Forscher des US-Energieministeriums im Jahr 1957 („Operation Plumbbob“), sowie auf die vom US-Energieministerium betriebene Plutoniumfabrik in Hanford zurückführen. Daher habe die US-Regierung kein Interesse an Beweisen für den Zusammenhang von Iod-131 und Krebserkrankungen – es gehe um Milliarden Dollar.
Unverfänglicher formulierte das Richard Klausner, der Direktor des National Cancer Institute, 1997 und 1998 in Senatsanhörungen: In den von Atomwaffentests in Nevada betroffenen Gebieten sei die Zahl der Schilddrüsenerkrankungen gestiegen. Jedoch sei die „Korrelation zwischen Iod-131 und Schilddrüsenkrebs“ zwar „suggestiv“, aber „nicht statistisch signifikant“ und könne daher auch „zufällig“ sein. Zu Erkrankungen, die in den USA durch Atomwaffenprogramme verursacht wurden, gebe es bisher nur Schätzungen – erst die Tschernobyl-Forschung biete nun die „einzigartige Gelegenheit“ den Zusammenhang von Iod-131 und Schilddrüsenkrebs exakt zu
bestimmen.
Christine Frenzel interpretiert das BelAm-Projekt so: Die US-Regierung könne nun 30 Jahre auf fehlende Beweise und laufende Forschungen verweisen – „wer kann sich so lang mit der Regierung anlegen?“ Und selbst wenn bei Projekt-Ende noch Kläger am Leben sein sollten: „Die US-Regierung hat die Datenhoheit. Sie ist nicht zur Veröffentlichung verpflichtet.“ Besonders empört sie, dass das BelAm-Projekt zwar die Krebserkrankungen erfasse, die Behandlung aber dem überlasteten weißrussischen Gesundheitswesen überlasse: „Es ist eine Riesensauerei, wie sich die USA die Daten sichern, die Menschen hier aber ohne Therapie im Regen stehen gelassen werden.“
Weißrussische Behörden beantworten Fragen dazu ausweichend. So sagt Wiktor Motorenko, bei der Oblastverwaltung Gomel stellvertretender Leiter des Gesundheitswesens, die Ziele des BelAm-Projekts seien „noch nicht festgelegt“. Weißrussland begrüße „alle Untersuchungen durch ausländische Wissenschaftler“. Leider habe das Interesse an den gravierenden Tschernobyl-Folgen stark abgenommen: „Es gibt weniger internationale Kontakte als in den ersten Jahren; unsere Probleme geraten in Vergessenheit.“
Neben dem BelAm-Projekt soll laut Frenzel und Lengfelder ein zweiter „Kontrollmechanismus“ unerwünschte Forschungen verhindern: die „Tschernobyl Gewebebank“. Dieses Projekt wird seit 1998 gemeinsam von den USA (National Cancer Institute), der Europäischen Atomgemeinschaft (EU-Kommission), Japan („Sasakawa Memorial Health Foundation“) und der Weltgesundheitsorganisation WHO betrieben. Es besteht aus Gewebe- und Blutbanken, die Proben von allen Schilddrüsenkrebspatienten sammeln, die aus den vom Tschernobyl-Fallout belasteten Gebieten kommen und zum Zeitpunkt der Katastrophe jünger als 19 waren. Zuständig ist für die „Tschernobyl-Kinder“ in Weißrussland das Institut für Strahlenmedizin in Minsk (demnächst wohl in Gomel), in der Ukraine das Institut für Endokrinologie in Kiew und in Russland das Strahlenmedizinische Forschungszentrum Obninsk. Koordiniert wird das Projekt von der Universität Wales in Swansea, wo die zentrale Datenbank für alle drei Länder untergebracht ist.
Nach Ansicht von Lengfelder benötigen alle, „die Forschungen zur Thematik ‚Schilddrüsenkrebs nach Tschernobyl‘ durchführen wollen, als Voraussetzung hierfür den Zugang zur Gewebebank, Blutbank oder Datenbank“. In den Gremien, die über den Zugang entscheiden, hätten aber die Vertreter der Staaten mit Atomindustrie „die absolute Mehrheit“. Die WHO sei durch einen 1959 mit der Internationalen Atomenergieagentur abgeschlossenen Vertrag in Atomfragen zu Vertraulichkeit verpflichtet – und falle daher als Anwalt einer unabhängigen Forschung aus.
Als die weißrussische Regierung die entsprechenden Verträge unterzeichnete, habe sie „nicht gewusst, welche Leichen die US-Regierung im Keller liegen hat“, ist Lengfelder sicher. Da Belarus keine eigenen Atomkraftwerke betreibt, habe man in dem Land – im Gegensatz zu Russland und der Ukraine – bisher „relativ frei“ forschen können. Nun aber würden „viele weißrussische Verwaltungsleute in die USA eingeladen“, sie bekämen „Dollarhonorare in der mehrfachen Höhe ihrer Monatsgehälter“ – daher schwinde ihr Verlangen nach soliden Daten. „Wir sind in einer schwachen Position, weil auch die deutsche Regierung die Interessen der Amerikaner vertritt, nämlich dass nichts rauskommt“, bedauert Lengfelder. Trotzdem gibt er sich kämpferisch: „Unsere Labors sind nicht dazu da, zu beweisen, dass radioaktives Iod nicht Schilddrüsenkrebs auslöst. Wir sind nicht bereit, die Tschernobyl-Folgen wegzulügen.“
Martin Ebner
Links (last update: 06.02.2019):
- Otto Hug Strahleninstitut: www.ohsi.de
- Informationsdienst Strahlentelex: www.strahlentelex.de/Tschernobyl-Folgen.htm
- Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges: www.ippnw.de
Siehe auch den Artikel: Atompriester und Strahlenkatzen
Foto(15.05.2003): Entry to prohibited area near Chernobyl, Belorussia. Barregiono apud Ĉernobilo, Belorusujo. Sperrgebiet bei Tschernobyl, Weißrussland.