About: Exhibition in Geneva, Switzerland, about cultural diversity and racism, on the occasion of UNESCO’s 60th birthday.
Pri: Ekspozicio en Ĝenevo, Svislando, pri kultura diverseco kaj rasismo.
Published, Aperis: d’Lëtzebuerger Land, 15.12.2006
Die Anderen – sind sie Wilde, Vorbilder oder einfach nur Leute wie wir?
Slowenisch, Somali, Soussou, Schweizerdeutsch und Swahili: ein unverständliches Stimmengewirr nervt die Besucher am Eingang des Genfer Völkerkundemuseums. Dahinter lauern in den Vitrinen weitere Zumutungen, etwa schwarze Schleier für Frauen, Kochrezepte für Hunde-Braten, Schrumpfköpfe, aber auch Beschwerden von indonesischen Gastarbeitern, die im europäischen Gebrauch von Toilettenpapier eine ekelhafte Unsitte sehen. Kein Wunder, dass den Menschen – wie der Ethnologe Claude Lévi-Strauss feststellte – „die Verschiedenheit der Kulturen nur selten als das erschien, was sie tatsächlich ist, als natürliches Phänomen. Sie haben in ihr eher eine Art Ungeheuerlichkeit oder Skandal gesehen.“
Zum 60. Geburtstag der UNESCO erörtert in Genf die Ausstellung „Nous autres“ das Thema kulturelle Vielfalt und Rassismus. Ihre zehn Abteilungen mit Objekten aus der reichen ethnographischen Sammlung der Stadt, alten Dokumenten und zeitgenössischen Kunstwerken sind jeweils inszeniert zu einem Zitat aus Lévi-Strauss‘ Buch „Race et histoire“, das 1952 von der UNESCO herausgegeben wurde. So ist unter der Überschrift „Die Menschheit endet an den Grenzen des Stammes, der Sprachgruppe, manchmal sogar des Dorfes…“ zu erfahren, dass Ethnozentrismus „eine universelle Attitude“ ist. Rund um die Erde weichen zum Beispiel Fremdbezeichnungen für Völker oft von den Eigennamen ab: Die Dine („Leute“) heißen bei ihren Nachbarn Apachen („Feinde“), die Inuit („Menschen“) gelten anderswo als Eskimos („Rohfleisch-Esser“) und die Deutschen („Volk“) sind für die Osteuropäer Nemtsi („Leute, mit denen man nicht reden kann“). Nur wir selbst wissen, wie man sich richtig anzieht, isst, betet und überhaupt zivilisiert benimmt!
Abgesehen von Lévi-Strauss-Texten gliedern Vorurteile und Stereotype die Ausstellung. Bei „Der Andere – ein Monster?“ geht es zum Beispiel um Ungeheuer des Mittelalters, Menschenfresser und Aliens. „Der Andere – ein Ungläubiger?“ behandelt die Eroberung Amerikas und die europäischen Diskussionen, ob die neu „entdeckten“ Indianer als freie Mitbürger zu behandeln oder doch lieber zu versklaven seien. Der Abschnitt „Der Andere – ein Tier?“ verfolgt die Geschichte der Anthropologie und anderer Menschenschädel-Vermesser seit Edward Tyson: Dieser Gelehrte sezierte um 1700 einen Schimpansen, den er für einen Pygmäen hielt – und schloss daraus höchst wissenschaftlich, dass Pygmäen keine Menschen seien.
Von der Klassifizierung und Erforschung der Anderen war es oft nur ein kleiner Schritt bis zu Stigmatisierung und Schlimmerem. Der „Rasseforscher“ Georges Montandon etwa arbeitete während des Zweiten Weltkriegs im französischen „Kommissariat für jüdische Fragen“ und half den Nazis mit seiner Broschüre „Wie erkennt man den Juden?“. Nach Studien im Genfer Völkerkundemuseum hatte Montandon eine „Genealogie der Musikinstrumente“ von den Klangwerkzeugen der Urvölker bis zu den Geigen der weißen Europäer entwickelt. Die Ausstellung führt seine Theorie dadurch ad absurdum, dass sie den Fortschritt bei einer modernen E-Guitarre enden lässt.
Die heutigen Ethnologen, die in den letzten Abschnitten ihre Forschungen vorstellen, betonen dagegen ihre „besondere Offenheit“ und sehen im Kulturrelativismus eine „unentbehrliche Etappe auf dem Weg zur Anerkennung des Anderen und seiner Differenz“. Ethnozentrismus und Diskriminierung seien kein unvermeidbares Schicksal: „Unser Blick auf den Rest der Menschheit ändert sich mit der Zeit, er hängt von unserem Wissen und den Kontakten zu anderen Völkern ab.“
Zum Schluss werden die Besucher ermahnt, dass „der Andere nicht mehr in einem fernen Land wohnt; er ist heute unter uns, unser Nachbar, Kollege, Mitbruder, Partner“. Beruhigend ist immerhin, dass die höchste Stufe des Verständnisses nach Ansicht der Ausstellungsmacher nicht allgemein verpflichtend ist, sondern nur einzelnen Helden vorbehalten bleibt, etwa dem Regenwald-Aktivisten Bruno Manser oder der Ex-Grazerin Suzanne Wenger, die Yoruba-Priesterin in Nigeria geworden ist: „Devenir autre“ – die Ursprungskultur aufgeben und ganz in einer anderen Gesellschaft aufgehen.
Martin Ebner
„Nous autres“ war eine Ausstellung bis 1. April 2007 im Musée d’ethnographie de Genève. Der Begleitband erläutert nicht nur die Ausstellung, sondern will auch „den Bedarf einer ständigen Dekonstruktion von Stereotypen“ zeigen, zum Beispiel mit Beiträgen zu Themen wie „Krise des französischen Universalismus“, „Polizei und Rassismus“ oder „Wilde Männer im alpinen Karneval“ (ISBN 2-88474-228-X). Kinder erhielten gratis die Broschüre „Mon premier terrain: la tribu des Otrenous“, die ihnen Lust auf den Beruf des Ethnologen machen sollte.
N.B. (20.11.2014): Documenting the diversity of the world’s cultures was the passion of French banker Albert Kahn (1860-1940). His remarkable „Archives de la planète“, a stunning collection of the first color photos, are now in a museum in Boulogne-Billancourt, France: http://www.albert-kahn.fr/
Foto: Graffiti in Odessa, Ukraine: „The big question of life – how is it possible to live among people?“ Murbildo en Odeso, Ukrajnujo: „Demandego de la vivo: Kiel oni povas vivi inter homoj? Ein Graffiti in Odessa, Ukraine, zitiert A. Camus: „Die große Frage des Lebens – wie kann man unter Menschen leben?“