About: Rumors, a fascinating communication phenomenon
Pri: Onidiroj, interesa formo de komuniko
Published, Aperis: Südwestpresse, 26.06.2010
Allgegenwärtig und flüchtig, unberechenbar und nicht zu fassen: Gerüchte sind ein faszinierendes Phänomen
Schon gehört? Bald kommt eine neue Währung, die den Euro ablöst. Nichts Genaues weiß man nicht, aber ein Bekannter vom Freund meiner Schwester arbeitet bei einer Bank, und der sagt… Krisen sind ein idealer Nährboden für wilde Vermutungen und unbestätigte Nachrichten. Ob beim Friseur oder im Sportclub, auf dem Pausenhof oder an der Börse, im Treppenhaus oder im Internet: wie aus dem Nichts tauchen plötzlich Gerüchte auf und verbreiten sich wie Lauffeuer. Wenn glaubwürdige Informationen fehlen, deutet Hörensagen die Welt.
Angeblich haben moralische Autoritäten unbedachtes Geschwafel immer schon verdammt. „Rechtschaffen sollst du über deinen Nächsten urteilen“, fordert die jüdische Tora: „Du sollst in deinem Volk kein Verbreiter von Gerüchten sein“. „Die Zunge ist ein ruheloses Übel voll tödlichen Giftes“, steht in der Bibel. Ähnlich wie der Koran konstatiert auch Konfuzius: „Der Edle verbreitet keine Gerüchte.“ Und so weiter bis zu den Benimm-Ratgebern von heute. Nicht, dass die Ermahnungen jemals geholfen hätten: Der Mensch ist gut – aber die Leute sind ein chattendes Gesindel.
Es wird berichtet, dass in der Antike das von keiner Macht zu bändigende Getratsche als etwas Übermenschliches galt. „Gerede geht nie völlig zugrunde, wenn es erst viele Menschen im Munde geführt haben“, notierte der Dichter Hesiod: „Darum ist es selbst eine Gottheit.“ Die Griechen nannten die Göttin des Gerüchts Pheme. Bei den Römern hieß sie Fama und wohnte in einem Palast aus murmelnden Wänden mit Tausenden Türen und Fenstern. Dargestellt wurde das furchtbare Wesen mit einem Kleid aus unzähligen Augen, Ohren und Mündern – und mit zwei Trompeten: eine für Wahrheiten und eine für Lügen. Unsere Sprache bewahrt diese Zwiespältigkeit: Was famos ist, wird viel gerühmt; infam ist dagegen verschrien.
Das Wort Gerücht soll aus dem Mittelhochdeutschen kommen und nichts mit „Geruch“ zu tun haben. Als Ursprung gilt vielmehr das „geruchte“ aus der Rechtssprache, das heißt, das Zeter- und Mordio-Geschrei von Verbrechenszeugen, aber auch das laute Gejammer, mit dem früher vor Gericht Klage erhoben wurde. Wenn man den Historikern glauben darf, nahm es allmählich die Bedeutung von „Ruf, Leumund“ an und gelangte um 1500 im Sinne von „umlaufendes Gerede, unverbürgte Nachricht“ ins Hochdeutsche.
Ich will ja nichts sagen, aber die Wortklaubereien von Wissenschaftlern sind manchmal schon weit hergeholt. Die Unterscheidung von „sachbezogenen“ Gerüchten und „personenbezogenem“ Klatsch zum Beispiel muss irgendwo in einer Talkshow verloren gegangen sein. Interessant ist aber, dass bekanntlich nur Frauen klatschen. Dieser Ausdruck stammt vom Waschplatz, wo Waschweiber einst gerne über die Herkunft von Schmutzflecken spekulierten. Männer dagegen tauschen objektive Informationen aus, diskutieren, beurteilen oder besprechen wichtige Angelegenheiten. Aus den Londoner Kaffeehäusern des 17. Jahrhunderts, die für Frauen verboten waren, gingen so seriöse Einrichtungen wie Akademien, Nachrichtenagenturen und Versicherungen hervor. Wenn ein Mann doch einmal zu viel plaudert, wird er als „Klatschtante“ beschimpft – ändert also sozusagen sein Geschlecht.
Aus gut unterrichteten Kreisen ist zu erfahren, dass ernsthafte Männer auch die informelle Kommunikation erforschten. Im Zweiten Weltkrieg, als US-Behörden das demoralisierende Gequatsche mit „Gerüchte-Kliniken“ abstellen wollten, fand Gordon W. Allport von der Harvard-Universität das grundlegende Gesetz: Gi = B x M. Soll heißen: Die Intensität eines Gerüchts ist das Produkt von Bedeutung und Mehrdeutigkeit. Ist einer dieser Faktoren Null, etwa weil die Sache niemanden interessiert oder weil man sie sofort überprüfen kann, dann gibt es auch kein Gerücht. Es sei denn, Geschichten werden vorsätzlich ausgestreut: Die DDR-Stasi verbreitete über Regimegegner, diese seien in Wirklichkeit Mitarbeiter der Stasi. Das muss man sich mal vorstellen!
Ich habe gehört, dass Gerüchte im Schnitt nach rund 14 Tagen einschlafen. Manchmal verdichten sie sich aber auch zu bösen Vorurteilen, die jahrhundertelang immer wieder neu aufgewärmt werden. Beispielsweise nützt der naturwissenschaftliche Nachweis, dass bestimmte Bakterien unter unhygienischen Bedingungen kohlenhydrathaltige Lebensmittel rot färben, den Juden überhaupt nichts. Denn der Satz „Die Leute sagen, dass die Juden Hostien schänden“ kann grundsätzlich nicht widerlegt werden – es gibt tatsächlich immer wieder Leute, die dergleichen Mumpitz behaupten.
Zum Glück sind wir skeptisch, kritisch und aufgeklärt! Wir nutzen allenfalls das Internet, um plausible Warnungen vor möglichem Unheil rasch weiterzugeben: In Restaurants von Italienern/Griechen/Türken/Chinesen/Amerikanern findet man im Essen Hundefutter/Rattenfleisch/Würmer/gebrauchte Kondome/abgeschnittene Finger (bitte nach individuellem Ekelempfinden ankreuzen). Wie man hört, beschäftigen nun alle großen Firmen Reputationsmanager, die noch den entlegensten Blog nach Getuschel absuchen. So können sie schnell reagieren und in der Google-Trefferliste Negativaussagen mit einem Schwall eigener Jubelmeldungen überfluten. Das Internet vergisst allerdings kein Gerücht, es überlagert nur altes Gemunkel mit neuem.
Sozialwissenschaftler sagen, dass Gerüchte auch positive Funktionen haben können: Wie das Kraulen bei Primaten dient das Klatschen bei Menschen der Festigung von Gemeinschaften. Die geflüsterte Hoffnung auf Wunderwaffen, Wunderinvestoren oder Wunderstaatsschuldentilgung kann ganze Völker ermutigen. Außerdem lebt eine florierende Industrie davon, Fakten und Mutmaßungen zu vermischen: Spätestens seit in den 1920er Jahren die Ur-Klatschkolumnistin Louella Parsons, die dank Ehemann Kontakte zu Labors für Schwangerschaftstests hatte, über Hollywood-Stars berichtete, sind Gerüchte, pardon, „Gesellschaftsnachrichten“ für das Mediengeschäft unverzichtbar. Aber das muss natürlich unter uns bleiben.¶
Was tun gegen Gerüchte?
Das Strafgesetzbuch hat etwas gegen bösartiges Geschwätz, zum Beispiel Geld- und Freiheitsstrafen für üble Nachrede (§ 186), vorsätzliche Verleumdung (§ 187) oder falsche Verdächtigung (§ 164). Geahndet werden auch das Ausplaudern von Berufsgeheimnissen und Mobbing. Dafür muss man aber Urheber, Verbreiter und schädliche Folgen des Tratsches konkret angeben können und vielleicht noch den einen oder anderen Beweis liefern – Ermittlungen „gegen unbekannt“ führen meist zu nichts. Gegen eine Anzeige spricht auch, dass heftiges Abstreiten ein Gerücht unter Umständen erst recht allgemein bekannt machen kann. Dementis werden oft nicht geglaubt. Bei harmloserem Klatsch sollte man sich lieber darauf verlassen, dass die Leute ohnehin nur ein kurzes Gedächtnis haben – und das Gerede einfach aussitzen. Wenn man’s aushält.
Am besten ist natürlich, Gerüchte gar nicht erst aufkommen zu lassen: Wer immer offen informiert und keinen Anlass zu Misstrauen, Angst oder Spekulationen gibt, kommt kaum in Verruf. Wenn das nichts hilft, empfehlen Kommunikationsberater Ablenkungsmanöver, zum Beispiel halbwegs plausible Gegengerüchte in Umlauf bringen oder die Schwätzer lächerlich machen. Notfalls kann man ein Gerücht auch durch seine totale Verbreitung stoppen: Wenn etwas allgemein bekannt ist, wird es nicht mehr weitererzählt. Das ist allerdings riskant, denn Gerüchte mutieren gern und entwickeln oft ein völlig unkontrollierbares Eigenleben – und etwas bleibt am Klatschobjekt immer hängen. Einen anderen Ansatz empfiehlt der Psychologe Robert Knapp: Da Gerüchte vor allem aus Langweile verbreitet werden, sollte man die Leute ständig auf Trab halten.
Martin Ebner
Bücher:
Hans-Joachim Neubauers Standardwerk „Fama. Eine Geschichte des Gerüchts“ wurde vom Verlag Matthes & Seitz neu aufgelegt. Wissenschaftlicher ist das Buch „Medium Gerücht. Studien zu Theorie und Praxis einer kollektiven Kommunikationsform“, das Manfred Bruhn im Haupt-Verlag herausgegeben hat. Die von Birgit Althans verfasste Kulturgeschichte „Der Klatsch, die Frauen und das Sprechen bei der Arbeit“ ist im Campus-Verlag erschienen.
Foto: Fresco in a medieval church on Reichenau Island, Germany: Devils trying to write down women’s gossip on a cowhide. Fresko en preĝejo sur insulo Reichenau, Germanujo: Diabloj provas noti virinan babiladon. Fresko in einer mittelalterlichen Kirche auf der Insel Reichenau, Deutschland: Überforderte Teufel versuchen, das Geschwätz von zwei Frauen aufzuschreiben.