About: Interview with Russian medievalist Aron Yakovlevich Gurevich
Pri: Intervjuo kun historiisto Aaron Gurjewitsch (Арон Яковлевич Гуревич)
Published, Aperis: Neue Zürcher Zeitung, 13.05.1996
Ein Blick auf die Geschichte
Ein Gespräch mit dem Mediävisten Aaron Gurjewitsch
Aaron Gurjewitsch, Jahrgang 1924, zählt zu den weltweit führenden Mediävisten. Berühmt wurde er schon zu Sowjetzeiten mit seinem Buch „Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen“, das an westlichen Universitäten zur Standardlektüre gehört. Zurzeit leitet Gurjewitsch, der bis 1987 Reiseverbot hatte und heute ein international gefragter Referent ist, das Zentrum für Kulturforschung der russischen Akademie der Wissenschaften. Das Gespräch mit ihm führte Martin Ebner.
F: Die sowjetischen Mediävisten wurden auch früher schon international beachtet. Konnten sie in der Sowjetunion freier forschen als die Neuzeithistoriker?
In der Sowjetunion waren natürlich alle unfrei. Aber die Mediävisten beschäftigen sich nicht so sehr mit politischer Geschichte, wo die Ideologisierung besonders stark war, sondern mit Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Deshalb konnten sie eher wissenschaftliche Schulen gründen. Als ich 1945 zu studieren anfing, konnte man in Moskau nur am Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte eine seriöse wissenschaftliche Ausbildung bekommen – die Gelehrten da hatten noch vorrevolutionäre Erfahrung. Später wurde von der Urgeschichte bis zur Neuzeit alles kontrolliert; jede Art freien Denkens wurde verfolgt. In der Chruschtschew-Zeit bemühten sich dann vor allem jüngere Historiker, sich von der Tradition des Stalinismus loszuschrauben und die Diskussion aufzuscheuchen. Das war eine sehr produktive Zeit. Und die Mediävisten spielten dabei eine wichtige Rolle. Nach 1968, nach der Besetzung der Tschechoslowakei verstärkte sich die Reaktion wieder. Aber das Regime war schon geschwächt; die ideologische Kontrolle nicht mehr so total. Meine persönlichen Erfahrungen mit der Zensur sind deshalb nicht so schrecklich. Ich wurde heftig kritisiert – aber immer erst nach dem Erscheinen meiner Bücher.
Während der Perestroika schliesslich waren die meisten sowjetischen Historiker nicht deswegen unfrei, weil sie vom Staat kontrolliert wurden, sondern weil sich bei ihnen eine Mittelmässigkeit der Gedanken entwickelt hatte – sie waren innerlich nicht frei. Deshalb wurde in den achtziger Jahren zwar aus den Schubladen der Poeten, Schriftsteller und Philosophen eine Menge bis dahin unbekanntes Material gezogen. In den Schreibtischen der Historiker fand sich jedoch nichts. Und seither brachten die russischen Historiker in der Regel auch nichts besonders Originelles oder Neues zustande. Es gibt bei uns keine ernsthafte Erneuerung der Geschichtswissenschaft.
Tiefgreifende Veränderungen
F: Gibt es für die russischen Mediävisten keine „weissen Flecken“, die erst heute erforscht werden?
Es geht eher um eine Änderung der gesamten Arbeitsrichtung. Vor 1917 gab es in der russischen Mittelalterforschung zwei Richtungen: Die Sozial- und Wirtschaftshistoriker befassten sich mit der Geschichte der Bauern, des Grossgrundbesitzes, der Leibeigenschaft. Diese Richtung wurde in der Sowjetzeit erhalten. Die zweite Richtung war die Geschichte der mittelalterlichen Kultur, der Religiosität, der Kirche, des Papsttums. Die Kommunistische Partei machte damit Schluss. Religionsgeschichte wurde von den Bolschewiken nicht geduldet. Hier gibt es in der letzten Zeit tiefgreifende Veränderungen. Immer mehr Mediävisten beschäftigen sich mit Kulturgeschichte.
F: Von westlichen Rezensenten Ihrer Bücher wurde vermutet, dass die schlechten sowjetischen Arbeitsbedingungen auch Vorteile hatten. So seien die sowjetischen Forscher gezwungen gewesen, auch solche Quellen gründlich zu lesen, an denen die westlichen Historiker achtlos vorübergingen.
Das hing von den individuellen Forschern ab. Dass sowjetische Historiker generell gründlicher gearbeitet hätten,wäre eine seltsame Ansicht. Ausserdem waren wir während Jahrzehnten vom westlichen historischen Denken isoliert – ein grosser Nachteil. Sogar führenden Spezialisten waren neuere westliche Forschungen nicht bekannt. Die Vorteile der Sowjetunion würde ich anders qualifizieren. Der Marxismus spielte in unserer Wissenschaft eine ambivalente Rolle. Einerseits begründete seine sowjetische Interpretation ein dogmatisches System, in dessen Rahmen es schwierig war, einen freien Gedanken zu fassen. Aber andererseits brachte er die Historiker zur theoretischen Analyse. Als Kontakte zum Westen möglich wurden und wir uns mit Max Weber, der ‚Annales‘-Schule, der historischen Anthropologie usw. auseinandersetzen konnten – da waren wir schon auf den Geschmack der Theorie gekommen. Sonst sehe ich keine Vorteile.
F: Aber aus der Ferne sieht man doch manchmal besser?
Mediävisten beschäftigen sich mit Westeuropa. Und da Russland in besonderer Weise ausserhalb Europas liegt, konnten russische Mittelalterforscher in einer Reihe von Fragen andere Positionen einnehmen. Vor der Revolution waren da einige russische Historiker auf der Höhe der internationalen Wissenschaft. Pavel Vinogradov zum Beispiel erforschte das englische Mittelalter. Er emigrierte später – und wurde in Oxford zum führenden englischen Historiker. Auch mein Lehrer Kusminski wurde im Westen als Spezialist für Agrargeschichte anerkannt. Aber sonst? Am Ende des 20. Jahrhunderts ist der Beitrag der russischen Mediävisten zur Forschung nicht sehr gross. Von sowjetischen Historikern wurde fast nichts in westliche Sprachen übersetzt. An der Sprachbarriere kann es nicht liegen – interessante Bücher werden trotzdem in der Welt bekannt.
F: Was bleibt von der sowjetischen Forschung?
Nicht viel, fürchte ich. Die Kultur- und Religionsgeschichte wurde von den Machthabern erstickt und erholt sich erst jetzt ein bisschen. Und die alte Sozialgeschichte ist heute praktisch nicht mehr möglich. Dieses Gegenüberstellen von Sozial- und Wirtschaftsgeschichte einerseits und Kultur- und Mentalitätsgeschichte andererseits funktioniert nicht mehr. Man muss auf andere Weise an die Quellen herangehen und in der Sozialgeschichte selbst Aspekte der Kulturgeschichte suchen. Es ist sehr schwierig, neue Methoden zu erarbeiten, mit denen es gelingt, die Sozialgeschichte so zu analysieren, dass ihre kulturelle Grundlage fühlbar wird. Übrigens ist das auch für westliche Historiker schwierig. Die ganze Problematik,der Begriff ‚Sozialgeschichte‘ selbst ändert sich.
Fragen an die Quellen
F: Hilft die Kenntnis des Mittelalters, die Gegenwart zu verstehen?
Ohne Zweifel. Historische Erkenntnis – selbst wenn sie auf eine sehr weit entfernte Vergangenheit gerichtet ist – ist immer eine Form des Bewusstseins der gegenwärtigen Gesellschaft. Das heisst, eine der Formen, mit denen die Gesellschaft Rechenschaft über ihre Vorstellungen ablegt. Wir Historiker stellen an die Quellen Fragen, die für das gegenwärtige Bewusstsein wichtig sind.
In der Sowjetunion zum Beispiel sprachen die marxistischen Reduktionisten immer von ‚Ideologie‘,während in Frankreich die Historiker schon seit Jahrzehnten von ‚Mentalität‘ redeten – Mentalität als eine spezifische, recht verschwommene, sehr umfassende Form geistigen Lebens. Heute beginnt man auch in Russland zu begreifen, dass es neben offiziellen Ideologien, philosophischen und politischen Gedanken auch noch schwer fassbare Stimmungen bei Individuen und Gruppen gibt: Weltbilder, Wertsysteme – Mentalitäten eben.
Um die Mentalität der heutigen russischen Gesellschaft zu verstehen, ist es deshalb notwendig, sich mit den Problemen bei der Erforschung von Mentalitäten auseinanderzusetzen. Ich fing als einer der ersten, wenn nicht als einziger an, mich mit der Mentalitätsgeschichte zu befassen. Zuerst traf ich dabei sogar bei meinen Kollegen auf Ablehnung. So vergingen viele Jahre. Heute stösst man in den Medien auf Journalisten und Politiker, die von ‚Mentalität‘ reden. Ohne diesen Begriff scheint nichts mehr zu gehen.
Die Methodologie der Mentalitätsgeschichte ist sogar für Politiker wichtig. Zu einem grossen Teil haben unsere Politiker während der Perestroika deshalb Fehler gemacht, weil sie die Stimmungen der sozialen Gruppen, des ganzen Volkes nicht richtig einschätzten. Mentalitätsgeschichte hat eine grosse Bedeutung für das Verständnis von dem, was wir heute erleben. Die Erforschung der Vergangenheit hilft, die Gegenwart besser zu verstehen. Umgekehrt eröffnet das moderne Leben eine neue Sicht auf die Geschichte. Die Umwälzungen in Russland sind für den Historiker, der dort lebt, eine Art Labor, in dem er seine Gedanken über Vergangenheit prüfen kann.
F: Unklare Grenzen, Staaten ohne Gewaltmonopol – heute liest man oft von einem ’neuen Mittelalter‘.
Das ist nicht seriös. Dahinter verbirgt sich die traditionelle Vorstellung vom ‚finsteren‘ Mittelalter. Im Mittelalter war alles dunkel, schrecklich, zurückgeblieben – die Ansicht kultivierten die Humanisten, die Aufklärer. Sie entspricht aber nicht der Wirklichkeit. Das Mittelalter war nicht dunkler oder heller als andere Epochen. Es gab da nicht nur Inquisition, Kreuzzüge und Hexenverfolgung – im Mittelalter entwickelten sich auch die Romanik, die Gotik, eine hohe Kultur, philosophische Gedanken, die Sprachen, die wir heute verwenden, die Nationen, in denen wir leben, und vieles andere.
Russlands Weg
F: Beteiligen sich die russischen Mediävisten an der Diskussion um die Frage, ob Russland zu Europa gehört?
Im 19. Jahrhundert gab es dazu die Konkurrenz ‚Westler‘ gegen ‚Slawophile‘. Das waren vorzugsweise kultivierte Leute: ihre Auseinandersetzung fand auf einem wissenschaftlich-publizistischen Niveau statt. Heute erneuert sich dieser Kampf – als Karikatur. Auf der einen Seite gibt es Leute, die die Notwendigkeit einer Konvergenz Russlands mit dem Westen einsehen. Sie verstehen, welche Bedeutung im Leben der Gesellschaft die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte haben, um nur die wichtigsten Aspekte der westlichen Kultur zu nennen. Auf der anderen Seite propagieren Nationalisten, Russland müsse einen eigenen Weg gehen. Welchen denn? Den Weg des Krieges, der Diktatur und der neuen Zerstörung Russlands?
In den letzten Jahren gab es in vielen Ländern einen Aufschwung des Nationalismus. Aber in Russland ist dieser Nationalismus besonders aggressiv. Liberale Richtungen werden nur von Intellektuellen vertreten. An der Macht sind aber Leute, die in der Kommunistischen Partei aufwuchsen. Ihr Weltbild ist bolschewistisch geblieben. Erfreuliche Perspektiven sehe ich da nicht. Als ich ‚Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen‘ schrieb, hatte ich mich noch nicht klar für eine dieser Strömungen entschieden. Aber ich wollte der modernen russischen Gesellschaft einige Werte demonstrieren, die im westeuropäischen Mittelalter entstanden. Mich beschäftigten vor allem das Problem der menschlichen Freiheit, der menschlichen Individualität – und Attribute davon wie Recht und Eigentum. Die Auswahl dieser Kategorien war also nicht zufällig. Am Anfang war es mir wohl nicht bewusst, aber heute sehe ich, dass dieses Buch ‚aus westlicher Sicht‘ geschrieben wurde.
F: Welche Rolle spielen die russischen Historiker in diesen Auseinandersetzungen?
Keine grosse. Immerhin gibt es einige neue Zeitschriften – da können die Historiker ein bisschen auf die öffentliche Meinung einwirken. Um wirklich eine Rolle zu spielen, muss man sich an die jungen Generationen wenden. Dafür braucht es vor allem eine neue Generation von Schul- und Universitätslehrern. Und es müssen völlig neue Lehrbücher geschrieben werden.
Eine neue Perspektive
F: Was muss denn in den Schulbüchern vor allem geändert werden?
Der ganze Blick auf die Geschichte. Nicht nur in Russland, weltweit ist der traditionelle, staatspolitische Zugang immer noch vorherrschend. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht: die Geschichte der Machthaber, der Staaten – aber nicht die Geschichte der Menschen, die in diesen Staaten lebten. Auf eben diese Menschen müssen die Historiker ihren Blick richten. Die Historiker brauchen eine neue Perspektive; sie müssen sich selbst und ihre Denkweise ändern.
F: Die französischen ‚Annales‘-Historiker forderten das schon zu Beginn dieses Jahrhunderts.
Für mich ist die ‚Annales‘-Schule immer noch die wichtigste. Ihr Verdienst besteht vor allem darin, dass sie die Erforschung der Geschichte ‚von innen heraus‘ verfolgt. Das heisst: in der Geschichte wirken nicht irgendwelche sozialen, ideologischen Abstraktionen – sondern es handeln Menschen mit ihrer Denkweise, ihren Wertvorstellungen und Verhaltensweisen. Auch wenn man die Wirtschaftsgeschichte verstehen will, ist es notwendig zu wissen, welche Weltbilder die entsprechenden Menschen hatten.
Auf meine Arbeit hatten die ‚Annales‘-Historiker – Marc Bloch, Lucien Febvre, Jacques Le Goff und einige andere – einen bedeutenden Einfluss. Sie stellten viele neue Fragen, erarbeiteten neue Forschungsmethoden – sie zeigten mir neue Möglichkeiten. Ich bewegte mich ja selbst in eine Richtung, in der sie schon unterwegs waren. Das half mir – ich verstand, dass meine Arbeiten nicht so dumm und wertlos waren, wie meine sowjetischen Gegner mir immer vorwarfen.
In den letzten Jahren beobachtete ich aber bei den ‚Annales‘-Historikern einige krisenhafte Entwicklungen. Die Annäherung der Geschichtswissenschaft an Soziologie, Ökonomie, Demographie und andere Wissenschaften kann fruchtbringend sein – vielleicht aber auch nicht. Diese Disziplinen arbeiten mit modernem Material; Historiker arbeiten aber mit Material der Vergangenheit. Natürlich können da die Methoden nicht gleich sein. Wenn diese Barriere zu den theoretischen Disziplinen zerschlagen wird, besteht die Gefahr, dass die historische Erkenntnis ihre Spezifität verliert. Das kann uns in eine Sackgasse führen.
Die deutsche Geschichtsschreibung
F: Sind Ihnen auch neuere deutsche Forschungen aufgefallen? Oder könnte man sagen, dass die deutschen Historiker nicht besonders innovativ sind?
Es gibt viele interessante deutsche Historiker. Aber anscheinend verkomplizierte sich deren Situation nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wo Traditionen radikal zerstört wurden. Deshalb war die Suche nach neuen Wegen für die deutschen Historiker wahrscheinlich schwieriger als für Kollegen aus anderen Ländern.
Ich verfolgte aufmerksam die Beziehungen zwischen den deutschen Historikern und der modernen französischen Sozialgeschichte. Während langer Zeit sah ich in der deutschen Historiographie nicht das geringste Interesse dafür, was sich auf der anderen Seite des Rheins tut. Es ist schwierig, in der deutschen Geschichtswissenschaft etwas den ‚Annales‘ Vergleichbares zu finden. Dafür kann es viele Gründe geben. Einer der Faktoren für die französischen Erfolge ist wohl, dass es mit Paris und der Ecole des Hautes Etudes ein Zentrum gibt, wo sich die Kräfte konzentrieren. Da gibt es einige Kerne, die geradezu magnetisch andere Historiker anziehen. In Deutschland gibt es dagegen kein eigentliches wissenschaftliches Zentrum – die Leute arbeiten verstreut an den unterschiedlichsten Universitäten.
F: Was halten Sie denn von den postmodernen Autoren?
Die Arbeit dieser Autoren, besonders von Hayden White, ist sehr wichtig. Weil sie den Finger in eine offene Wunde legen. Es gibt echte Schwierigkeiten der historischen Erkenntnis. Sie wurden schon vor den Postmodernisten empfunden – von all denjenigen, die gegen den traditionellen Positivismus des 19. Jahrhunderts kämpften. Dennoch wird uns erst seit dem Ende der siebziger Jahre – unter dem Einfluss der Postmodernisten – so richtig klar, wie ungeheuer schwierig es ist, in die Vergangenheit vorzudringen. Und wie blödsinnig die Idee ist, dass man ein Schiebefensterchen öffnen kann an der Ecke zum Mittelalter und sehen, ‚wie es eigentlich gewesen war‘. – Wir müssen die Illusion aufgeben, dass wir die historische Wahrheit einfach am Schwanz packen und unseren Zeitgenossen vorführen können.
Die historischen Quellen sind nicht nur unser einziges Mittel, um in die Vergangenheit vorzudringen, sie sind gleichzeitig das Haupthindernis auf dem Weg dorthin – ein Hindernis, hinter dem sich die Vergangenheit versteckt. Trotzdem ist es nicht nötig zu denken, dass man überhaupt nicht in die Vergangenheit vorstossen könne. Einige Nachfolger von White kommen zu solch destruktiven Schlüssen. Der Schlag des Postmodernismus trifft in erster Linie die erzählende Historie. Alte Chroniken, mittelalterliche Texte, Berichte von Ereignissen – sie reflektieren nicht die reale Situation, sondern enthalten viel an literarischer Tradition, an Gerüchten, an Weltanschauungen ihres Autors. Aber diese Quellen erlauben uns Aussagen über die Mentalität ihrer Autoren – und indirekt auch über die Mentalität der Leute, an die sich die Autoren wandten. Unter dem Einfluss der Postmodernisten wird die Arbeit des Historikers also noch schwieriger, noch komplizierter als früher.
An den Leser denken
F: Sie beklagen: ‚Als die Historiker den Menschen aus der Geschichte verbannten, verloren sie auch ihre Leser.‘ Mit den Postmodernisten sind Sie sich also einig in dem Vorwurf, dass die modernen Historiker ‚den Menschen durch Abstraktionen ersetzten‘.
Mich beunruhigte immer die Frage: An welches Publikum wenden sich die Historiker eigentlich? Ich begriff schon früh, dass ich mich nicht nur an meine Kollegen, die meinen Gedanken ohnehin feindlich gegenüberstanden, wenden kann, sondern dass ich einer breiten Öffentlichkeit in verständlicher Sprache erzählen muss, wie die Menschen im Mittelalter lebten, was für Weltbilder sie hatten. Wenn das historische Wissen wirklich zur Selbsterkenntnis der Gesellschaft beiträgt, muss sich der Historiker an die ganze Gesellschaft wenden. Es kommt nicht darauf an, dass sich die Historiker einen eigenen pseudowissenschaftlichen Fachjargon zulegen – wir müssen die Sprache verwenden, in der unsere Leser denken und reden. Mit primitiver Schreibweise hat das nichts zu tun. Eine Geschichtsschreibung, für die sich niemand ausser Historikern interessiert, ist tot – sie ist überflüssig.
N.B (13.05.2014):
Aaron Gurjewitsch starb am 05.08.2006, Michael Richter am 23.05.2011. 弔意
Foto (Sommer 1995): Prof. Michael Richter and Prof. Aaron Gurevich in Constance University, Germany. Historiistoj Michael Richter kaj Aaron Gurjewitsch en Universitato Konstanz, Germanujo. Die Historiker Michael Richter und Aaron Gurjewitsch (rechts) in der Universität Konstanz, Deutschland.