Hutong in Radolfzell

Architektur: der Hutong fängt die Sonne ein

About: Traditional Chinese hutongs as models for modern urban quarters.
Pri: Tradiciaj ĉinaj loĝkortoj kiel modeloj por modernaj urbkvartaloj Published, Aperis: St. Galler Tagblatt, 27.08.2003


Die Idee des Wohnhofs: aus China nach Radolfzell – und vielleicht wieder zurück

In Peking werden ganze Altstadtviertel abgerissen und durch „westliche“ Hochhäuser ersetzt. Im deutschen Radolfzell hat dagegen der Architekt Hans-Dieter Küster sechs Wohnhöfe nach dem Vorbild der traditionellen chinesischen Hutongs geplant und von seinem Kollegen Helmut Höner bauen lassen. Küster wohnt selbst in der Anlage: „Ich habe schon sämtliche Wohnformen durchlebt, Reihenhaus, Einzelhaus, Etagenwohnung… Diese Art ist von allen die angenehmste.“ Nun will der Baumeister die Idee des Wohnhofs wieder nach China bringen.

Hans-Dieter Küster errichtete früher für Kommunen Wohnsiedlungen. 1984 kam der heute 67jährige zum ersten Mal nach Peking und sah die Hutongs. Die alten Anlagen waren verschandelt: „Um das bürgerliche Milieu kaputt zu machen, hat man die Höfe mit Menschen und provisorischen Bauten vollgestopft“. Das Konzept war aber gut zu erkennen und begeisterte Küster: „Mir kam die Idee, das müsste eine Wohnform abgeben, mit der man auch in Deutschland leben kann.“

Wohnhof in Radolfzell

Einem Original-Hutong reichen 60 Quadratmeter. An drei Seiten ist der Hof von Gebäuden eingerahmt. Im Haupthaus wohnen die Eltern, in den Nebenflügeln die Kinder. Küsters Bau sieht so aus: Statt zwei eingeschossigen Nebenhäusern enthält ein zweistöckiges Haus die Kinder- und Schlafzimmer. Als Wohnraum dient das nach Süden ausgerichtete einstöckige Haus, dessen Dach parallel zu den Strahlen der Wintersonne aufgeklappt ist. „Das ist der Witz an der Sache“, erläutert Küster: „Ganz wenig Verschattungsfläche und wir können die Sonne einfangen.“ Der Hof ist als Garten angelegt und wird bei Bedarf mit einer Markise oder einem beweglichen Glasdach abgedeckt – so werden Haus und Garten zu einem großen Wohnzimmer mit Satteldach.

Das im Radolfzeller Provenceweg zu bauen, war 1987 nur „mit sehr viel Verständnis des Gemeinderats und der Stadtverwaltung“ möglich, denn eigentlich lassen die deutschen Vorschriften eine so dichte Bebauung nicht zu: „Obwohl jeder ein Haus für sich hat,
läuft das als ‚Eigentumswohnungsanlage‘. Sonst hätten wir Flächen dazuerwerben müssen.“ Stören sich die Bewohner nicht? Im Gegenteil, versichert Küster: „Anders als im Reihenhaus hat jeder seinen eigenen Garten. Absoluter Sichtschutz, guter Schallschutz.“

Dach des Radolfzeller Hutongs

Als die Anlage fertig war, veranstaltete Küster eine Bauausstellung: „Wir bekamen 1300 Fragebogen zurück. Zwei Drittel sagten, sie könnten sich das vorstellen.“ Das Glasdach erhielt beim Wettbewerb „Schöner bauen – besser wohnen“ den ersten Preis. Trotzdem war „die Nachfrage am Anfang nicht sonderlich. Erst nach fünf Jahren fragten Leute, ob man nicht noch mal so was baue. Beim Bauen sind die Menschen sehr konservativ. Gleichzeitig hoffe ich deshalb auch, dass die Idee der Hutongs in China wieder Platz greifen wird.“

Für China hat Küster auf der Basis seines Hauses ein ganzes Städtebaukonzept entwickelt: Ruhige Wohnviertel, so eng bebaut, dass Autos nicht durchkommen, am Rand Zufahrtsstraßen und Garagen. Und kleine Läden: „Ein Problem der Hochhäuser ist ja, dass die Bewohner sich nicht mehr gewerblich betätigen können. Im Hutong waren Wohnen und Arbeiten nie getrennt.“

Mehrmals ist Küster nach China gereist, um sich mit Architekten und Stadtplanern zu treffen: „Ich hoffe, dass China sich wieder auf seine Traditionen besinnt.“ Er maße sich nicht an, den Chinesen zu sagen, wie sie bauen sollen. „Ich will ihnen zeigen, wie ich ihre Ideen in Europa umgesetzt habe. Es soll ja eine gegenseitige Befruchtung sein.“ Die neue Internetseite mit der chinesischen Version seiner Pläne sei bisher rund tausendmal abgerufen worden: „Ich weiß nicht, wer das liest. Aber die Resonanz freut mich.“

Martin Ebner

Link (last update: 06.05.2014):
Hutong housing concept by Hans Dieter Küster: www.groupctp.com

Wohnhöfe wären eine Möglichkeit, den Landschaftsverbrauch zu bremsen. Siehe dazu das Dossier: Zersiedelung der Bodenseelandschaft

N.B.(21.11.2017):
„…den Flächenverbrauch einzudämmen gilt als Zumutung. Wo es ums Wohnen geht, herrscht Quadratmeterfetischismus, es gilt als unmöglich, mit vier Personen einigermaßen entspannt auf 75 Quadratmetern zu wohnen. Dabei gibt es Häuser, die zeigen, dass das ohne Probleme möglich ist, wenn man die Rückzugsräume radikalisiert und die frei werdenden Ressourcen, das gesparte Geld und den gesparten Platz, für umso großzügige Gemeinschaftsflächen – Dachterrassen oder große kollektive Gärten für zehn Wohneinheiten – nutzt.“ (Niklas Maak: Wohnkomplex: Warum wir andere Häuser brauchen, München 2014, S.31)


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Foto:  Much greener than the Chinese originals: Hutong in Radolfzell, Germany. Hutong en Radolfzell, Germanujo. Viel grüner als seine chinesischen Vorbilder: Wohnhof in Radolfzell, Deutschland . 

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