Mao poster in Haikou, China

Geschichte: die Revolte hat in China Tradition

About: Symposium in Heidelberg, Germany, about the Cultural Revolution in Mao’s China.
Pri: Simpozio en Heidelberg, Germanujo, pri Kultura Revolucio en Ĉinujo dum tempo de Mao
Published, Aperis: Badische Zeitung, 1.03.2001


Radikal, aber bruchlos: neue Sichtweisen der chinesische Kulturrevolution

Fünftausend Jahre Geschichte können auf die Nerven gehen. Von Zeit zu Zeit hauen die Chinesen alles kurz und klein, um neu anzufangen. Der Aufstand hilft allerdings nicht, denn die Revolte hat mittlerweile ihre eigene Tradition. Folglich war die Kulturrevolution keineswegs die „einmalige Katastrophe“, die heute die offizielle chinesischen Geschichtsschreibung in ihr sieht. „Das ist wie in Deutschland“, vergleicht der Sinologe Rudolf Wagner: „Beim Nationalsozialismus wurde auch lange keine Vorgeschichte gesehen – er ist einfach plötzlich passiert, und hinterher war niemand dabei gewesen.“

Während eines Symposiums zur Kultur der chinesischen Kulturrevolution Ende letzter Woche in Heidelberg zählte Wagner vier Brüche mit der Vergangenheit auf: außer der Kulturrevolution noch die Bewegung „Vierter Mai“ von 1919, die „Hundert Tage Reform“ von 1890 und die Taiping-Revolution um 1850. Jedes Mal seien dabei „große Führer“ aufgetreten, die Chinas Geschichte verdammten und nach westlichen Vorbildern eine „neue Gesellschaft“ schaffen wollten. Altertümer, die der radikalen Umerziehung im Weg standen, seien jedes Mal zerstört worden. Besonders in Südchina fanden Rotgardisten oft keine Tempel mehr, die sie hätten anzünden können.

Der Rest der Tagung wandte sich ebenfalls gegen die gängige Sichtweise der Kulturrevolution als „Abweichung von der Norm“. Entgegen der parteiamtlichen Darstellung einer Phase kultureller Stagnation, habe sich die künstlerische Produktion damals nicht auf die „acht Modell-Stücke“ beschränkt, also auf die (in Wirklichkeit 18) unablässig wiederholten Propaganda-Opern, Ballette und Sinfonien. Ausserdem hätten Künstler trotz Vorschriften kreativ sein können: In westlichen Museen gebe es auch ganze Abteilungen „bloss mit Jesus“.

In Vorträgen zu Oper, Musik, Film, Kunst und Literatur zeigten die Wissenschaftler und Zeitzeugen, dass sich die extrem politisierte Kultur von 1966 bis 1976 nahtlos in die Entwicklung der
chinesischen Kultur seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts einordnen lässt. Diese Kontinuität sei auch ein Grund dafür, dass Mao-Bilder heute zur Folklore gehören und Rockgruppen erfolgreich CDs mit dem „Marsch des roten Frauenbataillons“ verkaufen.

Die Heidelberger Sinologin Barbara Mittler verfolgte die Geschichte der Modell-Musik: Seit dem 19. Jahrhundert habe sich in China die „pentatonische Romantik“ durchgesetzt, eine Synthese von traditionellen Melodien und europäischer Romantik. Dieser Stil sei bis heute so dominant, dass alte chinesische Musik – die ähnlich klingt wie westliche Avantgarde-Musik – vom Publikum nicht mehr als „chinesisch“ wahrgenommen werde. Selbst die Modell-Opern hätten westliche musikalischen Konventionen angewendet oder zumindest den schlechten Charakteren westliche Instrumente zugeordnet. Trotz aller Verbote seien „alle Arten von Musik weiter gehört“ worden, auch „bourgeoise“ Komponisten wie Mozart.

Li Hsiao-ti von der Academia Sinica in Taibei erläuterte, dass Opern bereits nach dem gescheiterten Boxer-Aufstand die Religion als Mittel zur Belehrung des Volkes ablösten: Chen Duxiu, ein Mitbegründer der Kommunistischen Partei Chinas, hielt schon im Jahr 1904 die Oper für „eine grossartige Schule der Massen“ und geeignet, den Analphabeten Patriotismus beizubringen, aber auch Licht und Elektrizität. Später schrieben Propagandagruppen der Roten Armee neue Texte für die alten Melodien der Peking-Opern.

Holzschnitte, die populärste revolutionäre Kunstform, griffen nicht auf alte Traditionen zurück, da sich die Künstler an westlichen Vorbildern orientierten. Laut den Historikern Tang Xiaobing und Julia Andrews entwickelten sich die „proletarischen“ Holzschnitte bereits in den 30er Jahren zur Propaganda: Ab 1937 sollten leicht verständliche Holzschnitte die Bevölkerung davon abhalten, den japanischen Invasoren zu helfen.

Einen grösseren Bruch stellte der Erfurter Historiker Peter Merker bei der Porzellan-Kunst fest. In der Stadt Jingdezhen sei zwar seit über 1000 Jahren Porzellan produziert worden, aber noch nie
„proletarische“ Motive. Daher habe die Kulturrevolution dort besonders negative Folgen gehabt: Altes Porzellan wurde zerschlagen und Fachleute zur Landarbeit geschickt. Bis heute habe Jingdezhen die verlorenen Weltmarktanteile nicht zurückgewinnen können.

Die Kulturrevolution wirke auch in der bildenden Kunst bis heute, führte die Kunsthistorikerin Martina Köppel aus: Als „Gesamtkunstwerk mit prägendem Einfluss“ biete sie immer noch „einen reichen Fundus an Bildern und Themen“. Während sich moderne chinesische Maler über die Kunst der Revolutionäre lustig machen und Cola-Dosen in alte Propagandaplakate einfügen, versuchen die Behörden, die Sujets für die Konkurrenz mit der Konsumwerbung  zu modernisieren. Als Beispiel nannte der Sinologe Stefan Landsberger die Entwicklung des Vorbilds Lei Feng: Ehemals ein braver Soldat, der seinen Kameraden die Socken wäscht, ist Lei Feng auf neuen Postern zwar immer noch Soldat, aber auch stolzer Besitzer eines Hauses und eines Bankkontos.

Warum reagiert das Publikum nicht allergisch auf die alten Helden? Heute seien „Das Dorf Shajia“ und die anderen Modell-Opern das chinesische Pendant zur Rocky Horror Picture Show, berichteten Zuhörer: Ältere Chinesen kennen alle Texte auswendig und amüsieren sich bei den Vorstellungen prächtig. Die Literaturwissenschaftlerin Chen Xiaomei meinte dagegen, die Mischung von traditioneller Kultur und revolutionären Ideen erkläre den anhaltenden Erfolg der Modell-Stücke: „In den Opern gibt es für jeden Geschmack etwas“.

Als „Gefühl der Befreiung“ beschrieb Xiaomei ihre eigene Erinnerung an die Kulturrevolution: „Wir hatten keine Schule und mussten nicht nach Hause zum Essen gehen.“ Während ihr Vater als „Volksfeind“ angeklagt wurde, sei sie begeistert mit einer Propagandagruppe über die Dörfer gezogen: „Es war ein grosser Spass: Jeder durfte mitmachen, Talent war nicht nötig.“ Auch andere Zeitzeugen erinnerten sich an eine „grossartige Zeit“. Die Heidelberger Kulturwissenschaftlerin Catherine Yeh berichtete jedoch von Alpträumen, in denen es heftig an der Tür klopft – eine Folge der ständigen Hausdurchsuchungen während der Kulturrevolution.

Die Erinnerung ist abhängig von der heutigen Situation, hat Carma Hinton, in Peking geboren und nun Filmemacherin in den USA, bei Interviews für ein Multimedia-Projekt zur Geschichte der Kulturrevolution herausgefunden: Wer heute erfolgreich sei, sehe die Verschickung aufs Land als wertvolle Erfahrung, wer es seither zu nichts gebracht habe, betone die verlorene Zeit und das Leiden. Sie selbst erinnere sich an den damaligen Idealismus, aber auch an die Auflösung von Bibliotheken, die ungewollt zu einer „Lesewelle“ und „kulturellen Bereicherung“ geführt habe.

Die ganze Kulturrevolution habe unbeabsichtigte Folgen gehabt, meinte der Politologe Richard Kraus: Sie habe die Ausbreitung des Kapitalismus nicht behindert, sondern beschleunigt. Die
Zerstörung der alten chinesischen Kultur sei ein „Geschenk für den Neoliberalismus“ gewesen. Nun könne sich China als Exporteur von billigen Kulturgütern in die Weltwirtschaft integrieren. Statt Streit um die politische Linie gibt es neue Konflikte: Die Autoren der Modell-Stücke, früher in Kollektiven organisiert, kämpften jetzt erbittert um das Copyright.

Martin Ebner

Link (last update: 06.05.2014):

Ausstellung chinesischer Propagandaplakate:
www.sino.uni-heidelberg.de/conf/propaganda


 


Foto (17.01.2012): The years may change, Mao stays: hotel in Haikou, China; Jaroj ŝanĝas, Mao restas: hotelo en Haikou, Ĉinujo; Jahre wechseln, Mao bleibt: Hotel in Haikou, China

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