Ausstellung Chinese Whispers in Bern: "Ensemble" von Li Tianbing

Chinesische Kunst: die Sammlung Sigg

About: World’s biggest collection of modern Chinese art: exhibitions of the Sigg collection in Berne, Switzerland
Pri: Ekspozicioj de la kolektado de Uli Sigg en Bern, Svislando: la plej granda kolektado de moderna ĉina arto


1. Letzebuerger Land, 2016 : Stille Post nach China 

2. Letzebuerger Land, 2005: Großer Vorsitzender bewundert Pissoir


Published, Aperis: d’Lëtzebuerger Land, 24.06.2016

Stille Post nach China

Mit Ausstellungen in Bern und Wien verabschiedet sich die Sammlung Sigg aus Europa

„Ich habe meine Mission erfüllt“, sagt Uli Sigg. In den 1990er Jahren war der Schweizer Unternehmer und Diplomat der einzige, der zeitgenössische Kunst aus China kaufte: „Am Anfang war ich der Markt.“ Mittlerweile ist sein Freund Ai Weiwei ein Star, und Institutionen wie das neue Yuz-Museum in Shanghai zeigen längst nicht mehr nur sozialistischen Realismus. Seine Sammlung hat Sigg nicht nach privatem Geschmack, sondern systematisch als „enzyklopädische Dokumentation“ aufgebaut. Diese weltweit bedeutendste Kollektion moderner chinesischer Kunst habe er immer schon irgendwann als Schenkung zurückgeben wollen: „Sie muss den Chinesen gehören, damit sie ihre eigene Gegenwartskunst überhaupt zu Gesicht bekommen.“

Verhandlungen in Peking und Shanghai scheiterten. Zensur hätte Sigg akzeptiert – er bestand aber vergeblich darauf, dass die Regeln offengelegt werden. Hongkong dagegen nahm mit Handkuss die mehr als 2000 Arbeiten von rund 350 Künstlern. Sie sollen nun den Kern des M+ Museum for visual culture bilden, das gerade in West Kowloon von den Basler Architekten Herzog & de Meuron gebaut wird und 2019 eröffnet werden soll.

Bevor die Container auf Reisen gehen, werden Teile der Sammlung Sigg noch einmal in Europa gezeigt: dieses Frühjahr auf 4000 Quadratmetern der beiden Häuser des Kunstmuseums und des Zentrums Paul Klee in Bern, nächstes Frühjahr in kleinerem Umfang im Museum angewandter Kunst in Wien. Die Berner Kuratorin Kathleen Bühler hat von rund 70 Künstlern, die überwiegend in Peking leben, 150 Werke aus den letzten 15 Jahren zusammengestellt, vor allem Gemälde und Installationen, aber auch Videofilme und Fotografien.

Der Ausstellungstitel „Chinese Whispers“ ist der englische Name des Kinderspiels „Stille Post“: Eine Nachricht wird flüsternd verbreitet – und zunehmend durch Missverständnisse verfälscht. China rückt uns immer mehr auf die Pelle und ist doch so weit weg… Bühler will „den Einfluss der westlichen Kunst auf das chinesische Schaffen sichtbar machen“, andererseits zeigen, wie sich chinesische Künstler mit der eigenen Tradition und den Lebensbedingungen im heutigen China auseinandersetzen.

Gegliedert ist die Ausstellung in vier Teile. „Spuren des Wandels“ im Zentrum Paul Klee ist der politischste Abschnitt und beeindruckt vor allem mit großen Installationen. Gleich am Eingang hat Ai Weiwei aus Holzteilen ehemaliger Tempel den Umriss von China gebaut. He Xiangyu hat aus Handschuhleder einen Panzer in Originalgröße genäht, die Hülle dann allerdings nicht aufgepumpt. Dahinter lassen Sun Yuan und Peng Yu dreizehn lebensecht wirkende Figuren, vergreiste ehemalige Machthaber, ziellos auf Rollstuhl-Robotern herumkurven. Andere Arbeiten behandeln Bürokratie, Bauruinen, Drogensucht und andere weniger angenehme Seiten der Volksrepublik.

Von geistiger Leere in tristen Hochhaussiedlungen zeugen auch Werke in den drei Abschnitten „Globale Kunst aus China“, „Zwischen Konsumwahn und Spiritualität“ und „Vom Umgang mit der Tradition“, die im Kunstmuseum Bern zu sehen sind. Harmonie und Schönheit sind die Werte der traditionellen chinesischen Kunst – heutige Künstler aber zeigen die trostlose Wirklichkeit und vergreifen sich dabei an westlichen Vorbildern ebenso respektlos wie an der eigenen Historie. Jin Jiangbo zum Beispiel lässt die Ausstellungsbesucher in einer interaktiven Videoinstallation durch zarte Tuschelandschaften trampeln. Zhuang Hui verarbeitet Viagra-Junk-Mails zu Seidenwandbildern. Liang Yuanwei verewigt einfache Dekore von Wachstischtüchern in Ölgemälden.

Pekings Kulturbürokraten haben derartige Machwerke bisher mit größtmöglicher Ignoranz behandelt. Sie können nun aufatmen. Ohnmächtig hatten sie im Jahr 2005 zusehen müssen, wie Ai Weiwei in Bern und Hamburg die Ausstellung „Mahjong“ kuratierte und in der Folge ihre Untertanen weitgehend unkontrolliert auf dem Weltkunstmarkt Furore machten. Jetzt bekommt die Volksrepublik die Interpretationshoheit zurück.

In den nächsten Jahren, so lange Hongkong pro forma eine gewisse Unabhängigkeit genießt, wird Siggs Sammlung das chinesische Nationalmuseum für die Kunst seit der Kulturrevolution sein. Danach kann man das kritische, hässliche Zeug in aller Ruhe verschwinden lassen. Bislang begnügten sich in Hongkong linientreue Politiker mit Warnungen, Kunst und Politik dürften nicht vermischt werden – und vergraulten Lars Nittve, den ehemaligen Leiter der Londoner Tate Modern, als Gründungsdirektor des M+-Kulturzentrums. Uli Sigg selbst ist trotzdem optimistisch: „Eines Tages werden die Chinesen merken, dass das die spannendsten Jahre ihrer jüngsten Geschichte waren.“

Martin Ebner

Die Ausstellung „Chinese Whispers. Neue Kunst aus den Sigg und M+ Sigg Collections“ war bis 19. Juni 2016 in Bern zu sehen: www.chinese-whispers.ch/ Der Begleitband, der im Prestel-Verlag erschienen ist, bietet vor allem Interviews mit allen beteiligten Künstlern und dem Sammler.

Einzelne Werke aus der Sammlung Sigg zeigte auch die Ausstellung „Magie der Zeichen – 3000 Jahre chinesische Schriftkunst“, die bis 17. Juli 2016 im Museum für Ostasiatische Kunst in Köln lief.

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Published, Aperis: d’Lëtzebuerger Land, 07.10.2005

Großer Vorsitzender bewundert Pissoir

Das Kunstmuseum Bern stellt erstmals die weltweit größte Sammlung chinesischer Gegenwartskunst vor

Sie leben nicht auf der Erde, sondern unter dem Himmel, ihr Kompass zeigt nicht nach Norden, sondern nach Süden, ihre Trauerkleider sind nicht schwarz, sondern weiß: das Universum der Chinesen hat mit der Welt der Europäer nicht viel gemeinsam. Schön, dass wir wenigstens ab und zu über die gleichen Dinge lachen können – oder uns aufregen. Zu dieser beruhigenden Erkenntnis verhilft die Ausstellung „Mahjong“, für die das Kunstmuseum Bern fast alle seiner Säle geräumt hat.

Die spektakuläre Schau präsentiert einen Querschnitt der Sammlung, die der Schweizer Manager Uli Sigg seit dem Tod Maos zusammenträgt. Sigg, mittlerweile Vizepräsident des Verwaltungsrats der Ringier-Gruppe, hatte 1980 in der Volksrepublik China das erste Joint-Venture mit einer westlichen Firma etabliert und zu dieser Zeit begonnen, als erster systematisch zeitgenössische chinesische Kunst zu sammeln. Seine einzigartige Kollektion umfasst mehr als 1200 Werke von 180 Künstlern, von der ersten Avantgarde bis zu Arbeiten der unmittelbaren Gegenwart. Ungefähr ein Drittel davon ist nun in Bern zu sehen – besonders Malerei und Fotografie, aber auch Holzschnitte, Skulpturen, Videos und Installationen. Die Vorgeschichte wird mit Gemälden des „Sozialistischen Realismus“ und Mao-Postern dokumentiert, von denen Sigg ebenfalls die weltweit größte Sammlung besitzt.

Ausstellung und Katalog sind lose in 12 Themenbereiche gegliedert, die die radikalen Veränderungen Chinas in den vergangenen 25 Jahren zeigen, etwa „Stadt und Land“, „Individuum und Gesellschaft“ oder „Konsumismus“. Wie beim Brettspiel „Mahjong“ sind die Besucher eingeladen, beliebig viele weitere Zusammenhänge zu entdecken. Die erste Sektion heißt „Ikonen der 70er Jahre vs. Ikonen der 80er Jahre“ und zeigt einerseits Rote Helden, andererseits Werke, die mit dem Revolutionskitsch brachen und seit der Ausstellung „China Avant-Garde“ in der Nationalgalerie Peking im Februar 1989 (der bis heute einzigen derartigen Ausstellung) Kultstatus besitzen. Dazu gehören zum Beispiel Gesichter mit verzerrtem Grinsen, die Geng Jianyi malte, nachdem er von der Kunstakademie abgelehnt worden war, da seinen Werken die obrigkeitlich erwünschte Fröhlichkeit gefehlt hatte – das übertriebene Lächeln wird nun häufig in den Werken anderer Künstler zitiert.

Viele Arbeiten parodieren die kommunistische Propaganda: Mao winkt mit der Geste des Großen Vorsitzenden ein Taxi herbei; schmächtige Künstler stellen nackt die Posen heroischer Denkmäler nach; eine Installation läßt geklone Dinosaurier, Aliens und Roboter in einer imaginären Parade im Jahr 2049 über den Tiananmen-Platz trampeln. Da die „Ereignisse“ des Jahres 1989 immer noch ein Tabu sind, beschäftigen sich Künstler gerne mit dem Tiananman-Platz und ersetzen zum Beispiel in Bildern von dem Massaker angeschossene Studenten durch blutende Pinguine. Schreibtischtätern ist Shi Jinsongs „Office Equipment“ aus Stahl gewidmet: Ein Bildschirm wird zur Guillotine, die Tastatur zur Fingerklemme, der Bürostuhl zum Nadelkissen.

Breiten Raum nimmt die Auseinandersetzung mit der westlichen Kunst ein. Bis in die 1970er Jahre von jeder Information darüber völlig abgeschottet, bedienen sich die chinesischen Künstler nun frei in der Westkunst, versetzen etwa Delacroix‘ Freiheit in eine Vorstadt von Peking oder lassen Mao Zedong („Die Kunst muss dem Volk dienen“) das Pissoir von Duchamp bewundern. Thematisiert wird auch die Bedeutung des internationalen Kunsthandels; ein Gemälde zeigt zum Beispiel wichtige US-Kuratoren auf China-Trip. Yan Lei und Hong Hao verschickten fiktive Einladungsschreiben zur Kasseler Documenta an diverse Kollegen – die alle prompt reinfielen. Zum derzeitigen „Chinakunst-Boom“ hat nicht zuletzt Sigg beigetragen, waren es doch Werke aus seiner Sammlung, die Harald Szeemann auf der Aufsehen erregenden Biennale 1999 in Venedig präsentierte.

Gleichzeitig entdecken viele Künstler die chinesische Tradition wieder: klassische Landschaften in Airbrush-Technik, Gelehrtensteine in Chromstahl, aufwändige Kaiser-Roben aus Polyvinil und Nylon. Aberwitzig auch das Werk von Xu Bing: in jahrelanger Fleißarbeit hat er über 4000 neue Schriftzeichen entwickelt, die aussehen wie normales Chinesisch, aber völlig sinnlos sind.

Ein aufgeblasenes Pferd, eine Säule aus menschlichem Fett und andere Exponate in „Das Medium Körper“, der letzten Sektion, provozieren nicht nur chinesischen Behörden. „Ruan“ von Xiao Yu, eine Bastelei mit einem menschlichen Fötus und einem toten Vogel, brachte dem Kunstmuseum Bern eine Anzeige wegen Störung des Totenfriedens, Gewaltdarstellung und Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz ein. Dem Medien- und Besucherinteresse tat der kleine Sommerskandal natürlich keinen Abbruch. Seit Anfang September werden die beanstandeten, zwischenzeitlich entfernten Objekte wieder gezeigt – in abgetrennten Räumen, wobei am Eingang jeweils gewarnt wird: „für sensible Personen nicht geeignet“. Das trifft das heutige China recht gut.

Martin Ebner

Die Ausstellung „Mahjong – Chinesische Gegenwartskunst aus der Sammlung Sigg“ war bis 16. Oktober 2005 im Kunstmuseum Bern zu sehen, danach z.B. in Hamburg.
Katalog (deutsch, englisch): Matthias Frehner und Bernhard Fibicher (Hrsg), Hatje Cantz Verlag, 360 Seiten, 65 SFr, ISBN 3-7757-1612-2

N.B. (14.11.2014):
Some 1.500 works of the Sigg Collection are now in the M+ Museum in Hong Kong, West Kowloon Cultural District.



Foto: Exhibition „Chinese Whispers“ in Bern , Switzerland (visitor in front of „Ensemble“ by Li Tianbing. En la ekspozicio „Chinese Whispers“ en Bern, Svislando. Besucherin in der Ausstellung „Chinese Whispers“ im Kunstmuseum Bern, Schweiz (vor dem Bild „Ensemble“ von Li Tianbing).

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Texts of timeless beauty. Or at least some historical interest.