About: How Europeans got to know the Turks and by the way invented ethnography.
Pri: Kiel eŭropanoj konatiĝis kun turkoj kaj krome inventis etnografion.
Published, Aperis: NZZ am Sonntag, 14.11.2004
Wie die Europäer die Türken kennenlernten und nebenbei die Ethnographie erfanden
Bärtige Turbanträger branden an die Stadtmauern und schwingen Krummschwerter: In der Debatte zum EU-Beitritt der Türkei werden jahrhundertealte Feindbilder hervorgekramt. Almut Höfert, Historikerin in Basel, hat Reiseberichte der Renaissance-Zeit untersucht und erforscht, wie die Westeuropäer damals zu Ansichten über die Türken kamen, die sich zum Teil bis heute halten. Sie hat herausgefunden, dass die Auseinandersetzung mit den Osmanen nicht nur Anlass war, grausige Flugblätter zu drucken, sondern auch weitreichende Folgen für die Wissenschaft hatte: Im 15. und 16. Jahrhundert wurde bereits vor den Fahrten nach Amerika „das europäische Grundmuster zur Klassifizierung und Beschreibung von Gesellschaften entworfen“, also die Grundlagen für Anthropologie, beziehungsweise Völkerkunde gelegt.
Im Gegensatz zur bisherigen Forschung unterscheidet Höfert strikt zwischen der Propaganda der „Türkengefahr“ und der osmanischen Expansion: Militärisch bedrohten die Türken den Balkan, die italienische Küste und Südspanien – der Papst stellte das aber als Gefahr für das ganze christliche Europa dar und rief zum Kreuzzug auf. Die osmanische Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 wurde nicht nur als Verlust einer wichtigen Festung, sondern als Vorbote des Weltendes gewertet: Die Türken waren nicht gewöhnliche Feinde, sondern Vorkämpfer des Antichrist. Genauere Kenntnisse waren über sie zunächst nicht nötig, in der Johannesapokalypse stand alles über diese Gottesstrafe. Zahlreiche Darstellungen von Türkengreuel waren nicht von Massakern, sondern von der Bibel inspiriert, etwa vom Kindermord zu Bethlehem.
Am meisten Grund zur Klage hätten die Venezianer gehabt: Sie verloren ihre Vormachtstellung im Mittelmeerraum und wurden von den Türken in vier Kriegen zur zweitklassigen Landmacht degradiert. Trotzdem hielt sich Venedig mit Propaganda zurück, setzte vielmehr auf Handel und diskrete Diplomatie. In Frankreich bezichtigte man sich zwar bei konfessionellen Streitereien, den „teuflischen“ Türken nahezustehen, arbeitete aber pragmatisch mit ihnen zusammen. Dafür trommelten die Habsburger um so lauter und gerierten sich als Hauptfeinde der Türken: Zwar verloren sie letztlich kein Territorium und wurden lediglich bei der Eroberung Ungarns aufgehalten, aber die „Türkengefahr“ war praktisch, um im Reich für Einigkeit und Steuerzahlungen zu sorgen. Zu fünf nachweisbaren Türkeneinfällen in Kärnten wurden fünf weitere dazuerfunden. Schilderungen osmanischer Schandtaten fielen wohl auch deshalb so drastisch aus, weil in Ungarn ganze Dörfer zu den Türken überliefen.
Die Verfasser der zwölf Reiseberichte, die Höfert als repräsentativ ausgewählt hat, erwähnen alle die „Türkengefahr“. Die Analyse der Texte zeigt aber, dass sie keineswegs den grössten Raum einnimmt: „Die Christenheit, die sich dem Schaudern über die Türkengreuel hingab und in apokalyptischen Visionen das Ende der Welt kommen sah, schaute in den Reiseberichten als erstes – auf das Essen.“ Am meisten ist nämlich über türkisches Brot, allgegenwärtige Zwiebeln und gekochte Hammelfüsse zu erfahren. Als nächstes der „merkwürdigen Dinge“ kamen die islamischen Geistlichen: meist verheiratet und als Handwerker tätig.
Zu den häufigsten Stichworten gehörte ferner die Verschleierung der Frauen. Obwohl damals die meisten Türkinnen unverhüllt daherkamen und den Schleier erst nach und nach von den Byzantinern übernahmen, wurde dieser Brauch bereits im 16. Jahrhundert von den Reisenden, die sich gern gegenseitig zitierten, als Symbol für die muslimische Kultur geschildert. Genauso alt ist der Wunsch, die Schleier zu lüften. Laut Höfert richteten sich die erotischen Phantasien zunächst auf die osmanischen Frauenbäder, während das Serail nur nebenbei erwähnt wurde: „Die Geschichten über Liebe, Intrigen und Mord im Harem wurden erst später in diesen Topos eingefügt.“
Was Diplomaten und ehemalige Kriegsgefangene aus dem Morgenland berichteten, musste irgendwie geordnet werden. Drei Gliederungsvarianten konkurrierten: Die „Itinerarstruktur“ ordnete die Dinge in der Reihenfolge, in der sie den Reisenden vor die Augen kamen. Für heutige Leser ungewohnt sind „freie Ketten von Ähnlichkeiten“, bei denen die Verfasser ihrer Ansicht nach naheliegende Dinge zusammenwürfelten, etwa Bäder, Kupfermünzen und Flussfähren. Schliesslich setzte sich das „ethnographische Ordnungsmuster“ durch: Hierarchisierung und Zusammenfassung verschiedener Topoi. Als Hauptkategorien kristallisierten sich mit der Zeit „Hof, Regierung und Militär“, „Sitten und Gebräuche“ und „Religion“ heraus. Da das Ordnungsprinzip Politik-Gesellschaft-Kultur auf alle Gesellschaften anwendbar ist, „war damit in Europa der Schlüssel für die epistemologische Bemächtigung des gesamten Erdkreises geschliffen“. Gegen die These Edward Saids, die westliche Anthropologie sei zusammen mit der Kolonialherrschaft entstanden, zeigt Höfert, dass die Europäer ihren wissenschaftlichen Blick auf fremde und eigene Kulturen schon entwickelten, als sie den Osmanen noch unterlegen waren.
Besondere Bedeutung misst Höfert dem Begriff „Religion“ bei, der sich in den Reiseberichten ein Jahrhundert früher als bei Theologen oder Philosophen einbürgerte. Im Mittelalter war nur der christliche Glaube „fides“ gewesen, alles andere war „secta“ und „teuflisch“. Die neue Kategorie „Religion“ aber galt für alle: „Erst dadurch wurde es allmählich möglich, die Erde nicht mehr von Christen und Heiden, sondern von Menschen bewohnt zu sehen.“ Reisen bildet.
Martin Ebner
Buch:
Almut Höfert: Den Feind beschreiben. „Türkengefahr“ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450 – 1600, 465 Seiten, Campus Verlag, Frankfurt 2004
Foto: Russian orientalism: entry to the National Museum of Ethnography and Natural History in Chisinau, Moldova; Rusa orientalismo: pordo de la nacia muzeo de etnografio kaj natura historio en Chisinau, Moldavujo; Russischer Orientalismus: Eingang des Nationalmuseums für Ethnografie und Naturgeschichte in Chisinau, Moldawien.