Thurgau bei Wahrenberg

Schweizerdeutsch: Exotik des Thurgauer Dialekts

About: Linguist Astrid Krähenmann investigates the dialect spoken in the Swiss canton of Thurgau
Pri:
Sciencistino Astrid Krähenmann esploras la dialekton de la svislanda kantono Thurgau
Published, Aperis: NZZ am Sonntag, 21.12.2003


Schweigen zum Auftakt

Eine Sprachforscherin der Uni Konstanz entdeckte die Exotik des Thurgauer Dialekts

Mostindien ist exotisch. Werbeplakate, die den Thurgau von seinem biederen Image erlösen wollen, behaupten das schon seit Jahren, nun ist es auch wissenschaftlich erwiesen. Wenn Thurgauer nämlich den Mund aufmachen und zu sprechen anfangen – dann hört man erst einmal nichts. Jedenfalls nicht, wenn sie „Pomfrit“ oder „Car“ sagen und wenn man dabei so genau hinhört wie Astrid Krähenmann. Die Sprachwissenschaftlerin hat im Thurgauischen ein Phänomen gefunden, das sonst auf der Welt nur ganz selten vorkommt: Wörter, die mit langen Konsonanten beginnen. Das heisst: mit einer langen Stille.

An der Universität Konstanz beschäftigt sich Astrid Krähenmann im Sonderforschungsbereich „Variation und Entwicklung im Lexikon“ mit germanischen Sprachen. Die Schweizer Linguistin erforschte für ihre Doktorarbeit, die dieses Jahr veröffentlicht und mit dem Förderpreis der Stadt Konstanz ausgezeichnet wurde, den Kontrast von  Lang- und Kurzphonemen im Thurgauischen. Im Sommer 1998 liess sie dafür vier Sprecher aus Bischofszell, Ettenhausen und Wängi jeweils zwei Stunden lang ausgewählte Wörter und Sätze auf Tonband sprechen; dann wertete sie über ein Jahr lang die rund 3000 aufgenommenen Sprachsegmente aus.

Sie fand heraus: Wo im Hochdeutschen Stimmhaftigkeit und Aspiration verwendet werden, hat das wie die anderen Ostschweizer Dialekte zum Hochalemannischen gehörende Thurgauisch nur verschiedene Konsonantenlängen. Zum Beispiel wird im Hochdeutschen in „Paar“ das „p“ behaucht, also „Phaar“, aber in „Bar“ das „b“ ohne Behauchung gesprochen. Im Thurgauischen dagegen werden diese Laute dadurch unterschieden, dass „p“ als langer und „b“ als kurzer Konsonant gesprochen werden. Gleiches gilt für „t“ und „d“, sowie „k“ und „g“.

Der Unterschied zwischen einem kurzen Konsonanten und einem langen Konsonanten, einem sogenannten Geminat, besteht darin, dass vor den jeweiligen Lauten unterschiedlich lange nichts zu hören ist. Beispielsweise hat Krähenmann vor dem p von „huuppä“ (hupen) durchschnittlich 155 Millisekunden Schweigen gemessen, in „Huupe“ (Haube) dagegen nur 64 Millisekunden. Welche Stille andauernder ist, wird nur im Kontext klar: Als Krähenmann aus den Sätzen „I ha Pomfrit nöd gern“ und „I ha Bohne nöd gern“ das „Po“ und das „Bo“ ausschnitt und Versuchspersonen vorspielte, konnten diese nicht entscheiden, welchen Wortanfang sie hörten.

Worte mit einer unhörbaren Pause zu beginnen, ist „für die Wahrnehmung kontraproduktiv“, erläutert Krähenmann. Entsprechend selten sind Sprachen mit Geminaten am Wortanfang: im Kaukasus Circassisch und Lak, das Marokkaner Arabisch, in Südasien Pattani Malay und Leti, in Europa das Bretonische und ein paar griechische Dialekte auf Zypern. Und eben Thurgauisch. Es nutzt den kurz-lang Unterschied zum Beispiel, um bei Lehnwörtern den in fremden Sprachen gemachten Unterschied stimmhaft-stimmlos ins Thurgauische zu „übersetzen“. So wird das aus dem Französischen übernommene „Car“ mit langem Konsonant gesprochen und dadurch von „gar“ unterschieden.

Während Fernsehen und Schule andere Eigenarten der Mundart verdrängen, ist diese Unterscheidung ausserordentlich stabil, findet Krähenmann. Sie ist auch sehr alt. Für ihre neuste Arbeit, die nächsten April erscheint, hat die Wissenschaftlerin zusammen mit der Professorin Aditi Lahiri in der Stiftsbibliothek St. Gallen ein Manuskript von Notker dem Deutschen ausgewertet: „Der Gelehrte war der erste, der auf Althochdeutsch schrieb. Er entwickelte ein systematisches Prinzip, mit welchem er alternierend die Buchstaben p, t und k für b, d und g schrieb, das sogenannte Anlautgesetz. Der Wechsel ist genau in dem Kontext, in dem Thurgauer auch heute einen Unterschied zwischen langen und kurzen Konsonanten machen.“ Schon um das Jahr 1000 waren also die Alemannen manchmal still, wenn sie etwas sagen wollten.

Martin Ebner

Buch:
Astrid Krähenmann: Quantity and Prososdic Asymmetries in Alemannic. Synchronic and Diachronic Perspektives, Berlin 2003


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 Foto: Exotic Thurgau near Wahrenberg, Switzerland. Apud Wahrenberg en la svislanda kantono Thurgau. Exotischer Thurgau: Mostindien bei Wahrenberg, bzw. Woorebärg 

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