Train from Tbilissi reached Yerevan

Bahnverkehr in Europa: Es fährt (k)ein Zug nach Rom

About: Problems of crossborder railway traffic in Europe
Pri: Problemoj de translima fervojtrafiko en Eŭropo
Published, Aperis: Stuttgarter Nachrichten (†), 20.12.2010


Schranken statt Schengen: Autos und Lastwagen haben von Sizilien bis zum Polarkreis freie Fahrt – im Eisenbahnverkehr werden dagegen ständig neue Grenzen errichtet.

Die Pontebbana ist ein kühnes Projekt. Wie Stuttgart-Ulm gehört auch diese Bahnlinie durch die italienischen Alpen zu den „prioritären Schlüsselverbindungen“ Europas. Mit Riesenaufwand und EU-Geldern wurden 8 Tunnel und 16 Brücken gebaut, so dass auf der Achse Danzig-Bologna Züge mit 200 Sachen durchs Gebirge rasen können. Das heißt, sie könnten. Über die neue Schnellstrecke zuckeln außer Güterwagen bloß zwei Züge: das Nachtzugpaar Wien-Rom. Alle übrigen Fernverbindungen wurden von Trenitalia eingestellt. Zwischen Venedig und Kärnten lassen die Österreichischen Bundesbahnen nun Busse pendeln. Während man darin die Autobahn entlangrattert, hat man Zeit zum Grübeln: Wieso wird trotz Energiespar- und Klimaschutz-Tralala nicht mehr Verkehr auf die Schienen verlagert?

Fairerweise muss man zugeben: Völker-Verbindung ist eine vergleichsweise neue Aufgabe. Kaufleute ließen einst die ersten Gleise legen; ausgebaut haben die Netze aber Staaten – jeder für sich und meist gegeneinander. Die „Sauschwänzlebahn“ von Blumberg nach Weizen zum Beispiel wurde eigens zur Umgehung der Schweiz errichtet; rentabel war die von Militärs angeordnete Trasse nie. Dass einmal im EU-Binnenmarkt der grenzüberschreitende Verkehr geradezu explodiert, war nicht vorherzusehen. Unsere Vorfahren hätten nicht einmal geträumt, in rund zwei Stunden von London unter dem Kanal direkt zum Disneyland Paris zu sausen.

Eigentlich ist es erstaunlich, dass überhaupt noch Züge fahren. In den von Umweltgedanken noch unbelasteten Wirtschaftswunder-Jahren ließen moderne Autobahnen und Flugzeuge die maroden, hoffnungslos verschuldeten Staatsbahnen alt aussehen – die Stilllegung schien nur eine Frage der Zeit. Dann brachten aber schnelle Züge neuen Schwung: ab 1964 der Shinkansen in Japan, ab 1981 der TGV in Frankreich. Ein Jahrzehnt später legte sich Deutschland den ICE zu, wenn auch ohne dazu passende Langstrecken.

Dumm nur, dass in Europa jeder seine eigenen Hochgeschwindigkeitszüge entwickelte, die ohne langwierige Genehmigungsverfahren nicht zu den Nachbarn dürfen. Oder können: die Neubaustrecke Köln-Frankfurt ist nur für den ICE-3 befahrbar, für den TGV und alle andere Züge ist sie zu steil. Deutsche ICE und Schweizer ICN haben unterschiedlich hohe Kupplungen. Italien schreibt vor, dass Loks im Brandfall automatisch anhalten – andere Länder verbieten genau das, weil sonst Passagiere im verrauchten Tunnel stecken. An der Grenze die Lok wechseln, wie noch 1988 bei täglich drei durchgehenden Zügen Stuttgart-Mailand üblich? Das ist heute zu teuer. Je rasanter die Züge, desto mehr Direktverbindungen werden gestrichen. Früher konnte man im Schlafwagen von Wien über Ulm nach Paris gondeln; jetzt muss man in Straßburg oder München umsteigen, und die mit hohem Tempo gewonnene Zeit geht dabei oft wieder verloren.

Grenzbahnhof seit dem Ende Jugoslawiens: Ilirska Bistrica, Slowenien
Grenzbahnhof seit dem Ende Jugoslawiens: Ilirska Bistrica, Slowenien

Anfang der 1990er Jahre bemerkte die EU-Kommission das Gemurkse. Sie fand auch, dass in den USA Bahnen 40 Prozent der Güter befördern, in Europa nur 12 Prozent. Und dass Frachtzüge oft langsamer schleichen als Eisbrecher in der Ostsee. Zur Abhilfe planten die Eurokraten „transeuropäische Korridore“ für schnelle Züge. Sie machten Vorschriften zur Vereinheitlichung der Bahntechnik. Anders als bei Handy- und Bankgebühren gingen sie bei den Bahnen noch nicht gegen überteuerte internationale Tarife vor. Sie stärkten aber die Fahrgastrechte. Vor allem aber setzten sie auf freie Marktwirtschaft: Auf den Gleisen soll fahren, wer will und dafür bezahlt. Netz und Betrieb sollen getrennt, die weiter staatlich finanzierten Nahverkehrsangebote sollen ausgeschrieben werden.

Obwohl Zulassungsbehörden Prügel in den Weg schmeißen, bildet sich für Bahnfahrzeuge nun langsam ein einheitlicher Markt. Nationale Saurier-Unternehmen gingen unter. In einem Dorf bei Konstanz entwickelte die junge Firma Stadler Rail pfiffige Leichtbau-Triebwagen: Die rundlichen „Flirt“-Züge sind mittlerweile von Algerien bis Finnland fast so verbreitet wie früher VW-Käfer auf den Straßen. Moderne Lokomotiven vertragen diverse Stromsysteme. Europas 22 verschiedene Signal- und Zugsicherungssysteme passen dagegen noch lange nicht zusammen. Holland hat außer seinem alten sogar drei neue verschiedene Systeme.

Stadler-Rail-Triebwägen im Bahnhof Tallinn, Estland
Stadler-Rail-Triebwägen im Bahnhof Tallinn, Estland

Ein Problem ist auch, dass Hersteller und Betreiber neue Fahrzeuge nicht mehr gemeinsam entwickeln. Tests und Prototypen werden möglichst eingespart: Auf der Gäubahn wetteiferten unausgereifte  ICE-T-Züge (Bombardier/Siemens) und ETR-420 (Fiat) um die größte Neigetechnik-Lachnummer. Es siegte dann der französische Alstom-Konzern, der das Fiat-Bahnwerk übernahm: Der Triebwagen ETR-610 kollabierte schon bei den Probefahrten und bekam keine deutsche Zulassung. Den Schweizer Bundesbahnen wurde das zu dumm. Sie lösten die mit Trenitalia gegründete Tochtergesellschaft Cisalpino auf – jetzt fahren von Stuttgart gar keine Direktzüge mehr nach Italien, nicht einmal verspätet.

Dass jedes Land für die Fahrscheine der Zukunft ein eigenes elektronisches Ticket-System entwickelt, mit dem Rest der Welt nicht kompatibel, ist sozusagen Ehrensache. Schließlich ist es ja bereits heute fast unmöglich, eine korrekte internationale Fahrplan- oder gar Fahrpreis-Auskunft zu bekommen. Die 2007 von DB und sechs weiteren Bahnen gegen die Billigflieger gegründete Allianz „Railteam“ beerdigte aus Kostengründen stillschweigend das geplante gemeinsame Buchungs- und Reservierungssystem.

Immerhin färbte die Liberalisierung vielerorts die Züge bunt. Die Vielzahl der neuen Logos täuscht allerdings, denn die meisten Anbieter sind Tochterunternehmen alter Staatsbahnen. Der Wettbewerb  auf den Gleisen ist noch überschaubar. Im Nahverkehr werden profitable Linien, zum Beispiel Ulm-Friedrichshafen oder Stuttgart-Karlsruhe, oft gar nicht erst ausgeschrieben, sondern direkt an die Deutsche Bahn vergeben – die wohl nicht zufällig im Regionalverkehr ihre größten Gewinne einfährt. Wenigstens wird das Ländle mit seinen Nachbarn verbunden: Das Baden-Württemberg-Ticket gilt auch bis Basel und weit nach Bayern. Keine Selbstverständlichkeit! Dem Normalfall europäischer Koordination entspricht eher das Beispiel Thayatal-Bahn: Die Tschechen bauen mit EU-Geld die Strecke bis zur Grenze aus – die Österreicher reißen auf ihrer Seite die Gleise weg.

Und was ist mit dem freien Netz? Die Platzhirsche monopolisieren nach wie vor trickreich Gleise, Stromleitungen und Bahnhöfe. Die Deutsche Bahn zum Beispiel lässt einen Intercity am Tag bis Tübingen fahren. Der ist zwar langsamer als die zuschlagfreien RE-Züge, aber um die Fahrgäste geht es gar nicht: In einem „hochwertigen“ IC-Bahnhof kostet jeder (!) Zughalt ein paar Euro mehr. So läppern sich im Jahr 400.000 Euro für Nichts zusammen. Da der Nahverkehr vom Land bezahlt wird, ist das aber bloß Steuergeld. Schlimmer ist, dass die DB Netz AG zur Aufhübschung der Bilanz „überflüssige“ Gleise abbaut. Damit verschwinden Anschlüsse, Ausweichstellen, Platz für Sonderzüge – und Chancen für etwaige Konkurrenten.

Österreichischer Zug im Bahnhof Mezzocorona, Italien
Österreichischer Zug im Bahnhof Mezzocorona, Italien

Trotz aller Schwierigkeiten haben aber in den letzten Jahren Güter- und Nahverkehr auf den Schienen enorm zugelegt. Selbst im vertrackten Fernverkehr sind positive Überraschungen nicht ausgeschlossen: Zur allgemeinen Verblüffung nehmen DB und ÖBB in Italien das EU-Recht auf „offenen Zugang“ wahr und reanimieren Personenzüge über den Brenner. Die Trenitalia-Bahnhöfe schweigen die deutsch-österreichischen Eurocitys zwar tot und verkaufen auch keine Fahrkarten dafür – aber es geht wieder ohne Umsteigen von München nach Südtirol. Seit September kreuzen sogar russische Waggons durch Italien, seit langer Zeit der erste durchgehende Zug entlang der Riviera. Ein De-Luxe-Abteil Moskau-Nizza für 1.200 Euro ist vielleicht nicht allgemein erschwinglich. Dass Schlafwagen eine Alternative zum Privatjet sein können, ist aber wahrscheinlich eine gute Nachricht für die Bahn.


Dänischer Zug im Hauptbahnhof Hamburg
Ein dänischer Zug hat es über die Vogelfluglinie bis nach Hamburg, Deutschland, geschafft.

Schnelle Züge, langsame Bürokratie

Eine gemeinsame europäische Verkehrpolitik wird schon seit 1955 geplant, startete aber erst 1992 mit dem Vertrag von Maastricht. Nach dem Vorbild des Luftverkehrs versuchen die Eurokraten, den vergleichsweise sicheren und energieeffizienten Schienenverkehr durch Liberalisiserung attraktiver und gleichzeitig billiger zu machen. Gegen zähen Widerstand, besonders der alten Staatsbahnen und ihrer Hausgewerkschaften, erzwingen sie Wettbewerb, transparentere Finanzierung und einheitliche technische Normen.

Für das Transeuropäische Verkehrsnetz TEN-V werden 30 vorrangige Projekte ausgebaut, vor allem Bahn-Magistralen. Bislang passen die nationalen Beiträge jedoch kaum zusammen. Beispielsweise soll im „Korridor Nr.1“, Berlin-Palermo, der Brenner-Basistunnel eine flache Güterbahn durch die Alpen schaffen – die deutschen und italienischen Zufahrten werden aber für schnelle Personenzüge hergerichtet.

In Deutschland wurden die EU-Vorgaben durch die Bahnreform von 1994 umgesetzt. Die Deutsche Bahn wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, ist allerdings weiter vollständig in Bundesbesitz. Der Konzern wurde aufgegliedert: DB-Fernverkehr betreibt die ICE- und IC-Flotte, DB-Regio ist für den Nahverkehr zuständig, DB Schenker Rail für Güter. Überwacht von der Bundesnetzagentur soll DB Netz unparteiisch allen Bewerbern die Bahninfrastruktur zugänglich machen und die Fahrgeld-Einnahmen aufteilen.

In der Praxis hat die Deutsche Bahn im Inland immer noch einen Marktanteil von über 75 Prozent und fährt mit Trassen- und Bahnhofsgebühren satte Monopolgewinne ein. Genutzt werden die Profite vor allem dazu, die DB durch die Übernahme ausländischer Firmen zu einem internationalen Logistik-Konzern zu machen. Laut „Bahn-Report“ wurden dazu seit 2005 rund 1 Milliarde Euro aus Deutschland abgezogen. Seit 1990 schrumpfte das deutsche Schienennetz um mehr als 17 Prozent; nur Polen hat noch mehr Gleise stillgelegt.

Selbst ein unvollkommener Wettbewerb ist aber besser als gar keiner. Besonders im Güterverkehr versuchen neue Anbieter ihr Glück. Die MRCE-Dispoloks zum Beispiel werden vom japanischen Mitsui-Konzern vermietet. Im Nahverkehr wurden viele Strecken wiederbelebt, und die Fahrgastzahl wuchs im letzten Jahrzehnt um 50 Prozent. Seit 1. Januar 2010 ist in Europa auch der Personen-Fernverkehr liberalisiert. Nächstes Jahr wollen tatsächlich mehrere neue Bahn-Unternehmen an den Start gehen.

Martin Ebner


N.B. (08.05.2014):
Von Kärnten nach Italien fahren mittlerweile auf der Linie Villach – Udine tatsächlich wieder ein paar Züge, parallel zum Alpe-Adria-Radweg.

N.B. (28.12.2014):
Wieso werden Bahnlinien gebaut, auf denen dann keine Züge fahren? Zitat aus einer Broschüre gegen den Brenner-Basistunnel: „…nach der Aufdeckung von ‚Tangentopoli‘ Anfang der 90er Jahre musste ein neues Modell gefunden werden, um öffentliche Gelder zwischen den einzelnen Interessensgruppen aufzuteilen: So kam es, dass die ‚großen Bauwerke‘ die alten Schmiergeldzahlungen ersetzten.“ Ist wohl nicht nur in Italien so…


 


Foto: A night train from Tbilissi, Georgia, has reached Yerevan, Armenia. Rail traffic in Armenia came almost to a standstill, because most frontiers of Armenia are closed. Trajno el Tbiliso, Kartvelujo, venis al Erevano, Armenujo. Preskaŭ ne plu venas trajnoj tien, ĉar plejparte de la armenaj limoj estas fermitaj. Der Nachtzug aus Tiflis, Georgien, hat Eriwan erreicht. In Armenien gibt es kaum noch Bahnverkehr, weil die Grenzen zu den Nachbarländern weitgehend geschlossen sind und die Bahnlinien unterbrochen.

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