Train entering Split, Croatia

Eisenbahnen in Osteuropa: Schienen zum Schrottpreis

About: Mass motorization and death of railways in Eastern Europe
Pri: Morto de fervojoj en orienta Eŭropo
Published, Aperis: Stuttgarter Nachrichten (†), 15.02.2003


Bei den Nachbarn gehen die Bahnen ein, bei uns wachsen die Staus

Ost und West kommen einfach nicht zusammen. Und wenn doch, dann stehen sie im Stau. Früher stampften die Westler Autobahnen aus dem Boden; im kommunistischen Osten verordneten Planbürokraten Eisenbahnfahren. Heute versuchen die EU-Staaten mit Milliardenaufwand, ihre Schienen wiederzubeleben; die EU-Beitrittskandidaten bauen Schnellstraßen und lassen Gleise verrotten. Von Estland bis Bulgarien eifern Transportunternehmen mit rostigem Fuhrpark der Deutschen Bundesbahn des Jahres 1970 nach: Streckenstillegungen, Schuldenberge, Preiserhöhungen.

Entsprechend sehen die Prognosen für die EU-Osterweiterung aus: Bis 2015 soll der grenzüberschreitende Verkehr um bis zu 200 Prozent wachsen, vor allem auf der Straße. Muss das sein? Könnte man nicht den westlichen Umweltfimmel exportieren und die Ostbahnen in Schuss bringen, bevor die Autolawine alles niederwalzt? Oder wenigstens ein paar ICE-Linien über die Oder verlängern?

Theoretisch schon. In Wirklichkeit hatte die Eisenbahn nach der Wende keine Chance. Ein Lastwagen kann die Richtung ändern, wenn über Nacht die Wirtschaft umgekrempelt wird. Was aber soll ein Bahnbetrieb tun, der mit Kohle und anderen Massengütern nach Russland gondelte, wenn die Riesenkombinate eingehen? Und wenn die neu entstehenden, übers ganze Land verstreuten Kleinfirmen wollen, dass empfindliche Autoteile nach Deutschland gebracht werden, und zwar „just in time“?

Bahnhof Svitavy, Tschechien
Bahnhof Svitavy, Tschechien

Im Personenverkehr das gleiche Elend: veraltete Staatsbahnen können nichts ausrichten gegen die glitzernden Autohäuser, die eiligst überall hingeklotzt wurden. Nicht einmal gegen Schrottwagen aus dem Westen. Im Zeitraffer holt Osteuropa die Massenmotorisierung nach. Zwar besitzen von 1000 Einwohnern in Ungarn nur 238 und in Polen erst 267 ein Auto, während es in Deutschland 539 sind. In Slowenien sind es aber schon 444.

Noch ist in Osteuropa die „Autobahndichte“ sechs mal geringer als in der EU, die Dichte des Eisenbahnnetzes um ein Viertel größer. Rasant ist aber die Angleichung: Seit 1990 wurde in den Beitrittsländern die Länge der Autobahnen verdoppelt, der Bahnanteil am Verkehr hat sich halbiert. Loks und Wagen sind meist museumsreif. Vom tschechischen Budweis nach Linz brauchen Züge immer noch drei Stunden, gleich lang wie 1832 die Pferdeeisenbahn.

Bahnhof Ploče
Der Bahnhof Ploče in Kroatien ist Endpunkt einer Bahnlinie von Bosnien-Herzegowina

Zum Teufelskreis von Geldmangel und Kundenschwund kommt, dass der grenzüberschreitende Verkehr am meisten wächst. Aus Bahnsicht ist die Grenze das Ende der Welt. Als nationale Systeme haben sich die Bahnen über 100 Jahre mit unterschiedlichen Vorschriften und technischen Einrichtungen abgeschottet. Dass Albanien auch nach dem Jugoslawienkrieg lange nicht auf Schienen erreichbar war, lag aber nicht an schrulligen Bürokraten, die fremdelten: Zwölf Kilometer Gleis waren gestohlen worden. Diebstahl von Oberleitungen ist auch in Polen neuer Volkssport; Kupfer bringt einen guten Schrottpreis.

Die westlichen Bahnen haben ebenfalls nicht übertrieben flexibel auf die Öffnung des Eisernen Vorhangs reagiert. Ihre Fahrkarten sind für Osteuropäer bis heute unerschwinglich. Theoretisch könnten Züge mit Ostpersonal, das im Schnitt zehnmal weniger verdient, zu Ostpreisen über die Grenze fahren. Das konnte von den Gewerkschaften verhindert werden. Jetzt fahren die Ossis auf der Straße, am liebsten mit einem der Busse, die viele Städte direkt verbinden. Ein Erwachsener, der den „Plan&Spar“-Tarif der Bahn begreift, fährt von Stuttgart nach Warschau und zurück für 191,60 Euro. Mit dem Linienbus kostet das 90 Euro, mit Vielfahrerrabatt noch weniger, Abfahrt täglich.

Hauptbahnhof Sofia, Bulgarien
Ein Zug aus Belgrad hat den Hauptbahnhof Sofia, Bulgarien, erreicht.

Dabei hätte es nach dem Fall der Mauer anders kommen sollen. Politiker sprachen bei der Wiedervereinigung des Kontinents der Bahn eine Hauptrolle zu. Von den 400 Milliarden Euro, die bis 2010 für „Transeuropäische Netze“ ausgegeben werden sollen, sind 60 Prozent für Bahnen und 30 Prozent für Straßen vorgesehen. Im Kleingedruckten aber steht: zuerst werden die Straßen ausgebaut, die Bahn kommt später dran. Die Liberalisierung des Straßen- und Luftverkehrs hat einen Vorsprung von Jahrzehnten; das EU-Programm zur „Revitalisierung der Eisenbahn“ kommt nur zäh voran. Immerhin wird zur Vereinheitlichung der Signale geforscht. Nach zehn Jahren Verhandlungen wird man sich vielleicht einigen, welche Feuerlöscher in den Loks hängen dürfen: mit Schaum oder mit Pulver?

Vereinzelt gibt es bereits Hoffnungsschimmer: Der „Berlin-Warschau-Express“ bietet Sonderpreise. Die neue Taurus-Lok kann von Stuttgart nach Budapest durchfahren. Der IKEA-Zug, mit durchschnittlich 65 km/h seit Sommer 2002 als erster privater Güterzug flott unterwegs, soll bald auch nach Polen fahren. Das ermöglichen EU-Vorschriften zur Trennung von Netz und Bahnbetrieb. Ab 2006 sollen die Hauptbahnstrecken nach Osten ein Tempo von 160 km/h erlauben. Der Europäische Verband für Verkehr und Umwelt meint, Osteuropa könne von westlichen Fehlern lernen und zum Beispiel in der Raumplanung für Industriegebiete Schienenanschlüsse vorschreiben. Der Titel seiner neusten Studie: „Seid schlauer, macht es besser!“

Martin Ebner


 


Foto: Entry to Split station, Croatia; Eniro al Split, Kroatujo; Einfahrt nach Split, Kroatien

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