About: Ants
Pri: Formikoj
Published, Aperis: Südwestpresse, 12.11.2011
Ameisen betreiben Ackerbau und Viehzucht, sie führen Kriege und organisieren riesige Staaten. Nur langsam entschlüsseln Forscher ihre Geheimnisse.
Wer sagt denn, dass im Süden nichts funktioniert? Von Italien bis Portugal erstreckt sich über rund 6.000 Kilometer ein wohlgeordneter Staat; die Bewohner seiner miteinander verbundenen Metropolen sind nur wenige Millimeter groß, haben unzählige Kinder und schreien sich nie an. Dass die EU mit diesem Modell grenzüberschreitender Zusammenarbeit keine Werbung macht, liegt vielleicht daran, dass da keine Europäer wohnen: Es sind argentinische Ameisen, die wohl um l920 per Schiff eingewandert sind.
Laurent Keller von der Universität Lausanne hat vor zehn Jahren an der Mittelmeerküste die größte bislang bekannte Ameisenkolonie gefunden. Er vermutet, dass dieser Superstaat irgendwann auseinanderbrechen wird, weil die genetische Verwandtschaft der einzelnen Volksteile mit der Zeit abnimmt. Im Moment sei aber von Streiks oder Schuldenkrisen nichts zu sehen: „Auf einer sehr großen Fläche mit Abermilliarden Individuen gibt es überhaupt keine Aggressivität.“ Statt sich zu bekämpfen, pflegen die kleinen Sechsbeiner lieber ihre Brut.
Ameisenforscher sind zu beneiden! Schon wegen der ungeheuren Auswahl an Studienobjekten: über 12.500 Ameisenarten sind bekannt. Schätzungsweise 8.000 weitere sind noch zu entdecken. Wer mitsuchen will: Von anderen Hautflüglern, etwa Wespen oder Bienen, unterscheiden sich Ameisen durch das so genannte Stielchen, einer kleinen Ausbuchtung zwischen Vorder- und Hinterleib, sowie durch eine Drüse, die Antibiotika produziert.
Wie Menschen schlagen sich Ameisen überall auf der Welt durch. Manche Arten bauen meterhohe Wohntürme, andere Völker haben in einer einzigen Eichel Platz. Wüstenameisen finden zum Eingang ihres Nests zurück, weil sie ihre Schritte zählen können. Nicht nur in Sibirien bilden Ameisen ein körpereigenes Frostschutzmittel. Auf Borneo gibt es sogar eine Art, die schwimmen und tauchen kann, nämlich ausgerechnet in der Flüssigkeit der fleischfressenden Kannenpflanze. Wenn Ameisen ihren Lebensraum nicht mögen, krempeln sie ihn um: Die Hügel der Roten Waldameise sind Sonnenkollektoren, die Wärmestrahlen auch der tiefstehenden Sonne einfangen; die Brut steckt perfekt klimatisiert bis zu zwei Meter tief im Boden.
Wenn man bei uns im Wald alle Organismen einsammeln würde, wären drei Viertel der gesamten Biomasse Ameisen. Diesen erstaunlichen Evolutionserfolg erklärt der Würzburger Myrmekologe Bert Hölldobler mit der „eusozialen“ Lebensweise der Ameisen: Ein ganzes Volk, das vor allem durch einen bestimmten Nestgeruch zusammengehalten wird, handelt wie ein einziger „Superorganismus“. Die einzelnen Insekten sind dabei auf bestimmte Aufgaben spezialisiert: Die einen sind Babysitter, die anderen Bauarbeiterinnen oder Pförtnerinnen; Melkerinnen holen Honigtau von Blattläusen, die als Hausvieh gehalten werden; andere wiederum versprühen Pestizide in der staatseigenen Pilzzucht. Die Verständigung erfolgt wahrscheinlich über Duftstoffe, so genau weiß man das allerdings noch nicht.
In Monarchien und Diktaturen werden Ameisen gerne den Untertanen als Vorbild hingestellt. Sind die Tierchen, die bis zum 100fachen ihres eigenen Gewichts schleppen können, nicht ungeheuer emsig? Selbstlos verzichten sie auf ihr persönliches Wohl – der Staat ist alles! Schlaglöcher in der Ameisenstraße stopfen sie notfalls mit ihrem eigenen Körper. Wenn ihre Brut angegriffen wird, spritzen die tapferen Winzlinge Säure und verjagen selbst Braunbären. Arten, die wie die Rote Waldameise nur eine Königin pro Volk haben, führen im Frühjahr regelrechte Territorialkriege: Mehrere Tage lang greifen sich Armeen auf breiter Front an; die Soldatinnen beißen den Feinden Beine und Fühler ob oder strecken sie zu Tode.
Wohl nicht allen Anhängern tierischer Staatsformen ist bewusst, dass Ameisenhügel meist basisdemokratische Frauen-Wohngemeinschaften sind, in denen die Mehrheit bestimmt, was zu tun ist. Die „Königin“ ist bei vielen Arten nur eine Eierlegemaschine, die bei Bedarf hierhin oder dorthin geschleppt wird. Die Männchen werden bloß für die Begattung gebraucht und gehen gleich nach dem Hochzeitsflug ein. Königinnen können dagegen sehr alt werden – der in einem Schweizer Labor erreichte Rekord liegt bei knapp 29 Jahren. Wie schaffen die das? Die Forscher stochern noch im Dunkeln, denn Königinnen haben das gleiche Erbgut wie Arbeiterinnen, die meist schon nach zwei bis drei Jahren sterben.
Mit Fleiß und Harmonie ist es bei den Ameisen auch so eine Sache. Ein Drittel der rund 150 in Mitteleuropa heimischen Arten sind üble Sozialschmarotzer: Sie überfallen fremde Kolonien und versklaven sie. Amazonasameisen sind so auf Raub und Kampf spezialisiert, dass sie nicht einmal selbst fressen können, sondern sich von Sklaven füttern lassen müssen. Susanne Foitzik von der Universität Mainz hat jedoch entdeckt, dass die Verlierer durchaus Widerstand leisten und viel weniger Kinder großziehen, als sie es in ihrem eigenen Nest tun würden – bis zu 60 Prozent der Sklavenhalterbrut bringen sie einfach um.
In Ökosystemen spielen Ameisen oft eine Schlüsselrolle. Eine Kolonie Gelber Wiesenameisen zum Beispiel wälzt pro Jahr und Hektar bis zu sieben Tonnen Erde um, mehr als Regenwürmer. Waldameisen stehen schon seit 200 Jahren unter Schutz, weil sie nicht nur den Boden lockern und seine Wasseraufnahme verbessern, sondern auch Aas entsorgen und Unmengen Insekten vertilgen. Schneeglöckchen, Schöllkraut und über 130 weitere Pflanzenarten in Europa sind darauf angewiesen, dass Ameisen ihre Samen verbreiten.
Moorameisen und andere hoch spezialisierte Arten sind vom Aussterben bedroht, weil der Mensch ihre Lebensräume zerstört. Überdüngung, das Abholzen von Altbäumen oder die Beseitigung von Hecken stört jedoch nicht alle Ameisen: Forscher des Naturkundemuseums Karlsruhe haben herausgefunden, dass zwar die Vielfalt drastisch zurückgeht – dafür vermehren sich aber anpassungsfähige Arten, wie zum Beispiel die Argentinische, umso stärker. Wissenschaftler schätzen, dass alle Ameisen der Welt zusammen ungefähr gleich viel wiegen wie die Menschheit. Wer besser organisiert ist und länger auf der Erde überlebt, wird sich wohl noch zeigen.
Lieblinge hegen, Schädlinge vergraulen
Von Oktober bis März halten Ameisen Winterruhe, kuscheln sich aneinander und bewegen sich kaum. Trotz ihrer unaufgeregten Art werden die Hautflügler seit ein paar Jahren als Haustiere immer beliebter. Die stolzen Halter tauschen auf Internetseiten wie www.ameisenforum.de oder www.eusozial.de Erfahrungen aus.
Südamerikanische Blattschneider sind spektakulärer als schwäbische Wegameisen. Fachleute warnen jedoch: Hände weg von Exoten! Fremdländische Arten, die aus einem Formicarium ausbüchsen, haben bei uns meist keine natürlichen Feinde und können sich unkontrolliert vermehren. Oft bringen sie auch Milben oder andere Parasiten mit. Werden zum Beispiel mit Kübelpflanzen Gartenameisen aus der Schwarzmeer-Region eingeschleppt, können sie heimische Tiere und Pflanzen gefährden und enorme Schäden anrichten.
Wer gegen seinen Willen von Ameisen besucht wird, hat ein echtes Problem. Die berüchtigten Pharaoameisen etwa, die sich gerne in Kliniken und Großküchen breitmachen und Krankheiten übertragen können, haben so viele fruchtbare Königinnen, dass selbst Kammerjägern Tränen der Verzweiflung kommen. Maßnahmen wie das Verstreuen von starken Giften oder das Verbrennen von befallenen Kork-Teilen sind zwar wirksam, aber nicht immer praktikabel.
Ökologisch korrekt ist das Vergrämen, etwa mit Wermutjauche, Lavendel, Zitronenessig oder altem Kaffeesatz. Rat und Hilfe gibt es bei der Deutschen Ameisenschutzwarte, die sich für ein friedliches Zusammenleben von Mensch und Insekt einsetzt: www.ameisenschutzwarte.de Auf jeden Fall empfiehlt es sich, Ameisen nicht unnötig in die Wohnung zu locken: Keine Nahrungsreste und Süßigkeiten herumliegen lassen. Einzelne Späher sollte man hinauskomplimentieren, bevor sie ihr ganzes Volk nachholen.
Martin Ebner
Infos (last update: 05.05.2014):
- Biologen der Universität Ulm haben eine große Datenbank zu Ameisen aufgebaut: www.antbase.net
- Die in Baden-Württemberg heimischen Arten, zum Beispiel die Rote Waldameise (Formica rufa), sind auch hier zu finden: www.ameisen-net.de
- Von Bert Hölldobler ist im Springer Verlag das Buch „Blattschneiderameisen – der perfekte Superorganismus“ erschienen.
- Zusammen mit Wolfgang Thaler hat Hölldobler den beeindruckenden ORF-Film „Ameisen – die heimliche Weltmacht“ gedreht.
Foto: Ants in the Italian Alps near Fai della Paganella. Formikoj en la Dolomitoj, Italujo. Ameisen in den italienischen Dolomiten