Bagger in Bohlingen

Flächenfraß: Noch sind die Wiesen nicht verloren

About: Environmentalists and scientists have long warned of the unchecked loss of land due to new housing developments, roads and industry. What can be done to stop the destruction of the landscape?
Pri: Ekologiistoj kaj sciencistoj longe avertis pri la perdo de tero al novaj domoj, vojoj kaj industrio. Kion fari por ĉesigi la detruon de la pejzaĝo?
Published, Aperis: Südwestpresse, 11.03.2023


Naturschützer und Wissenschaftler warnen seit langem vor dem ungebremsten Flächenfraß durch Neubaugebiete, Straßen und Industrie. Was tun gegen die Zerstörung der Landschaft?

An der Autobahn nach Stuttgart werden riesige Stahlblechhallen in die besten Äcker geklotzt; rund um die Schwäbische Alb winken Landratsämter die Rodung von prächtigen Obstbäumen durch; der neue „Regionalplan Bodensee-Oberschwaben“ will auf einen Schlag 3.000 Hektar Wiesen verschandeln – Gerhard Bronner hätte sich einen schöneren Jahresanfang vorstellen können. Eigentlich ist sein ganzes Leben ein Rückzugsgefecht: Schon fast ein halbes Jahrhundert streitet er für die Bewahrung einer liebenswerten Landschaft. Seine Kämpfe gegen Bürokraten und Investoren sind zäh, Siege selten, Errungenschaften ständig bedroht. Dafür ist Bronner an diesem Samstag [07.01.2023] erstaunlich gut gelaunt. Weinen würde auch kaum helfen. Außerdem ist Radolfzell für ihn ein Heimspiel: Die Naturschutztage, jeden Januar in der Bodensee-Stadt, gelten als das größte deutschsprachige Treffen von Umwelt-Aktivisten.

„Die deutsche Landschaft stirbt“, mit diesem Titel hatte vor 40 Jahren ein Bestseller den Nerv der Zeit getroffen: „Zerschnitten, Zersiedelt, Zerstört. Deutschland wird hässlich. Schade, dass Beton nicht brennt.“ Kurz vorher waren damals die Naturschutztage gestartet, zunächst als Kurs für Vogelkundler, bald darauf auch eine Kleinpartei namens Die Grünen. -Seither haben der in Radolfzell gegründete Bund für Umwelt und Naturschutz und der im gleichen Biotop gedeihende Naturschutzbund stark an Zulauf gewonnen: BUND und NABU haben mittlerweile deutschlandweit mehr als doppelt so viele Mitglieder wie die ehemaligen Volksparteien SPD und CDU.

Wie zu Klimawandel und Artensterben wurden auch zur Verunstaltung von Feld und Flur schon ganze Bibliotheken geschrieben: Ursachen, Auswirkungen, Abhilfen – seit Jahrzehnten praktisch nichts Neues. Bloß die Praxis ändert sich nicht. Die Beton-Orgie geht weiter: Die zwei Generationen von 1967 bis heute haben gleich viel Land zugebaut wie die 80 Generationen vor ihnen, also seit dem Jahr 0.

„Es ist nicht hoffnungslos“, ist Gerhard Bronner unverdrossen: „Der Landschaftsverbrauch war schon schlimmer – und konnte gebremst werden. Seit ein paar Jahren nimmt er aber wieder zu.“ Bronner ist Umweltbeauftragter in Donaueschingen und Vorsitzender des Landesnaturschutzverbands in Stuttgart. Meist verhandelt er mit Politikern und Behörden. Heute kann Bronner seine Folien bei graubärtigen Öko-Veteranen und zappeliger Klima-Jugend testen, Landfrauen und Wissenschaftlern, Förstern, Funktionären, Abwassertechnikern, Vogelguckern. Nach der Corona-Zwangspause sind heuer wieder rund 1.000 Naturschützer nach Radolfzell gekommen.

Die Grafik zu „Donut-Siedlungen“ kommt bei dem bunt gemischten Publikum gut an: Im Dorfkern verfallen ehemalige Bauernhäuser; rund um das leere Loch wuchern neue Einfamilienhäuser ins Umland. Drinnen so hässlich wie unwirtlich draußen, mit Bus und Bahn nicht zu bedienen, für das Sozialleben so förderlich wie die Wüste. „Donuts müssen wieder zu Krapfen werden!“ ruft Bronner.

Die Umweltverbände wollen sich in diesem Jahr besonders den Flächenfraß vorknöpfen. In Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und für die Bundesregierung ist es „den Grünen gelungen, in die Koalitionsverträge ‚Flächensparziele‘ hineinzuverhandeln“, erläutert Bronner: „In Baden-Württemberg zum Beispiel soll der Flächenverbrauch von heute 6 Hektar pro Tag bis 2035 auf Netto-Null verringert werden. Das muss jetzt in Gesetze gegossen werden.“ Gerade werden neue „Flächennutzungspläne“ und „Landesentwicklungspläne“ (LEP) ausgearbeitet, wenn nicht gar „Landesraumentwicklungsprogramme“ (LEPro). Diese staatliche „Raumordnung“ ist zwar oft nur bloße Theorie – aber wenn die Wiese am Ortsrand jetzt nicht auf dem Papier gesichert wird, ist sie praktisch schon tot.

Bronner stellt eine ganze Liste von „Instrumenten“ vor, die helfen können: etwa „Große Parkplätze nur noch mehrstöckig“, „Strengerer Schutz für gute Ackerböden“ oder „Handel mit Flächenzertifikaten“. Manche werden sogar bereits eingesetzt: „Die Erhöhung der Grundsteuer haben wir jahrelang gefordert – das kommt jetzt.“ Populärer, wenn auch weniger realistisch ist vielleicht Bronners Vorschlag, im Gegenzug die Steuer beim Grundstück-Handel abzuschaffen: „Die Grunderwerbssteuer und Bürokratie schrecken viele Eigentümer ab, leerstehende Wohnungen oder Baulücken zu verkaufen.“ Am wichtigsten sei aber die Bewusstseinsbildung. „Für Kommunalpolitiker sind neue Wohn- und Gewerbegebiete immer noch ein Nachweis für Tatkraft und Dynamik“, sagt Bronner. „Ich habe gelernt, dass sogar die Besoldungsstruktur der Bürgermeister eine Rolle für die Zersiedelung spielt.“ Jeder will Großstadt werden, mit mehr als 100.000 Einwohnern.

Die bereits bestehenden Großstädte sind recht sparsam, wohl weniger aus Einsicht als wegen der hohen Grundstückpreise: Von Berlin bis Düsseldorf, von Hamburg bis München – in den Metropolen wird pro Jahr und Einwohner weniger als 1 Quadratmeter Boden „verbraucht“. Dort gibt es ja auch kaum noch Freiland. Viele Kleinstädte bemühen sich ebenfalls um flächensparende Verdichtung. Im Großteil des „ländlichen Raums“ aber planen und bauen kleine Kommunen als ob es kein Morgen gäbe: In Gegenden wie dem Vogtland, der Oberpfalz oder Oberschwaben gibt es Gemeinden, die sich pro Kopf und Jahr im Schnitt mehr als 30 Quadratmeter neue Siedlungs- und Verkehrsfläche zulegen.

Ob die Neubaugebiete auf der grünen Wiese jemals ihre Kosten einspielen werden? „Rechnen kann da keiner“, meint Stefan Flaig. Der Kommunalberater und BUND-Aktivist hat herausgefunden, dass sogar mitten in der Wachstumsregion Stuttgart fast 6 Prozent der Wohnhäuser leerstehen und bei weiteren 10 Prozent der jüngste Bewohner über 70 Jahre alt ist. Nötig seien altersgerechte Unterkünfte und bezahlbare Mietwohnungen in den Ortszentren – ganz bestimmt aber keine neuen Einfamilienhäuser in der Pampa. „Der demographische Wandel ist unausweichlich, daran ändern auch Zuwanderer und Flüchtlinge nichts“, ist Flaig überzeugt: „Die leerstehenden Häuser werden irgendwann auf den Markt kommen müssen. In Bayern und Ostdeutschland gibt es heute schon kleine Weiler, wo Erben ihre unverkäuflichen Häuser ausschlagen und der Gemeinde überlassen – das wird zunehmen.“

Zersiedelung steht jedenfalls nicht in einem direkten Zusammenhang mit der Entwicklung von Bevölkerung und Wirtschaft. Suhl im Thüringer Wald zum Beispiel hat seit der Wende mehr als ein Drittel seiner Einwohner verloren, der deutsche Schrumpf-Rekord. Gleichzeitig hat sich das Städtchen mit zuletzt noch 36.000 Seelen eine „Flächenneuinanspruchnahme“ von durchschnittlich 30,6 Hektar pro Jahr geleistet. Das boomende Tübingen kam dagegen mit 16,6 Hektar aus, in einzelnen Jahren mit nur 1 Hektar. Die derzeit 92.000 Einwohner der schwäbischen Universitätsstadt schonen ihr Umland, obwohl das Cyber Valley und andere Arbeitgeber pro Jahr rund 1.000 Zuzügler anlocken.

Das Beispiel Tübingen fasziniert die Öko-Szene: Der grüne Oberbürgermeister Boris Palmer hat bei seinem Amtsantritt kurzerhand alle Neubauprojekte gestoppt. Das lässt vermuten, dass Kommunalpolitiker durchaus Handlungsspielraum haben, wenn sie wollen. Mit der Umwandlung von ehemaligen Kasernen in gemischte Wohn- und Gewerbegebiete will Tübingen sich von der modernen Stadtplanung verabschieden: Die Trennung von Arbeit und Wohnen hatte seit den 1950er Jahren zu öden Stadtzentren, öden Plattenbauten am Stadtrand und viel Verkehr geführt – und riesigem Flächenverbrauch.

Eine eigene „Wohnraumbeauftragte“ bietet jetzt in Tübingen Beratung zu Fördermitteln, erfasst erstmals genauere Daten zu Bedarf und Potentialen, spürt illegale Feriendomizile auf. Der Umzug von Senioren in kleinere, barrierefreie Wohnungen wird unterstützt, damit sie ihre halbleeren Häuser jungen Familien überlassen können. Allerdings hat Tübingen, wie nur wenige andere deutsche Kommunen, offiziell den Status eines „Wohnraum-Mangelgebiets“. Das ermöglicht der Stadt, härter gegen Leerstand und Zweckentfremdung von Häusern vorzugehen. Applaus für Tübingen!

Bereits bebaute Flächen besser nutzen, da sind sich im Saal alle einig. Aber welcher Zustand von Freiland und Wald soll eigentlich bewahrt werden? Gerhard Bronner redet gern von „Heimat“ und „Verlusterfahrung“ und erinnert sich an die bunt blühenden Heuwiesen seiner Kindheit: „Die Artenvielfalt war bei uns um 1950 am größten, davon wollen wir den wesentlichen Teil erhalten.“ Sein Ideal ist die altehrwürdige Kulturlandschaft. „Käseglocke!“ mault dagegen ein Wissenschaftler aus dem Publikum: Er will nicht glauben, dass die Natur in unseren Breiten von allein nur vergleichsweise karge Buchenwälder hervorbringt; denkbar wären auch Wildnis und „Großtiere“, die durch lichte Savannen streifen. Die schwäbischen Landfrauen denken das eher nicht.

Viel Gegrummel gibt es auch zu der Frage, wo jetzt all die neuen Windräder, Solar-Anlagen und Stromleitungen für die Energiewende hingestellt werden sollen. Müssen Naturschutzgebiete für den Klimaschutz geopfert werden? Der BUND hat sich vom Öko-Institut Freiburg ausrechnen lassen, dass in Baden-Württemberg ungefähr 3 Prozent der Landesfläche benötigt werden, wenn die Versorgung mit Strom und Wärme „100 Prozent klimaneutral“ werden soll. Je nach Szenario müsse zum Beispiel die Zahl der Windräder im Ländle von heute 800 auf über 5.000 erhöht werden. Die dafür besonders geeignete Region Nordschwarzwald würde das bis zu 6,7 Prozent ihrer Fläche kosten, was aber „naturverträglich machbar“ sei. -Falls die Naturschützer vor Ort mitmachen.

Zum traditionellen Arsenal der Umweltbewegung gehört das Demonstrieren. Das wird in Radolfzell vor dem Konferenzzentrum geübt. Die Organisatoren haben dafür eine Baumaschine gemietet und vor die Tür gestellt. Ihre Regie-Idee: „Die Aktivisten fordern lautstark ‚Wiesen und Wald statt Asphalt‘ und stellen sich symbolisch einem Bagger entgegen.“ Die Beschützer-Instinkte sind dann aber stärker: Als Bienen, Schmetterlinge und andere Tiere verkleidete Ökos scharen sich mit Papp-Bäumen und Transparenten rund um das Baugerät. Der kleine Bagger kann ja auch gar nichts dafür. Er könnte auch Froschteiche graben oder Korridore für Wildkatzen anlegen.

Naturschutztage Radolfzell 2023
Naturschutztage Radolfzell 2023, mit Kleinbagger

Das Auge leidet mit

Mein Haus, meine Garage, meine Straße sind nur klein: Ich bin nicht schuld am Flächenverbrauch! Es sind die anderen, die einfach nicht aufhören.

Wohnwürfel, Carports, Supermärkte und Logistikzentren, Maisäcker, Windräder oder Funkmasten – die Erde kann vieles ertragen. Aber selten gleichzeitig: der Konkurrenzkampf um Flächen wird immer härter. In Deutschland werden derzeit pro Tag im Schnitt fast 58 Hektar Boden „verbraucht“. Das heißt, Tag für Tag wird eine weitere Fläche von 82 Fußballplätzen so umgemodelt, dass sie in der Statistik als neue „Siedlungs- und Verkehrsfläche“ gezählt wird. Das sind fast 7 Quadratmeter pro Sekunde. Der Hauptverlierer ist dabei die Landwirtschaft, die heute noch ungefähr die Hälfte des gesamten Landes nutzt. Die Wälder, die momentan 30 Prozent Deutschlands bedecken, werden dagegen geringfügig größer.

Direkt durch Gebäude, indirekt durch Erschließungsstraßen für Neubaugebiete: rund 90 Prozent des Flächenverbrauchs werden durch neue Siedlungsflächen verursacht. Erstaunlich viel Platz fressen auch sogenannte „Automobile“, die zumeist stabil irgendwo herumstehen. Ein tüchtiger Fußgänger kommt in fünf Minuten rund um 1 Hektar. Deutsche Raumplaner und Bagger brauchen bei ihrem aktuellen Tempo rein rechnerisch nur 28 Minuten, um 1 Hektar fruchtbaren Boden weitgehend zu entwerten für die Natur, für die Land- und Forstwirtschaft. Was dazwischen an Freiraum übrig bleibt, wird in der Freizeit übernutzt und niedergetrampelt. Für Instagram-Fotos mit grünem Hintergrund fliegen wir nach Irland?

In den letzten 60 Jahren wurde die Fläche für Wohnbau, Industrie und Gewerbe, öffentliche Einrichtungen, Sport und Verkehr mehr als verdoppelt, auf nun bereits mehr als 14 Prozent von Deutschland. Das entspricht der Größe des ganzen Saarlands – plus Bremen, plus Hamburg, plus Schleswig-Holstein, plus Thüringen, plus Berlin. Diese „Siedlungs- und Verkehrsfläche“ ist nicht völlig zubetoniert und versiegelt, sondern ungefähr zur Hälfte. Golfplätze und Friedhöfe zum Beispiel, die auch zum Siedlungsgebiet zählen, können Tieren und Pflanzen durchaus Zuflucht bieten. Andererseits sind die „Naturschutzgebiete“, auf dem Papier 6,4 Prozent von Deutschland, nur selten wirklich ungestört.

Der bisherige Negativrekord wurde im Jahr 2004 verzeichnet: 131 Hektar pro Tag. Danach ging der Flächenverbrauch zurück und sank bis 2019 auf 45 Hektar. Seither steigt er jedoch wieder. Ein Grund dafür ist, dass die „Flüchtlingskrise“ zum Anlass, beziehungsweise Vorwand genommen wurde, das Baurecht aufzuweichen.

Im Baugesetzbuch sollte § 13 eigentlich dafür sorgen, dass bevorzugt innerorts gebaut und „verdichtet“ wird, damit außerorts das noch freie Land verschont bleibt. Dieser Paragraph wurde trickreich ergänzt: Zur Linderung der Wohnungsnot wurde den Kommunen befristet bis Ende 2021 „kleinflächige Siedlungsabrundung im Außenbereich“ gestattet – im „beschleunigten Verfahren“, das heißt vereinfacht, ohne Umweltprüfung und praktisch ohne Kontrolle durch übergeordnete Instanzen oder Öffentlichkeit. Viele Gemeinden nutzten diese Gelegenheit, um schnell im großen Stil neue Viertel für Einfamilienhäuser auszuweisen. Übrigens salbadert die Einleitung des Baugesetzbuches schon seit 1987: „Mit Grund und Boden soll sparsam und schonend umgegangen werden.“

Ein Trauma war § 13b BauGB besonders für Umweltschützer in Baden-Württemberg: Obwohl knorrige Obstbäume mit hohen Stämmen unrentabler sind als niedrige, staatlich geförderte Monokultur-Plantagen, haben sich im Südwesten noch 110.000 Hektar Streuobstwiesen erhalten – die größten Bestände Europas. Mehr als 7 Millionen Obstbäume sind mit ihren großen Kronen nicht nur im Frühjahr eine Augenweide. Sie beherbergen bedrohte Geschöpfe wie Wendehälse oder Fledermäuse – über 5.000 Tier-, Pflanzen- und Pilzarten. Diese Grüngürtel um alte Ortschaften fallen jetzt als Erste der „Siedlungsabrundung“ zum Opfer. Dabei ist der strenge Schutz von Streuobstwiesen eigentlich ein Hauptversprechen des Gesetzes zur Stärkung der Biodiversität, das in Baden-Württemberg vor kurzem verabschiedet wurde, weil Chemie- und Agrarindustrie drauf und dran waren, eine Volksabstimmung zur „Rettung der Bienen“ zu verlieren.

Die deutsche Bundesregierung hatte anno 2008 angekündigt, bis 2020 den Flächenverbrauch auf unter 30 Hektar pro Tag zu verringern. Mittlerweile verschiebt eine „weiterentwickelte Nachhaltigkeitsstrategie“ dieses Ziel auf 2030. Vielleicht beschleunigt der Ukraine-Krieg das Umdenken, weil man sich nun weniger auf Lebensmittel aus dem Ausland verlassen will. Vielleicht auch nicht. Zersiedlung wuchert unaufhaltsam wie Staatsschulden: Als „Erfolg“ gilt nicht die Lösung des Problems, sondern die Begrenzung des Zuwachses. Der schleichende Flächenfraß ist ja auch heimtückisch: So lange noch Wiesen und Äcker zu sehen sind, wird er nicht ernst genommen. Wenn der Verlust des Bodens bemerkt wird, ist es zu spät.

Martin Ebner

Neubaugebiet im Bodensee-Hinterland
Neubaugebiet bei Radolfzell

100 Meter lang, 100 Meter breit:
der Hektar ist das Maß aller Dinge

Um Flächen anschaulich zu machen, sind drei Vergleichsgrößen beliebt. Ein Fußballfeld: rund 7.000 Quadratmeter = 0,7 Hektar. Gerne wird auch der Bodensee genommen: je nach Wasserstand ungefähr 536 Quadratkilometer = 53.600 Hektar. Wenn ein Waldbrand oder Ölteppich wirklich schlimm ist, muss oft die „Größe des Saarlands“herhalten: 2.570Quadratkilometer = 257.000 Hektar. Ganz Deutschland ist einschließlich Wasserflächen rund 35,8 Millionen Hektar groß.


Verteidiger der sterbenden Schönheit

Industrie, Verkehr und Verstädterung krempeln die Welt um. Sie schaffen aber auch Wohlstand, der es erlaubt, die Zerstörung der Umwelt zu beklagen und für den Erhalt von Idylle-Resten zu kämpfen. In England wurde schon 1895 der National Trust gegründet. Diese Stiftung, die Baudenkmäler und Naturschätze mit Spendengeldern aufkauft, ist heute Englands größter Grundbesitzer: Sie bewahrt bereits auf mehr als 250.000 Hektar „Natur, Schönheit und Geschichte“; auf fast 10 Prozent der Küstenlinie verhindert sie eine Bebauung.

Dem englischen Vorbild folgen seither viele Länder, bei der Verhunzung der Landschaft ebenso wie bei Rettungsversuchen und Trauerarbeit. Der Schweizer Heimatschutz zum Beispiel trommelt seit 1905 für die Pflege historischer Orte und Fluren. Raumplanung, öffentlicher Verkehr und sozialer Wohnungsbau der Eidgenossen werden weltweit bewundert. Das ändert allerdings nichts daran, dass die einst liebliche Schweiz neben Saudi-Arabien und China den höchsten Beton-Verbrauch pro Kopf hat; besonders das Mittelland vom Bodensee bis Genf ist ein einziger Häuserbrei.

Die „Schönheit Italiens verteidigen“ will der 1975 gegründete Fondo per l’Ambiente Italiano an immerhin schon 70 Küstenabschnitten und anderen „außergewöhnlichen Orten“. Vor allem im Norden vermachen dieser Stiftung Adelsfamilien ihre Villen und Schlösser, zum Teil mit ausgedehnten Gärten und Parks. Dass auch eine von Bauern über Generationen geschaffene Kulturlandschaft ein erhaltenswertes Gesamtkunstwerk sein kann, spricht sich dagegen nur langsam herum – am ehesten bei berühmten UNESCO-Welterbestätten wie den Cinque Terre oder den Prosecco-Hügeln.

In Deutschland werkeln Denkmal- und Naturfreunde meist getrennt, zuweilen sogar gegeneinander. Während der Nazi-Zeit hatte der antisemitische und auch sonst dubiose Bund Heimatschutz tatkräftig mitgeholfen, den Begriff „Heimat“ derart zu diskreditieren, dass er sich bis heute nur langsam erholt. Die Nachfolgeorganisation Bund Heimat und Umwelt ist ein reiner Dachverband für andere Vereine und fliegt unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit. Munterer sind seine einzelnen Mitglieder, etwa der Schwäbische Heimatbund, der Bayerische Landesverein für Heimatpflege und der Verein Brandenburg 21.

Die vom Bundesamt für Naturschutz herausgegebene Zeitschrift „Natur und Landschaft“ veröffentlicht alle zwei Jahre eine Sonderausgabe, in der die wichtigsten deutschen Institutionen und Initiativen für Umwelt- und Landschaftsschutz vorgestellt werden. Dieses Verzeichnis ist gratis zu haben: www.natur-und-landschaft.de

Weniger ist mehr! Das Umweltbundesamt hat ein „Informationsportal für kommunales Flächensparen“ eingerichtet. Es bietet zum Beispiel einen „Flächenrechner“, der für jede deutsche Gemeinde den Landschaftsverbrauch anzeigt: www.aktion-flaeche.de


N.B. (29.12.2024):
Der Volksantrag „Ländle leben lassen“, der in Baden-Württemberg verbindliche Obergrenzen für den Neuverbrauch an Flächen vorschreiben wollte, brachte mehr als 50.000 Unterschriften zusammen – wurde aber am 17.7.2024 vom Landtag in Stuttgart mit großer Mehrheit abgelehnt.

Siehe auch:
Landschaftsschutz: Zerschneidungskoeffizient
Zersiedelung der Bodensee-Landschaft


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Foto: Excavator in a new housing area near Radolfzell, Germany. Elkavatoro apud Radolfzell, Germanujo. Bagger-Pause im Bodensee-Hinterland, Deutschland.

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Texts of timeless beauty. Or at least some historical interest.