Old German accounting book

Bürgerhaushalte: Woher nehmen, wohin geben?

About: Participatory budgeting for cities and communities
Pri: Civitanoj devus partopreni en publika buĝetado
Published, Aperis: Südwestpresse, 04.12.2012


Bürgerhaushalte sollen Städten und Gemeinden aus der Misere helfen. Wenn die Bevölkerung an der Aufstellung und Kontrolle kommunaler Haushalte beteiligt wird, kann das die Politikverdrossenheit verringern, die Verwaltung verbessern und Einsparungen verträglicher machen.
 
In Finanzkrisen zahlt man nicht nur viel Lehrgeld, man lernt auch viel. Die Pforzheimer zum Beispiel wissen jetzt, was Swaps sind. In Zusammenarbeit mit einer großen deutschen Bank haben nämlich die vormaligen Stadtmütter in derartige Anlagepapiere investiert – und sämtliche Rücklagen Pforzheims verzockt. Bei den Aufräumarbeiten wollen die Bürger anpacken. In den Rat der hochverschuldeten Schmuckstadt wählten sie schon zum zweiten Mal einen Vertreter der neuen „Liste Bürgerbeteiligungshaushalt“. Ähnliche Ansätze gibt es von Heidelberg über Schorndorf bis Trossingen in elf weiteren Orten Baden-Württembergs: Die öffentlichen Gelder sollen nicht mehr nur einer Handvoll mehr oder auch weniger fähiger Fachleute überlassen bleiben.
 
Erfunden wurde der „Teilnehmer-Haushalt“ in der brasilianischen Millionenstadt Porto Alegre. Als dort 1989 die Arbeiterpartei PT an die Macht kam, wollte sie eigentlich Revolution. Da aber gerade der Ostblock zerbröselte, nahmen die Sozialisten vom sowjetischen Modell Abstand und entwickelten ein eigenes: In Versammlungen machen Bürger Vorschläge und stimmen über die Prioritäten des Stadtbudgets ab, danach hat der Stadtrat das letzte, rechtlich verbindliche Wort. Das Paradies der Werktätigen kam so zwar nicht zustande, aber doch beachtlicher Erfolg bei der Bekämpfung von Korruption und Misswirtschaft, sagt der Politikwissenschaftler Carsten Herzberg: „Wo früher Elendsviertel wucherten, gibt es heute Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, Müllentsorgung und Kanalisation.“
 
Von Porto Alegre aus verbreitete sich die Idee, der Bevölkerung bei kommunalen Einnahmen und Ausgaben zu Durchblick und Mitsprache zu verhelfen, in alle Welt. Mitgeholfen hat dabei der Stuttgarter Verein KATE, der zwei brasilianische Aktivisten durch Deutschland touren ließ und ein Handbuch herausgab. Von Bürgerbeteiligung schwärmen nun Globalisierungskritiker ebenso wie Verwaltungswissenschaftler, die Weltbank wie die Bonner Bundeszentrale für politische Bildung. In der Praxis sind Bürgerhaushalte jedoch höchst unterschiedlich gestaltet. Schließlich sind auch die Spielräume der Kommunen sehr verschieden: Die holländische Stadt Utrecht gibt pro Jahr und Einwohner über 5.000 Euro aus, der Bezirk Paris XX. nur 42 Euro.
 
Damit das Modewort nicht zur leeren Hülse verkommt, schlagen Carsten Herzberg und andere Forscher Kriterien für einen „echten“ Bürgerhaushalt vor: Die Diskussion soll explizit finanzielle Angelegenheiten betreffen, und zwar auf einer Ebene mit eigenem Parlament und zugeordneter Verwaltung, also nicht nur in einem Stadtviertel. Ferner ist ein Bürgerhaushalt nicht bloß ein einmaliges Referendum oder eine Umfrage, sondern ein auf Dauer angelegtes Verfahren mit eigenen Bürgerversammlungen. Politiker und Verwalter müssen nicht nur zum Gemeindehaushalt informieren und konsultieren, sondern über die Ergebnisse auch Rechenschaft ablegen. Also etwa erklären, warum neue Dienstwagen gekauft, Kindergärten aber geschlossen werden müssen.
 
So definiert gibt es in Deutschland derzeit 62 aktive Bürgerhaushalte. Weitere 21 Kommunen bemühen sich als Vorstufe um einen „lesbaren Haushalt“ und veröffentlichen allgemein verständliche Informationen zu ihren Finanzen. Die Stadt Hilden verteilt zum Beispiel bedruckte Bierdeckel. Die Zahl der Kommunen, die über die Einführung von Bürgerhaushalten diskutieren, ist seit 2009 von 52 auf 99 gestiegen, berichtet Oliver Märker, Redakteur der Internet-Plattform Buergerhaushalt.org: „Diese Entwicklung zeigt, dass der Bürgerhaushalt in Zeiten knapper Kassen immer mehr zum Thema wird.“
 
Es gibt aber auch Rückschläge. Mönchweiler im Schwarzwald, wo 1998 der erste deutsche Bürgerhaushalt startete, ließ das Verfahren wieder einschlafen. In Rheinstetten gaben sich die Kämmerer große Mühe mit Broschüren, Infoständen und Vorträgen – aber „in den letzten Jahren beteiligten sich immer weniger Bürger“. Jetzt beschränken sie sich auf eine eigene E-Mail-Adresse für Anregungen. In Esslingen wurde das Internetprojekt „Haushalt im Dialog“ nach dem Jahr 2003 nicht weitergeführt. Dabei hatten sich dort immerhin 171 Teilnehmer registriert – während die öffentlich ausgelegte Papierfassung des Stadthaushalts meist nur das Interesse von höchstens ein oder zwei Lesern findet.
 
In Freiburg machten fast 1.300 Bürger von der Möglichkeit Gebrauch, für den „geschlechtersensiblen Beteiligungshaushalt 2009/10“ online eigene Wunschbudgets zusammenstellen. Demnach sollte es mehr Geld für schulische Betreuung geben, weniger für Friedhöfe, Wirtschaft und Tourismus. Frauen wünschten mehr Kindertageseinrichtungen, Männer lieber mehr Sport. An Einsparmöglichkeiten fiel Männern zuerst das Theater ein, während Frauen eher bei Feuerwehr und Verkehrsflächen kürzen wollten. Das Verfahren soll nicht wiederholt werden – vielen Bürgern ging die Mitsprache nicht weit genug, der Stadt waren die Kosten von 682.000 Euro zu viel.
 
Bürgermeister und Verwaltungen kommen mit Bürgerhaushalten sonst meist gut zurecht: Sie bemühen sich sowie zunehmend um Kundenfreundlichkeit, außerdem spart man viel Ärger, wenn man sich frühzeitig mit den Ansichten von Betroffenen befasst. Das größte Hindernis für Verfahren zur Bürgerbeteiligung sind in der Regel Gemeinderäte, die fürchten, überflüssig zu werden. Tatsächlich weiß man nie, wohin es führt, wenn sich die Steuerzahler um den Verbleib ihrer Gelder kümmern. Die Französische Revolution hat einst damit angefangen, dass der König zur Haushaltssanierung eine beratende Versammlung einberief. Bald darauf wurde der König eingespart.
 
Martin Ebner
 
Infos (last update: 05.05.2014):

  • Eine Internet-Plattform der Bundeszentrale für politische Bildung beobachtet und dokumentiert die Entwicklung von Beteiligungsverfahren an kommunalen Haushalten: www.buergerhaushalt.org
  • Ein Berliner Forschungsprojekt hat in 10 Ländern „Chancen und Perspektiven des kooperativen Staates auf kommunaler Ebene“ untersucht. Der von Yves Sintomer herausgegebene Abschlussbericht „Der Bürgerhaushalt in Europa – eine realistische Utopie?“ ist im VS Verlag für Sozialwissenschaften erschienen: www.buergerhaushalt-europa.de

 


Foto: Old German accounting book. Malnova germana bilanca libro. Altes deutsches Rechnungsbuch.

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