Sowjetisches Denkmal an der Grünen Brücke in Vilnius, Litauen

Genossenschaften: Vereint durch die Krise

About: Increasing number of cooperatives and associations in Germany
Pri: En Germanujo kreskas la nombro de kooperativoj
Published, Aperis: Südwestpresse, 09.11.2012


Genossenschaften sind wieder attraktiv. Neu gegründet werden vor allem Energie-Kooperationen, Dorfläden und Ärztegemeinschaften.

Wer weiß schon, dass es in Deutschland sechs Mal mehr Genossen als Aktionäre gibt? Während der Börsenzirkus ständig die Medien erregt, bleiben die rund 8.000 Genossenschaften meist unbeachtet. Dabei registrieren die Amtsgerichte immer mehr „Gesellschaften von nicht geschlossener Mitgliederzahl“, die wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Belange ihrer Mitglieder „durch gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb“ fördern.

Ob man den Tag mit Bäko-Milch beginnt, Salat von der Insel Reichenau isst, GDB-Mehrwegflaschen zurückbringt, bei Intersport oder Vedes einkauft, sich mit chirurgischen Instrumenten von Medicon verarzten lässt, eine .de-Internetadresse bei Denic anmeldet oder mit Software von Datev arbeitet – immer hat man es mit „eingetragenen Genossenschaften“ (eG) zu tun. Den deutschen Einzelhandel beherrschen Edeka, einst die „Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler“, und REWE, der „Revisionsverband der Westkauf-Genossenschaften“. 17 Millionen Bundesbürger, in Baden-Württemberg jeder Dritte, sind Mitglieder von Genossenschaftsbanken, wozu auch die kirchlichen Banken zählen. Genossenschaften verkaufen jede zweite Krankenversicherung; bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften ist das halbe Volk gegen Unfälle pflichtversichert.

Ursprünglich waren Genossen Bauern, die sich die Nutznießung einer Weide teilten; nôz ist das althochdeutsche Wort für Vieh. In den Alpen gründeten Hirten, die kein Schutzgeld mehr an adlige Räuber zahlen wollten, sogar einen Staat: die Schweizer Eidgenossenschaft. Andere Genossenschaften, die aus dem Mittelalter überlebt haben, sind Deichbau-Verbände, die Kommenden des Johanniterordens und die Murgschifferschaft, eine Schwarzwälder Holzhandelsgesellschaft.

Im 19. Jahrhundert wurden Bauern aus der Leibeigenschaft, Handwerker aus den Zünften entlassen; sie hatten aber weder Geld noch Erfahrung, um im modernen Kapitalismus mitzuhalten. In einem Dorf bei Köln wollte Bürgermeister Friedrich Wilhelm Raiffeisen dem Treiben von Wucherern nicht länger zusehen: „Was dem Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele“, fand er und gründete 1864 den Heddesdorfer Darlehenskassen-Verein. Mit einzelnen Kleinbauern, die keine Sicherheiten zu bieten hatten, gab sich keine Bank ab – der Verein aber, dessen Mitglieder füreinander hafteten, bekam Kredit zu vernünftigen Konditionen und konnte Saatgut kaufen. Rasch verbreitete sich diese Idee im ganzen deutschen Sprachraum: die Raiffeisen-Genossenschaften.

„Mehrere kleine Kräfte vereint bilden eine große“, meinte zur gleichen Zeit der Richter Hermann Schulze-Delitzsch. In Sachsen gründete er eine Rohstoff-Association, damit sich Tischler und Schuhmacher durch gemeinsamen Materialeinkauf gegen die Industrie behaupten konnten. Er startete auch Vorschuss-Vereine – die späteren Volksbanken. Arbeiter griffen ebenfalls zur Selbsthilfe und gründeten Konsum- und Wohnungsbaugenossenschaften. Ab 1875, der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, sprachen sich Mitglieder linker Organisationen als „Genossen“ an.

Selbst Revoluzzer können echte Lang-Weiler sein: Die 1893 bei Berlin gegründete Vegetarische Obstbaukolonie Eden zum Beispiel überstand sogar die Zwangsverstaatlichung aller Betriebe in der DDR, wenn auch etwas lädiert. Den Zürcher Frauenverein für Mäßigkeit und Volkswohl von 1894 gibt es immer noch; er betreibt heute 130 Hotels und Restaurants, immer noch fast ohne Alkohol. Die Vorsitzende Regula Pfister sieht die Vorteile dieser Gesellschaftsform ganz nüchtern: „Viele Exzesse könnten vermieden werden, wenn mehr Unternehmen als Genossenschaften organisiert wären. Da wir unsere Gewinne vollständig reinvestieren können, ist ein organisches Wachstum aus eigener Kraft möglich.“

Für Spekulanten sind Genossenschaften nichts; statt auf kurzfristige Rendite-Maximierung zielen sie auf beständigen Gewinn für ihre Mitglieder. Das können auch preiswerte Mietwohnungen sein. Oft geht es um mehr als Geld: Die Feldweg eG betreibt einen Bioladen bei Tübingen; die Rundulm Betreuung organisiert Pflegedienste; die Farbrat Wertegemeinschaft lässt Goethes Farbenlehre aufleben; das Programmkino Aalen ist wohl ebenso idealistisch wie die Firmenförderung nach biblischen Grundsätzen eG.

Genossenschafter kooperieren gleichberechtigt: Bei der Generalversammlung hat jeder, egal wie reich, eine Stimme – das verhindert feindliche Übernahmen. Wer austritt, bekommt nur seine Einlage zurück, unverzinst. Konny Gellenbeck, die Leiterin der tageszeitung-Genossenschaft, sieht darin ein „künftiges Wirtschaftsmodell, das den Horror des ungezügelten Raubtierkapitalismus ebenso vermeidet wie die Lähmungen kollektiver Zwangswirtschaft“.

Manche Genossenschaften sind allerdings Großkonzerne, bei denen das einzelne Mitglied nicht mehr viel zu melden hat. Dank der gesetzlich vorgeschriebenen Aufsicht durch Prüfverbände sind Genossenschaften die insolvenzsicherste Unternehmensform. Gegen Missmanagement sind aber auch sie nicht gefeit: Beim Desaster der Allgäuland-Käsereien gingen im vergangenen Jahr 15 Millionen Euro Geschäftsguthaben flöten. In mehreren Ländern legten Konsum-Supermarktketten spektakuläre Pleiten hin. Die Neue Heimat, einst Europas größter Wohnbaukonzern, ging 1982 in einem Skandal unter.

Lange galten Genossenschaften als verstaubte Relikte. Jetzt in der Wirtschaftskrise sehnt sich die Welt nach weniger Aufregung. Die Renaissance des gemeinsamen Schaffens förderte auch eine Gesetzesvereinfachung im Jahr 2006. Dass nun bereits drei Mitglieder ausreichen, nutzen vor allem Bürger, die weg von Atomstrom und Erdöl wollen: Von den 37 neuen Genossenschaften, die 2012 dem Baden-Württembergischen Genossenschaftsverband beitraten, sind 24 Energie-Initiativen, wie zum Beispiel die E-Werk Mittelbaden eG in Lahr. Seit Stuttgarter Kinderärzte die PädNetzS eG gründeten, entdecken auch immer mehr Mediziner diese Kooperationsform. Neu im Register sind eine ganze Reihe von Dorfläden, die Vereinten Insolvenzverwalter Biberach, der Leutkircher Bürgerbahnhof und die Trollinger Evas. So ist das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm wieder aktuell, das zu „Genosse“ vermerkt: „ein wertvolles und lehrreiches altes Wort, auch gut erhalten und vortheilhaft wieder auflebend.“


Genossenschaft lernen

In anderen Bundesländern gibt es sie schon länger, bei uns gingen sie in diesem Schuljahr an den Start: Schülergenossenschaften. Jugendliche an weiterführenden Schulen sollen darin lernen, „Wirtschaft und Demokratie zu praktizieren“, „vorausschauendes Denken und selbstverantwortliches Verhalten üben“ und „Orientierung für das spätere Berufsleben“ bekommen.

Die Grundidee dabei: jeweils eine Genossenschaft vor Ort, zum Beispiel eine Raiffeisenbank, übernimmt die Partnerschaft für ein Schülerprojekt und leistet Hilfestellung von der Ideenfindung über Ausarbeitung des Businessplans und Gründung bis zum alltäglichen Geschäftsbetrieb. Die von Lehrern betreuten Übungsgenossenschaften haben keinen eigenen Rechtsstatus und arbeiten mit offenen Treuhandkonten. Vom Genossenschaftsverband werden sie kostenfrei geprüft und in ein eigenes Verzeichnis eingetragen.

Das erste Pilotprojekt im Ländle ist die New Generation eSG der Realschule in Horb am Neckar: 28 Neuntklässler bieten Dienstleistungen an, zum Beispiel einen Einkaufsservice für Senioren (5 Euro pro Stunde), Holz machen (8 Euro) oder Nachhilfe für Grundschüler (7 Euro). Für dieses Unternehmen, das von der Volksbank Horb-Freudenstadt betreut wird, haben mehr als 100 Mitglieder Anteile zu jeweils 10 Euro gezeichnet. Neu ist auch die EVENTer eSG des Gymnasiums Dornstetten, die Veranstaltungen organisiert.

Informationen zu Schülergenossenschaften, Vorlagen und Anleitungen zur Gründung, Werkzeuge zur Finanzplanung und Materialpakete für Lehrer gibt es hier: www.schuelergeno.de Die jungen Aufsichtsräte und Genossenschafter tauschen sich eher über Facebook aus, zum Beispiel in der Gruppe Naschwerk.

Martin Ebner

Gemeinsam statt einsam (last update: 05.05.2014):

  •  Genossenschaften in Deutschland: www.genossenschaften.de
  • Baden-Württembergischer Genossenschaftsverband: www.bwgv-info.de
  • Die UNO hatte 2012 zum „Internationalen Jahr der Genossenschaften“ erklärt: http://social.un.org/coopsyear/
  • Von Konny Gellenbeck ist das Buch „Gewinn für alle! Genossenschaften als Wirtschaftsmodell der Zukunft“ im Westend-Verlag erschienen.

 

Foto: Working comrades (part of a Soviet monument) at the Green Bridge in Vilnius, Lithuania. Soveta monumento en Vilnius, Litovujo. Schaffende Genossen (Teil eines sowjetischen Denkmals) an der Grünen Brücke in Vilnius, Litauen

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Texts of timeless beauty. Or at least some historical interest.